5. September 2012 - „Abend der Begegnung“ des Diakonischen Werks Hamburg

Gesprächsimpuls zum "Abend der Begegnung"

05. September 2012 von Kirsten Fehrs

„In der Nächsten Nähe“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

sehr geehrte Landespastorin Stoltenberg, liebe Annegrethe,

sehr geehrte Bürgermeisterin Stapelfeldt,

liebe Schwestern und Brüder!

herzlichen Dank für die freundliche Einführung und Hinleitung zu meinem Part und überhaupt: herzlichen Dank für die Einladung, diesen „Abend der Begegnung“ des Diakonischen Werkes Hamburg mit einem Gesprächsimpuls zu eröffnen. Ich empfinde diese Einladung als freundschaftliche Geste. Eine Geste dafür, dass Diakonie und verfasste Kirche einander Impulse geben, die inspirieren. Es gibt ein hohes Interesse aneinander im Wortsinn, also eine Neugier, was inter-esse, was zwischen uns ist und hin und hergeht, wes Geistes wir jeweils sind und wie wir im Zusammenspiel von Wort und Tat, Diakonie und Kirche den Puls der Zeit fühlen.

Den Puls fühlen – im direkten und übertragenen Sinne, darum geht es in der neuen Imagekampage der Diakonie der EKD. Sie macht auf den ersten Blick deutlich, dass das eigentliche Arbeitsfeld der Diakonie die Nähe ist. Das einander Zuwenden. Berühren. Konkrete Hilfe und die Zärtlichkeit. Eine Nähe, die aus der Gegenseitigkeit lebt. Nähe geben kann man sich nicht allein. Es braucht einen anderen Menschen, den man respektiert, schätzt, ja wenigstens ein kleines bisschen liebt. Entsprechend bezeichnet man in fachlicher Wissenschaft die Diakonie als „institutionalisierte Nächstenliebe“. Und wie anschaulich wird diese Nächstenliebe dank der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie! Es ist so gelungen, dass und wie auf den Plakaten der Kampagne nicht nur richtige Slogans, sondern richtige Menschen zu sehen sind, live und in Farbe. „Die Kampagne zeigt tatsächliche Mitarbeitende, wirkliche betreute Menschen, wahre Beziehungen, reale Örtlichkeiten und echte Gefühle“ (aus dem Text der Diakonie-Kampagne 2012-2013 auf diakonie.de). In der Nächsten Nähe eben. Das ist Grund und Ziel von Diakonie.

Darüber hinaus ist dieser Slogan aber auch eine Zeitansage: Wer an dieser Stelle programmatisch die Nähe in den Vordergrund stellt, antwortet ja auch auf ein Problem. Und das heißt: Das Schneller-Höher-Weiter einer immer  komplexeren, innerlich distanzierten, bisweilen wutbürgerlichen globalisierten Welt. Eine Welt, in der gilt: Schnell weg ….von dem, was uns bei den Verwundeten der Welt aufstört; schnell weiter ….von Krediten reden, wenn Schuldenerlass doch in so vielen Ländern der Erde das Hilfreichste wäre, schnell höher ….die Nase, um nicht zu sehen, zu riechen, sich zu befassen, was vor den Füßen liegt. Die Kampagne nun holt uns in nächste Nähe. Holt in nächste Nähe, was nur allzu gern an den Rand gedrängt und auf Distanz  gehalten wird. So entwickelt sie ganz bewusst ein Gegenbild: das von der Globalisierung des Mitgefühls.

Dafür stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter allerorten in den Einrichtungen der Diakonie: sie begleiten und beraten, pflegen und heilen, trösten, stärken, fördern und bilden aus. Und mit all dem tun sie vor allem dies: Sie erheben ihre Stimme für diejenigen, die in unserer Gesellschaft stumm  oder gemacht worden sind. Heißt: Das Tabuisierte bekommt Aufmerksamkeit. Es werden gerade sie gewürdigt, die verwirrt sind und elend krank, die in Ängsten gefangen sind und Armut, die Ausgrenzung erleiden und verwundet bleiben in ihrer Untröstlichkeit.

