7. Juni 2012 - Hotel Baseler Hof

Geistliche Eröffnung Bischöfin Kirsten Fehrs

07. Juni 2012 von Kirsten Fehrs

Fachtagung „Missbrauch in Institutionen“

Auch ich grüße Sie und bin beeindruckt, dass und wie viele gekommen sind. Danke dafür.
Eine geistliche Eröffnung soll dies nun werden – und mir ist einige Zeit nachgegangen, was das sein soll – hier an diesem Ort, zu diesem Thema. Ohne gottesdienstlichen, und damit prägenden Rahmen, der eine Predigt Predigt sein lässt und keine Verlautbarung. Der ein Gebet ein Gebet sein lässt und keine Aufforderung. 

Und nun denn, ist diese geistliche Einstimmung an diesem Ort etwas anderes als eine Predigt und etwas anderes als ein Gebet. Es ist die aus anderen Gründen chancenreiche Auseinandersetzung mit dem, was christliche Religion an Geisteskraft in sich trägt, heißt: an schöpferischer, erneuernder, trös-tender Kraft. Eine Kraft, die sich in ihrer  ganzen Wahrheit nur dort entfalten kann, wo ich die Schat-tenseite meiner Existenz  für wahr nehme. Das also, was so Energie zehrend und erschöpfend, was verkrustet ist und verhärtet, was so untröstlich ist in mir. Und mag sein, auch in dir. 
Denn darum geht es ja heute. Wir sind, jede und jeder ist heute konfrontiert. Mit Fragen, Unverständnis, Schmerz, vorzugsweise aber mit sich selbst. Ganz persönlich. Und/ oder institutionell mit den Rollen, die wir nun einmal haben in unseren Arbeitsfeldern.
Ich finde das heilsam. Auch wenn es mich immer mal wieder bang macht. Also, mit Gottvertrauen, heran an das Thema. Auch jetzt: Wir sind, ich bin konfrontiert. Ich lese eine dreitausend Jahre alte Ge-schichte, sie steht im 1. Buch Mose:

34,1 Und Dina, die Tochter Leas, die sie dem Jakob geboren hatte, ging aus, die Töchter des Landes zu sehen. 34,2 Da sah Sichem sie…; und er nahm sie und legte sich zu ihr und tat ihr Gewalt an. 34,3 Und seine Seele hing an Dina…, und er liebte das Mädchen und redete zum Herzen des Mädchens. 34,4 Und Sichem sagte zu seinem Vater Hamor: Nimm mir dieses Mädchen zur Frau! 34,5 Und Jakob hatte gehört, daß er seine Tochter Dina entehrt hatte, seine Söhne aber waren mit seinem Vieh auf dem Feld; so schwieg Jakob, bis sie kamen. 34,6 Und Hamor, der Vater Sichems, kam heraus zu Ja-kob, um mit ihm zu reden. 34,7 Und die Söhne Jakobs kamen vom Feld. Als sie [aber davon] hörten, fühlten sich die Männer gekränkt und wurden sehr zornig, weil er eine Schandtat in Israel verübt hatte, bei der Tochter Jakobs zu liegen. Denn so [etwas] hätte nicht geschehen dürfen

Ich bin konfrontiert. Mit sexualisierter Gewalt, mit deren Verbrämung durch Liebe, mit dem immer klei-ner werdenden Opfer, das irgendwann nur noch Objekt egozentrischer Begierde ist, mit dem Schwei-gekonsortium patriarchaler Gesellschaft. Ein Missbrauchssystem.
Fast 3000 Jahre alt.

