26. Januar 2020 | Hauptkirche St. Michaelis

Evangelische Messe am 3. Sonntag nach Epiphanias

26. Januar 2020 von Kirsten Fehrs

3. Sonntag nach Epiphanias, Predigt zu Matthäus 8,5-13

Kanzelgruß

Liebe Gemeinde!

„Ich aber sage euch: Viele werden kommen von Osten und Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen.“ Von Osten und von Westen kamen sie tatsächlich, die Alliierten, 1944/45. Im Osten befreite die Rote Armee Auschwitz, Majdanek, Sobibor, im Westen befreiten die Briten Bergen-Belsen, Neuengamme und die Amerikaner Dachau. Doch auf den Einmarsch folgte das blanke Entsetzen: Es bot sich ein Bild des Grauens. Denn dort waren sie: Abraham und Isaak und Jakob. Rebekka und Rahel, Sara und Deborah. Am Boden, zerbrochen. Zerschlagen wie Porzellan. Kein Himmelreich weit und breit, sondern die Hölle auf Erden. Der unfassbare Massenmord an Millionen Menschen. Unbegreiflich diese Vernichtungskälte. Die Shoa, die Hölle – sie zu erinnern, heißt, niemals zu vergessen, was Menschen Menschen antun können.

Vor einigen Wochen war ich mit Vertreter*innen des Interreligiösen Forums Hamburg in der Holocaust-Gedenkstätte bei Jerusalem, in Yad Vashem. So lebhaft sonst unsere Reisegruppe war, die aus Evangelischen, Muslimen, Buddhisten, Bahais, Aleviten und dem jüdischen Landesrabbiner Bistritzky bestand, so viel wir sonst miteinander im Gespräch waren, in Yad Vashem hat uns die geballte Konfrontation mit deutscher Schuld verstummen lassen.

Wir alle wissen es, liebe Geschwister, wie monströs die Grausamkeit war, wie hoch die Millionenzahl der Ermordeten, wie verstörend die Bilder. Aber diese stummen Schwarz-Weiß-Filme vom Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 nochmals zu sehen, diese Berge von Schuhen, Koffern, Haaren, Ermordeten … Das Entsetzen in den Gesichtern der Soldaten damals, die Fassungslosigkeit über das, was Menschen in abgründiger Grausamkeit in der Lage sind, anderen anzutun, hat uns den Atem anhalten lassen. Es schrie – ohne Worte – das Leid zum Himmel, aus dieser Hölle.

Die 71-jährige Jana, deren Angehörige alle in Theresienstadt umgebracht worden sind, die lange schon in Israel-Palästina lebt und uns ganz bewusst in deutscher Sprache durch Yad Vashem führt, versucht Worte zu finden, die Trost geben – sie tröstete uns! Es gehe an diesem Erinnerungsort, so schrecklich dies alles anzuschauen sei, natürlich zuerst um die Würdigung des Leides.

Aber es geht auch um das Gedenken an die Überlebenden, sagt sie, um die Hoffnung, die das bedeutet hat. Hoffnung für die Generationen danach, für sie selbst. Und an diesem Ort würden in ehrender Erinnerung ebenfalls die gehalten werden, die geholfen haben. Was wären wir in Yad Vashem ohne die Gerechten der Völker, sagt sie, ohne Oskar Schindler und so viele andere.

Dann hat Jana uns hinausgeführt aus der Gedenkstätte und wir standen auf einmal im Freien, auf einem Aussichtsplateau, das ich schöner nie gesehen habe, das ganze wunderschöne Land Israel-Palästina vor Augen. Die Sonne ging gerade unter, und Jana zeigte in die Weite dieses Landes, wandte sich uns zu und sagte nur ein Wort: Shalom. Geht in Frieden.

