Festgottesdienst im Kupferhof
12. Juni 2016
3. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Lukas 15, 1-7, Gottesdienst anlässlich des Sommerfestes im Kupferhof (Haus für Entlastung und Unterstützung für Familien mit behinderten Kindern)
Liebe Kupferhof-Gemeinde,
ich freue mich sehr, nach der Eröffnung vor drei Jahren wieder einmal bei Ihnen zu sein – und das ist alles andere als eine Floskel. Denn dieses Haus ist eine sagenhaft segensreiche Initiative von lauter sensationell engagierten Menschen an einem paradiesisch schönen Ort. So freue ich mich besonders, dass so viele heute mit mir hier sind, denn das zeigt doch, wie viel hier in den Jahren gewachsen ist an Lebendigkeit und Zuneigung und Freundschaft. Was man eben braucht im Leben: Eine Gemeinschaft, in der niemand verloren geht. In der man sich vielmehr immer neu findet.
Wie der Hirte sein Schaf. (Achtung, ich bin schon mitten in der Predigt...) Ist das nicht hinreißend, wie der sich freut?! Ich weiß nicht, ob Sie wie ich mit Dithmarscher Wurzeln so etwas eine gewisse Schafskenntnis haben. Für einen Außenstehenden nämlich sehen Schafe nur wie Schafe aus: Weiß, oder besser: Schmuddelweiß, vier Beine, ein bisschen träge. Kopf am Boden: Gras fressen. So stehen sie am Deich oder in der Heide. Der Schäfer jedoch sieht die Tiere ganz anders. Er sieht das große Mutterschaf, den kleinen Bock mit dem braunen Fleck auf dem Rücken, das Schaf mit dem lahmen Bein und auch das Lamm, das immer noch nicht so zugelegt hat, wie man sich das als Schäfer so wünscht. Ich habe es auch schon erlebt, dass Schäfer allen ihren Tieren Namen gegeben haben; so oder so aber merken sie schnell, wenn eines fehlt.
Was dann? Unsere Geschichte erzählt das Naheliegende: Losgehen. Suchen. Schnell. Solange, bis das Schaf gefunden ist. Denn da kann ja doch viel passiert sein. Vielleicht ist das Schaf auf einen Felsen geklettert und kommt jetzt nicht mehr zurück. Oder ein fremder Hund bedroht das Tier und hat es abgedrängt. Vielleicht ist es auch verletzt. So ein kleines Schaf ist alleine ziemlich hilflos.
Verlorengehen ist keine schöne Erfahrung. Nicht für Schafe. Und auch nicht für Menschen. Wenn zum Beispiel Kinder verloren gehen, passiert ja mal: Im großen Kaufhaus. Oder im Schwimmbad. Oder im Urlaub am Strand. Eben noch war der Kleine ein paar Schritte vor einem oder stand hinter einem – und dann ist er auf einmal weg. Ich denke, viele von Ihnen haben das schon einmal erlebt: Zuerst dieser Adrenalinschub und dann: Losgehen. Suchen. Schnell. Und wenn man Glück hat, kommt im Kaufhaus oder – so habe ich es im Urlaub an der Ostseeküste fast täglich erlebt – am Strand die ersehnte Lautsprecherdurchsage: Lea Meyer ist hier und sagt, sie ist halbfünf und kann von ihren Eltern beim DLRG-Turm abgeholt werden.
Uff. Und dann sieht man, wie nach kurzer Vermahnung an den kleinen „Sünder“, wie es im Evangelium heißt, die Eltern erleichtert ihr Schäfchen Huckepack nehmen. So wie es auch der Hirte tut. Dem allerdings passiert es ja, dass er bei der Suche die anderen 99 Schafe alleine lässt. Ob das vernünftig ist, fragt man sich. Ich würde mal sagen: eher nicht. Aber es geht hier auch gar nicht um Vernunft. Es geht um Gefühle, und zwar um zwei große Gefühle: Um Angst. Und um Liebe.
Sie alle hier wissen darum. Diese starken Gefühle, gar gleichzeitig, gehen einem ans Herz. Ihr Kinder kennt das. Aber vor allem auch Sie, die Eltern. Wenn ich mich hineinversetze in Ihre tägliche Situation, vermute ich, dass es gar nicht einfach ist, so etwas wie ein „normales“ Familienleben zu leben. Mit Gekabbel und Geknurre und Liebdrücken, dass einem die Luft wegbleibt, mit Spielen und Rennen und Suchen und Finden. Da sind halt immer auch viele Ängste um das zerbrechliche Leben im Spiel! Und solche Angst kann einen ja sehr bedrücken, kann sehr dominant sein. Etwa wenn schon wieder eine Behandlung ansteht oder eine Operation oder eine Therapie. Hoffentlich geht alles gut. Nicht schon wieder diese Wochen der Unsicherheit!