Mich beschäftigt als Erstes, wie der Erzähler großen Wert darauf legt, die Gewalttat des Sichem mit der Beteuerung tiefer Gefühle zu verdecken.  Und damit beim Leser/in auch noch Punkte zu machen versucht. Die Sympathie für ihn wächst in dem Maße, wie Dina ihre Kontur verliert. Immer kleiner wird. Im ersten Satz ging sie noch aus. Aktiv. Hin zu den Schwestern. Am Ende ist sie nur noch Objekt, Objekt des Begehrens. Schwer sich mit ihr zu solidarisieren, als Schwester. Denn sie redet nichts mehr. Tut nichts mehr. Ist nicht mehr. Die Allianz des Täters hat gegriffen. Und es ist doch erstaunlich, wie diese alte Geschichte Aktuelles nicht nur in Ahrensburg beschreibt: Wie sich Täter vor allem um sich selbst kümmern. Um ihren Ruf, ihre Ehre, ihre Tatverschleierung. Und so geschieht es eigentüm-licherweise, dass mit der Tat auch das Opfer aus dem Blick gerät.

Das zweite ist diese geradezu wütende Verbindung von Liebe und Macht. Wie kann es denn sein, frage ich mit Menschenverstand, dass jemand, der Liebe für einen anderen Menschen empfindet, mit Gewalt und Verletzung die Grenzen des anderen massiv überschreitet? Und ich erkenne es so wieder! Was ich gehört und aufgenommen habe aus all den Gesprächen der letzten Monate: Es geht nicht um wahre Beziehung, um wahre Gefühle, die man, tumb vielleicht und ungelenk, trotzdem ernst nimmt. Es geht um ein rohes Machtspiel mit ganz zarten, zum Teil unerkannten, selten erlebten Gefühlen von zärtlichkeitssuchenden jungen Menschen. Nur unterscheiden lässt sich das Gewalttätige von dem Tumben eben dann nicht, wenn man so jung ist und sehnsüchtig und manchmal erschrocken über sich selbst. Und so wird die wahre Gewalttätigkeit des Täters nicht wahrgenommen und die wahre Ver-letzung des Opfers eben auch nicht.

Denn drittens sind die Brüder  von Dina damit beschäftigt, ihrerseits gekränkt zu sein. Sie (!) haben einen „Verlust“ erlitten: nach gesellschaftlichem Urteil ist Dina fortan mit einem Makel versehen: ge-schändet. Verunreinigt wird es damals genannt. Sie sind nun alle verunreinigt! Und der Vater? Der schweigt dazu. Wie zu allem. Und so wird Dina ausgeschlossen aus dem normalen Leben. Tür zu, Dina weg. Nicht jedoch beiseite gelegt ist die Kränkung der Familienehre: Sie, im Gegenteil, muss gerächt werden. Und damit hat man dann kapitellang zu tun. Die Gewalt des Täters wird fortgesetzt durch die Gewalt der Familie.. Auch übrigens darin, Dina zum angeschlagenen Feilschobjekt von Frauenhandel zu machen.
Damals gab es keinen Missbrauchsverein Ahrensburg. Es gab keine Presse, keine Therapeuten, kei-nen Weißen Ring, Seelsorger, wer und was auch immer, um den Opfern zuzuhören. Um ihnen eine Stimme zu geben, indem man ihnen glaubte. Es gab keine „Familie“ wie es die Kirche auch sein kann. Familie, die immer wieder – vielleicht tumb und nicht immer geschickt, sagen möchte: es tut mir leid. Und mehr noch: Wir sind dir etwas schuldig und deshalb verhandeln wir mit dir als Subjekt. Zum Bei-spiel, ob und wie wir etwas tun können, wissend, dass nie wieder alles gut wird, aber doch: um anzu-erkennen, was gewesen ist und um zu unterstützen. Es gab keine Traumatherapeuten, die sich wie heute mit der Familie in Ruhe hinsetzen und beraten, wie man die Kapitel der Gewalt gerade nicht weiter fortschreiben muss.

Das alles wird heute Thema sein. Wird uns konfrontieren. Gut so. Mit Gottvertrauen.

