Rede von Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn am 27.09.2010

Gedenken an die politischen Häftlinge der DDR-Zeit in den Bützower Gefängnissen

27. Oktober 2010 von Andreas von Maltzahn

Sehr verehrte Damen und Herren, die Sie einst als politische Häftlinge in den Bützower Gefängnissen Unrecht erlitten!
Liebe Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist gute Tradition der Bützower Häftlingstage des Schicksals der ehemaligen politischen Häftlinge zu gedenken. Warum ist es wichtig, dies zu tun? Wir erinnern uns, um lebendig zu bleiben. Wir bringen diese Ungerechtigkeit zur Sprache, weil sie viel zu lange verschwiegen wurde. Sie, liebe ehemalige Häftlinge, haben oft genug bis heute unter den Folgen der Haft zu leiden. Wir erinnern uns an dieses Unrecht und seine Wurzeln, damit in unserer Gesellschaft nicht wieder einfach „alles seinen Gang geht“.

Es ist erschreckend, wie wenig in der DDR dazu gehörte, jahrelang der Freiheit beraubt und eingesperrt zu werden: 
• Zeuge Jehovas zu sein oder aktives Mitglied der Jungen Gemeinde,
• als Gastwirt die Nachrichten eines Westsenders über den Mauerbau in der eigenen Gastwirtschaft laufen zu lassen,
• ein wenig studentische Opposition oder auch
• Besitzer eines Hotels oder eines Betriebes zu sein, die enteignet werden sollten  – das genügte schon, um zu mehrjährigen Haftstrafen unter menschenunwürdigen Bedingungen verurteilt zu werden.
• Ehemalige Sozialdemokraten, die sich der Zwangsvereinigung mit der KPD widersetzten, Vertreter bürgerlicher Parteien,
• später dann Kriegsdienstverweigerer,
• Menschen, die versucht hatten, aus der DDR zu flüchten,
• „hartnäckige Antragsteller auf Ausreise“, wie es damals genannt wurde –sie alle verschwanden hinter Gittern, ohne faires Verfahren, manchmal zusätzlich gedemütigt in Schauprozessen, eingesperrt zusammen mit Menschen, die teilweise schwere Verbrechen begangen hatten.

Angesichts dieser Tatsachen kann ich nicht verstehen, wie manche heute den Unrechtscharakter  des DDR-Staats relativieren wollen. Die DDR war ein Unrechtsstaat – ohne Wenn und Aber! Natürlich, auch in der DDR konnte man ein erfülltes Leben führen. Ein Staat aber, der systematisch die Rechte des Einzelnen missachtete, kann nur als Unrechtsstaat bezeichnet werden. Dass in diesem Staat auch Diebstahl, Vergewaltigung und Mord geahndet wurden, ändert daran nichts.

Ich kann nur davor warnen, den Unrechtscharakter des  Staates DDR  zu vernebeln.  Das Los politischer Gefangener, die systematischen  Versuche  der 2Staatssicherheit,  Menschen zu zerstören,  die Einmauerung der  eigenen Bevölkerung, einschließlich Selbstschussanlagen, das Verwehren von Abitur und Studium aus ideologischen Gründen, die durch  Halbwahrheit und Lüge verdorbene Atmosphäre  – all das war alles andere als nur „ein Schuss Willkür und Abhängigkeit“. Darum möchte ich der Stadt Bützow meinen Respekt ausdrücken, dass sie im „Krummen Haus“ die „Dokumentation zum politischen Missbrauch des politischen Strafvollzugs in Bützow“ eingerichtet hat und sich bemüht, offensiv mit diesen Fragen umzugehen.

Wer hier nicht klar ist und das Unrecht und seine Wurzeln im politischen System nicht ohne Abstriche als Unrecht benennt, handelt in mehrfacher Hinsicht verhängnisvoll:

Den Menschen, die sich für die Ziele der DDR engagiert haben, wird es durch die Relativierung des Unrechtscharakters erschwert, ihre eigene Rolle im System kritisch zu überdenken und ein positives Verhältnis zur Demokratie und ihren rechtsstaatlichen Strukturen zu entwickeln. Aber wir brauchen auch diese Menschen, ihre Phantasie und ihren Einsatz, damit die junge Demokratie im Osten dauerhaft Wurzeln schlagen kann. Notwendige Trauerarbeit über Verlorengegangenes müssen wir auf anderen Wegen leisten.