Sprich nur ein Wort. Sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund. Sprich nur ein Wort und ich kann aufatmen. Kann mich lösen von all dem, was einen so bedrücken oder so krank machen kann und ungerecht. Sprich nur ein Wort …

Sprich nur ein Wort, Jesus, sagt der Hauptmann aus Kapernaum. Mich berührt dieses Evangelium jedes Mal, wenn ich es höre. Was für ein Gottvertrauen hat dieser Römer. Es ist wie ein „sich aus der Hand geben“. Dabei kennt der Hauptmann den Glauben der Juden gar nicht, es ist eher dieser Jesus selbst, der ihn ermutigt. Ein Mensch, der den Menschen sieht. Unvoreingenommen. Frei. Um ihn herum ist eine unzerstörbare Freundlichkeit.

So sehr braucht der Hauptmann das jetzt. Denn er ist in Nöten. Obwohl er als Offizier wahrlich nicht machtlos ist und über etliche Menschen Befehlsgewalt hat – sie tun, was er sagt. Doch angesichts der wirklich wichtigen Dinge zwischen Leben und Tod stößt er an seine Grenzen. Und er ahnt, dass dieser Jesus da vor ihm in ganz anderer Weise mächtig ist, als es die Welt sonst kennt. Kyrios, sagt er zu ihm. Herr, sprich du ein Wort, ich kann nichts mehr für den armen Knecht in meinem Haus – ist es sein Sohn? – tun.

Mir geht durch den Sinn, wie nah das an uns herankommt. Viele werden das schon erlebt haben: an der Grenze der eigenen Möglichkeiten angekommen zu sein. Erschöpft davon, nichts tun zu können. Kaum auszuhalten solch eine Ohnmacht, wenn jemand, den ich mag oder liebe, Schmerzen hat oder mir gar unter den Händen wegstirbt. Grenzsituationen sind das, die wie ein Riss durch die Normalität gehen und uns so sprachlos machen können. Sprich du, Jesus! Sprich nur ein Wort, dass es uns erlöst.

Aber den doch nicht, raunt das Volk. Es ist empört. Du willst doch wohl dem nicht helfen, Jesus? Dieser Hauptmann ist ein Römer, ein Besatzer, ein Despot, der uns unterdrückt. Natürlich will der nicht, dass du unter sein Dach kommst, das wäre ja noch schöner. An den wirst du doch wohl dein Wort nicht richten?

Doch. Shalom. Jesus spricht’s, das Wort: „Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast.“ Und ein Wunder geschieht: Nicht allein der Knecht wird gesund, sondern auch die Seele des Hauptmanns. Zwischen den feindlichen Welten, dem Volk hier und dem Hauptmann da, zwischen den feindlichen Welten heute, hier und da, schlägt dieses Wort eine Brücke. In Kapernaum, Kfar Nachum. Dorf des Trostes, heißt das übersetzt.

Shalom. Seid hineingenommen, liebe Geschwister, ins Dorf des Trostes. Heute am Tag vor dem 27. Januar, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag. Wir gedenken all der Menschen – sechs Millionen jüdische Männer, Frauen und Kinder – die den entsetzlichen und nicht in Worte zu fassenden Gräueltaten der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Wir gedenken aller, der Homosexuellen, der Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Männer und Frauen im Widerstand, der Andersdenkenden, Politiker, Gewerkschafter. Unendlich die Grausamkeit. Unendlich Kälte und Schmerz.

Wir erinnern uns voller Trauer und Demut und sagen damit: nie wieder ein Kreuz mit Haken. Nie wieder Rassenwahn, Menschenverachtung, Kriegstreiberei. Wir verneigen uns vor den Toten – soviel Schuld und Trauer. Wir verneigen uns in Demut. Und – ich höre Jana – wir würdigen auch die Überlebenden. Die auch, die geholfen haben.

Es braucht uns dazu, liebe Geschwister, die Nachfolgenden, dies alles zu erinnern: die Vernichtung, aber auch die Hoffnung. Trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben – das ist Christi Botschaft. Die Brücke zum Leben. Auch hin zur ganz jungen Generation. Und ich frage uns: Welche Worte müssen gesprochen werden, dass die jungen Menschen die Erinnerung verstehen und alles dafür tun, dass nie wieder solches Leid geschieht?