Apropos. Wo war er?
Dina schweigt, Jakob schweigt, und Gott – der schweigt auch?!
Ja, er schweigt.
Auch wenn ich den Text hin- und herdrehe, es lässt sich keine Gottesnähe heraus schütteln….Und so bleibt der Mensch verletzt und leer zurück…
Auch das, merke ich, konfrontiert mich: dass es für etliche Betroffene vorbei ist mit Gottes Nähe. Glaube? Vertrauen? Abbruch. Mir macht das Mühe, gebe ich ehrlich zu. Weil dann natürlich mein tiefer Glaube an Versöhnung so gar keine Antwort finden kann.

Gleichzeitig verstehe ich das. Ich verstehe, dass der Wunsch nach Versöhnung einigen zu schnell kommt. Dass die Rede davon zu weit weg ist von den Taten. Und ich sage: Ja. Ihr habt Recht. Ver-söhnung ist ein langer Prozess der Annäherung, zwischen den Betroffenen und meiner Institution zum Beispiel. Durchaus mit ganz glücklichen Erfolgsmomenten, aber auch mit Rückschlägen und Enttäu-schungen. Viel zu schwer, das ist mir klar geworden, wurden Menschen verletzt. Immer wieder. Immer noch. Vor allem durch Schweigen. Und ich erinnere, was damals Menschen wie Dina in dieses Schweigen hinein getan haben und was sie hat überleben lassen: Sie haben geklagt. Angeklagt. Gott zuallererst. Warum ich? Warum so? Warum hast du mich verlassen. Bleib wo du bist. Fern von mir! Der Schmerz braucht eine erste Adresse, um zur Sprache zu kommen. Klage ermöglicht diese Spra-che: geschrien, geseufzt, tränenreich, raus damit. Gott schweigt. Damit er zuhören kann, sagen die alten Psalmbeter. Und damit sich irgendwann das Blatt wende: Die Anklage trifft  - irgendwann - die richtige Adresse, die des Täters. 

Und so höre ich auch dies von Betroffenen: „Nehmen Sie wieder die Rolle von Kirche sichtbar auf, sagt Nele zu mir. Wenn jemand von Versöhnung und Vergebung reden und handeln muss, dann doch Sie! Ich brauche das. Untröstlich sind wir schon genug. Stehen Sie auf und verharren nicht im Schreck.“

Mich hat das angespornt. 
Denn Nele hat mich an das erinnert, was unsere christliche Religion trägt: dass mit Jesus, der mit sei-nem Kreuz auch unsere Kreuze kennt und jeden tiefen Schmerz, der hindurch gegangen ist durch tausend Tode der Geschundenen und Opfer auf dieser Welt, dass der aufsteht. Dem Todesschrecken die Stirn bietet – nicht als Held und Sieger, nicht als einer der abstraft und sämtliche Peiniger in der Hölle verdammt, sondern im Gegenteil: durch den unbeirrbaren Willen zur Vergebung. Eine Verge-bung, die deshalb nicht billig ist, weil sie einen  konfrontiert mit dem, was hinter einem liegt. Was man getan und was man gelassen hat. Die Vergebung des Auferstandenen ist der Affront schlechthin! Weil sie niemals hinter dem Rücken der Opfer geschieht. Es ist ein Affront gegen die moraline Gier, Men-schen öffentlich abzustrafen. Nein, gerade nicht Strafe, Vergebung verspricht Veränderung. Und damit geht es gerade nicht um Abkehr, sondern um die  Erkenntnis von Schuld. Dies aber mit Aussicht. Nämlich: heraus zu kommen aus dem Bann des Vergangenen. Aus der Todesverklammerung. Auch wenn es lange dauert…
Ins Gespräch mit sich selbst zu gehen, das ist heute die Aufgabe. Die Konfrontation nicht vermeiden, sondern sich ihr stellen, samt allem, was man gern anders hätte. Und vielleicht ist es dabei für uns gemeinsam ein Ansporn, was Nele mir mit auf den Weg gegeben hat: „Stehen Sie auf und verharren nicht im Schreck!“

Keine Frage, wer da wen getröstet hat. 

Ich danke Ihnen.

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