Es geht nach meiner Einsicht auch nicht darum, das Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger Mecklenburg-Vorpommerns durch die Erinnerung an etwaige Stärken der DDR zu heben. Unser Selbstbewusstsein beruht eher darauf,  dass wir in diesem Staat  trotz allen Unrechts erfüllt gelebt und sein Ende gewaltfrei mit herbeigeführt haben. 

Aber vor allem: Sie, die ehemaligen politischen Häftlinge müssen durch solche Relativierung erneut das Gefühl bekommen, das Ihnen angetane Unrecht werde nicht wahrgenommen. Niemand hat das Recht, Ihnen eine solche neuerliche Kränkung zuzufügen! Aus Erzählungen von Freunden, die als Politische „saßen“, aber auch durch die Lektüre von Hafterinnerungen weiß ich, dass Sie Unglaubliches erlebt und in Abgründe der Unmenschlichkeit gesehen haben.  Das im Strafvollzug Erlebte hat Sie gezeichnet. Manche physischen und psychischen Folgen sind auch nach Jahrzehnten spürbar. Einzelne Mitgefangene kamen im Strafvollzug zu Tode. Andere erlebten nach ihrer Entlassung eine Enttäuschung nach der anderen, wie jene Lehrerin, die sich dann das Leben nahm. Ihrer Freundin hatte sie geschrieben:  „Ich habe mein Ich in Bützow verloren!“

Und auch, wer die Kraft fand weiterzuleben, Familien zu gründen, hat Gefühle der Fremdheit, der Ausgegrenztheit durchleben müssen – „draußen“ zu sein, zu                                                spüren, wie Menschen sich zurückziehen aus Scheu oder Angst oder weil sie sich durch Ihr Schicksal infrage gestellt sahen. Wer von uns Außenstehenden könnte Ihr Leid nachvollziehen?!  

Wir können uns vor Ihnen nur verneigen. Denn ich bin überzeugt, dass Ihr Leiden nicht umsonst war. Es hat notwendige Veränderungen unserer Gesellschaft vorbereitet. Sie müssen sich im Gefängnis ohnmächtig und ausgeliefert gefühlt haben. Sie werden auch mit Ihrem Schicksal gehadert haben. Aber das, was Sie erlitten, blieb nicht ohne Wirkung. Nicht nur dem christlichen Glauben, auch anderen Religionen ist der Gedanke vertraut, dass unschuldigem Leiden erlösende Kraft innewohnt: 

Wie konnte es geschehen, dass die DDR mit ihrem übermächtigen Sicherheitsapparat mit einem Male in sich zusammensackte wie ein Hochhaus, dessen Fundament weggesprengt worden war? Es lag nicht nur an der wirtschaftlichen Misere. Es lag nicht nur am Mut der Bürgerbewegung und der vielen Menschen, die sich aufrichteten und auf die Straße gingen. Es war auch das unschuldige Leiden der politischen Häftlinge, das wie eine Unterströmung der gesellschaftlichen Entwicklung die Fundamente des Unrechtsstaates ausspülte und den Zusammenbruch vorbereitete. 

Vielleicht gibt es so etwas wie einen seelischen Gesamthaushalt eines Landes. Das Leiden der Gerechten wiegt schwer auf der Wagschale des Lebens. Das Leid derer ohne Schuld kann lange ignoriert werden. Aber irgendwann gibt es den Ausschlag – für das Leben und die Freiheit. 