Es ist unsere Aufgabe, liebe Christengeschwister, auch die junge Generation mit hinein ins Dorf des Trostes zu nehmen. Hinein in ein Dorf, in dem man im Feind den Menschen sucht. In eine Stadt, in der Frieden und Versöhnung tragfähig sind, gesellschaftlich wie zwischenmenschlich. In eine Gesellschaft, in der das Gespräch nicht abbricht, zwischen den Kulturen und Religionen nicht, und zwischen den zunehmend unversöhnlichen Parallelwelten auch nicht.

Dabei haben wir Christinnen und Christen, die wir mit unserem Glauben ja auch im Judentum zu Hause sind, alle Möglichkeiten zum Brückenbauen: Wir dürfen hören und mit hineinnehmen in unseren Glauben das Alte Testament, die Tora, Moses und Abraham, Rut und Sara. Es sind unsere Wurzeln, der Beginn einer langen Tradition, reich an tiefen Geschichten, wunderbaren Psalmen, unergründlicher Weisheitsliteratur, Gottes Schöpfung und Gottes Zorn. In dieser Tradition finden wir Gottes unendliche Liebe zum Volk Israel, dem auch Jesus Christus entspringt.

Er ist es, der uns mit dem jüdischen Volk verbindet: Als Jude geboren, war er in den jüdischen Gesetzen zu Hause, legte sie aus und berief sich auf sie. Seine Lehren knüpfen so ein festes Band zwischen den alten Traditionen und der frohen Botschaft. Wir haben als Christen so viel in uns, um den Faden, der zwischen beiden Religionen besteht, zu halten und ihn belastbar zu machen gegen Vorwürfe und Vorurteile. Gegen Fremdenhass und zerstörerisches Gedankengut. Gegen Antisemitismus – er fordert gerade uns heraus, liebe Geschwister, klar und wach zu bleiben, wenn dieser seine Fratze zeigt. Und er zeigt sie. Wieder. In diesem Land! Es ist eine Frage des Anstands, hierzu nicht zu schweigen.

Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund – diese Worte des Hauptmanns von Kapernaum werden in etlichen Gemeinden kurz vor der Austeilung des Abendmahls gesprochen. Um dann anschließend alle, ausnahmslos alle, von Norden, Süden, Osten und Westen, einzuladen, am Tisch des Herrn zu sitzen, zu stehen, zu knien. Alle mit gleichem Menschenrecht, das Kind ebenso wie die alte Dame, der Manager, das syrische Ehepaar und der Katholik, der heute zufällig aus München dabei ist. Alle, alle gehören wir an einen Tisch. An den Tisch Gottes, an dem wir eines Tages auch David und Rahel, Benjamin und Rebekka sehen werden, Brüder und Schwestern im Glauben. In Erinnerung an die Leidenden ebenso wie in lebendiger Hoffnung der Befreiten teilen wir hier und heute das Brot und Wort. Damit unsere Seele gesund wird.

Die aus Bukowina stammende jüdische Lyrikerin Rose Ausländer, die nur durch ein Wunder während des Zweiten Weltkrieges dem Tod entkam beschreibt das in ihrem Gedicht „verwundert“ wunderbar. Sie soll in dieser Predigt das letzte Wort behalten.

Wenn der Tisch nach Brot duftet
Erdbeeren der Wein Kristall
denkt an den Raum aus Rauch
Rauch ohne Gestalt
Noch nicht abgestreift
das Ghettokleid
sitzen wir um den duftenden Tisch
verwundert
daß wir hier sitzen.

In Frieden gedenken wir derer, die so sinnlos und grausam ermordet wurden. Wir halten ihnen unser Herz hin. Verwundert, dass wir hier sitzen und das erlösende Wort hören. Shalom. Und der Friede Gottes, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Datum
26.01.2020
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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