Als ich bei der Eröffnung vor drei Jahren etliche von Ihnen kennenlernte, da hat mich unerhört beeindruckt, wie Sie alle, ausnahmslos, - ob nun die Kinder, Eltern, Mitarbeitenden oder der Förderverein – dass sie alle eines gezeigt und ausgestrahlt haben: Die Liebe ist größer als die Angst und die Sorgen. Die Liebe ist auch größer als die Frage nach dem Warum. Und wie stark sie machen kann, diese Liebe zueinander, rauf und runter.
Es ist die Liebe, die die größte ist. Sie ist es, die uns durch die Zeiten trägt. Es ist nicht die Vernunft, die Erklärung, das Verstehen, es ist nicht die Schlüssigkeit und Enträtselung. Es ist Liebe, unerworben, maßlos und beständig. Sie umarmt, was in uns zittert. Sie ist‘s, die auch das Schwere mit Sinn zu erfüllen vermag. Die Liebe gibt die Kraft, durchzuhalten und immer wieder loszugehen. Immer wieder neue Wege zu beschreiten - auf der Suche nach dem, was gut ist für den anderen. Gegen alle Widerstände, die es gibt.
Denn nicht eines der Kleinen soll verloren sein! Sagen Sie hier auf dem Kupferhof. Sagt der Hirte in unserer Predigtgeschichte. Und meint damit auch ihn, den großen Hirten und Schöpfer. Er, der uns geschaffen hat, liebt uns hingebungsvoll. Deshalb hat er Sehnsucht nach uns. Sucht uns. Deshalb geht er an unsere Hecken und Zäune in der Welt, auch an all die furchtbaren Grenzen in Griechenland und der Türkei derzeit, wo Kinder stehen und nicht wissen wohin. Er geht jedem kleinen und jedem großen Menschen nach. Den Verlorenen zuerst. Und sagt: Lieben wir das Leben, wie es ist. Mit seinen Nöten und Versehrtheiten, Brüchen und den Handicaps. Aber auch mit der Lust auf Leben. Mit der Neugierde zu lernen. Mit der Fähigkeit, sich einem Moment des Glücks hinzugeben.
Genauso habe ich das Konzept dieses Kupferhofes verstanden. Es geht um Lebensfreude, um ein möglichst erfülltes und glückliches Leben. Um Freiraum – auch für die Eltern, die im Alltag rund um die Uhr gefordert sind und wenig Zeit für sich haben. Es geht um die Geschwister, die ihre Bedürfnisse oftmals zurückstecken müssen und eine Zeitlang die volle Aufmerksamkeit genießen. Und es geht um Austausch der Familien untereinander, um fachliche Beratung und darum, neue Wege zu wagen. Darum, Vertrauen wiederzufinden in die eigenen Kräfte – und in das Leben an sich.
Denn manchmal liegt das, was wir suchen, auch ganz nahe. So wie in der Geschichte vom „Reisekind“ aus den 28 Lachgeschichten von Ursula Wölfel, vielleicht kennen die Eltern die noch: „Einmal wollte eine große Familie verreisen: Mutter, Vater und vier Kinder. Sie haben auf dem Bahnsteig gestanden, und alle waren sehr aufgeregt. Am aufgeregtesten war das kleinste Kind.“ So beginnt es. Und dann geht es weiter: Der Zug kommt und alle nehmen ihr Gepäck, das kleinste Kind nur einen Teddybären. Der Zug hat gehalten. Die Leute, die angekommen waren, sind ausgestiegen. „Jetzt wollte die Familie einsteigen. Aber das kleinste Kind war nicht mehr da! Die großen Kinder sind gleich losgerannt und haben es überall gesucht: An der Treppe und am Schokoladenautomaten und hinter dem Gepäckwagen und sogar unter der Bank. Nirgendwo war das kleinste Kind!“ Klar, dass da alle aufgeregt waren. „Die Mutter hat alle Leute gefragt, und der Vater hat sogar den Lokomotivführer gefragt. Keiner hatte das kleinste Kind gesehen! Da hat auf einmal jemand im Zug an die Fensterscheibe geklopft und gerufen: ‚Warum kommt ihr denn nicht?‘“ Und dann kommt doch noch ein Happy-End: „Das kleinste Kind war nämlich schon längst im Zug! Alle haben gelacht und sind schnell mit den vielen Sachen eingestiegen, und der Zug konnte endlich abfahren.“
Also: Keine Sorge. Die allermeisten Kinder und Schafe werden gefunden. Oder finden sich auch von selbst wieder an. Manchmal muss man dazu auch an ungewohnten Orten suchen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihren je eigenen Weg finden und gehen, und dies mit dem Segen dessen, der uns in liebt und der sich um uns sorgt! Gehen Sie mit ihm, der uns behütet ein Leben lang. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Und so in die Welt getragen, können wir getrost singen und feiern, ohne uns vom Regen schrecken zu lassen. Feiern wir also das Leben und die Liebe, die unsere Herzen weit macht und unsere Hoffnung groß.
Amen.