In eindrücklicher Weise beschreibt der Prophet Jesaja in der hebräischen Bibel die verwandelnde Kraft stellvertretenden Leidens, versammelt in der Gestalt des leidenden Gerechten:

„Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; . . . 
zu schaffen den Trauernden . . .  , dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauerkleid, Lobgesang statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des HERRN«, ihm zum Preise.“

Und ausgehend davon diese Verheißung, die wie ein Auftrag ist:
„Sie werden die alten Trümmer wieder aufbauen und, was vorzeiten zerstört worden ist, wieder aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Geschlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben.“                               

Das können wir hören als uns gesagt. Sie, die Schülerinnen und Schüler, die Angehörigen meiner Generation, Sie, die Älteren – wir haben die Möglichkeit, eine Gesellschaft mit zu gestalten, in der das Recht geachtet und die Würde jedes einzelnen Menschen respektiert wird.  Aber das ist alles andere als ein Selbstgänger. Unsere Demokratie muss gestärkt und weiter entwickelt werden. Wer aber könnte den heutigen Gefahren begegnen, ohne die Entstehungsbedingungen des damaligen Unrechts, der damaligen Unfreiheit mitzu durchdenken? Warum gab es so wenig Widerstandskraft?

Es lag nicht nur an den Repressalien, die zu befürchten hatte, wer Unrecht beim Namen nannte. Es war nicht nur Verdrängung der Probleme, sondern auch mangelnde kritische Distanz den eigenen Überzeugungen gegenüber. In ihrem neuen Roman „Stadt der Engel“ erzählt Christa Wolf von einer älteren Freundin namens Emma. Schon unter den Nazis hatte sie als Kommunistin im Zuchthaus gesessen. In der Stalinzeit wird sie denunziert und kommt erneut ins Gefängnis, hier in Bützow. Als überzeugte Kommunistin in den DDR-Knast! Als sie in der Haft vom Tod Stalins erfährt, weint sie vor Traurigkeit. Als die Erzählerin Emma später fragt, ob sie durch diese Haft nicht von ihrem Glauben an Stalin kuriert worden sei, antwortet Emma:

„Ach, Mädchen, . . . hast Du eine Ahnung, woran man sich klammert, wenn man so tief in der Scheiße sitzt wie wir damals. Wenn wir diese Hoffnung auf den weisen Völkerlenker aufgegeben hätten, hätten wir uns doch damit selbst aufgegeben.“ Und die Erzählerin meint im Hinblick auf Emma und Menschen wie sie zu begreifen, „dass dieses halbe Deutschland, dieser Staat, auch wenn er streng zu ihnen war, auch wenn er viele Fehler hatte, ihre einzige Zuflucht war. Dass sie an dem Glauben festhalten mussten, er werde sich zu der ersehnten Menschengemeinschaft entwickeln.“

Liebe Schülerinnen und Schüler, meine Damen und Herren, genau an dieser Stelle sind wir gerufen, wach zu sein für unsere Zeit: Überall da, wo Menschen auf dem Altar höherer Zwecke geopfert werden  – sei es im Namen eines Glauben oder einer Ideologie  – ist Widerstand geboten. Wo Fanatiker der extremen Rechten oder Linken im Namen der angeblich guten Sache das Recht außer Kraft setzen wollen, gilt es, unser Grundgesetz zu verteidigen, das besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel. Auch nicht in der Politik. 

Auch da, wo die wachsende Perspektivlosigkeit ganzer Schichten  gesellschaftliche Teilhabe verhindert, wo Kinderarmut kaum wieder  gutzumachende Bildungsnachteile mit sich bringt, auch und gerade da sind wir gefragt, für unsere Verfassung einzustehen, die besagt: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“

Darum ist es wichtig, dass wir uns politisch engagieren. Euch junge Menschen möchte ich ermutigen: Gestaltet diese Gesellschaft mit! Geht in die demokratischen Parteien und sorgt mit dafür, dass Entscheidungen getroffen werden, die gerecht sind und den Menschen dienen.

Wir erinnern unsere Geschichte, um lebendig zu bleiben. Wir erinnern uns an das erlittene Unrecht der politischen Häftlinge, damit nicht wieder einfach „alles seinen Gang geht“. Wir lassen uns die Gestaltung dieser Gesellschaft nicht aus der Hand nehmen, denn wir sind ihre Mitgesellschafter. Darum werden wir uns nicht abfinden mit der zunehmenden Armut. Wir erklären uns nicht einverstanden mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, mit Klimakatastrophe und Casino-Kapitalismus. In der friedlichen Revolution haben wir es erlebt und halten daran fest: Die Verhältnisse müssen nicht so bleiben, wie sie sind. Darum übernehmen wir Verantwortung.

Zum Anfang der Seite