Ich danke Ihnen und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie für diese Ihre Arbeit ganz herzlich: Ich danke Ihnen, dass Sie tun, was das Herz Ihnen sagt. Dass Sie nicht ausweichen, sondern sich aussetzen, dass sie zuhören und Menschen auffangen – ganz wörtlich gemeint. Danke, dass Sie sich zeigen und Ihre eigene liebe Not, dass sie immer Neues ausprobieren und alte Menschen würdig alt sein lassen. Auf vielerlei Weise antworten Sie  auf den zentralen biblischen Auftrag also ganz und gar mit sich selbst, der da lautet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lukas 10, 27).

Dieses Gebot der Nächstenliebe ist das zentrale christliche Fundament aller diakonischen Arbeit. Als christlicher Ur-Impuls liegt sie jeder Form diakonischer Zuneigung zugrunde. Und  Zuneigung, meine Damen und Herren, ist immer etwas höchst Persönliches. Nicht nur im Sinne eines inneren Empfindens, sondern auch im Aus-Druck nach außen, also als Profil: Wer sich zuneigt, sieht hin, und wer hinsieht, wird verändert sein, durch das, was er oder sie erkennt.

Insofern ist Nächstenliebe ein bewusster Perspektivwechsel. Ich versetze mich mit all meinen Fähigkeiten der Einfühlung und der Phantasie und des Denkens in die Perspektive des Menschen, der mich braucht. Das tat der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn, den es „jammerte“, als er ihn so abgerissen ankommen sieht. Das tat der Samariter, denn es „jammerte“ ihn, wie verletzt der Geschlagene vor ihm liegt (vgl. Reiner Preul: Predigt über Röm 13,8-14, in: Luther und die Praktische Theologie, S. 124). Bei jeder dieser Diakonie-Stationen in der Bibel lesen wir „es jammerte ihn“, was genau übersetzt heißt: es rührte ihn bis an die Eingeweide.

Wir Menschen sind vom Jammer berührt, weil wir fähig sind zu lieben. Das Leben. Diesen gequälten Menschen. Jenes Flüchtlingskind. Immer schon. Oder gerade in diesem Moment. Und weil Menschen lieben, machen sie ganz wunderbar unvernünftige Dinge. Der Vater rennt dem verlorenen Sohn entgegen, gleich, ob er das Erbe verprasst hat. Und der in der jüdischen Gesellschaft ausgestoßene Samariter steigt sofort vom Esel, obwohl er doch guten Grund hatte, über den Verwundeten hinweg zu schauen.

Nein, der Nächste, bitte! Jesus beharrt darauf, dass die Wahrheit unseres Glaubens nicht im Rationalen liegt. Sie liegt in der Liebe, in einem so heftigen Gefühl, dass es einem den Atem nimmt. Und wer, wie der Samariter, von diesem Gefühl überfallen wird, kann gar nicht anders, als sich dem Verwundeten zuzuneigen. So fremd sind sie sich und trotzdem so nah. In der nächsten Nähe.

Er kann gar nicht anders – diese Beschreibung ist, finde ich, eine der schönsten des diakonischen Urimpulses. Und dazu eine kleine Geschichte aus dem normal verrückten Leben:

Als Vikarin hatte ich eine kluge Konfirmandengruppe. Heute würde man sie als „inklusiv“ bezeichnen: Florian war schwer lern-, ja fast geistig behindert, und die anderen kannten ihn seit Kindertagen – so wie das eben ist auf dem Dorf. Irgendwann war die Geschichte vom Barmherzigen Samariter dran. Was liegt näher als sie hochdidaktisch aufzubereiten und mit einem Rollenspiel verständlich zu machen? Gedacht, getan. Benno lässt sich gekonnt berauben und fällt stöhnend zu Boden. Sylvia als Priester geht ebenfalls perfekt rollenkonform vorüber, nicht ohne sich zu empören, dass jetzt die Besoffenen schon auf der Strasse lägen … Bühne frei nun für Florian, den Leviten. Der zögert kurz, geht entgegen aller Regieanweisungen auf seinen Freund Benno zu, kniet sich auf den Boden und streichelt seinen Kopf. Selbst als Benno sagt: „Mensch Flo, du sollst das anders spielen, geh´ jetzt mal an mir vorüber,“ verharrt Florian bei ihm und streichelt ihn, immer wieder über den Kopf. Denn es jammerte ihn wirklich.

Mich hat selten eine Szene so berührt. Die Konfirmanden, glaube ich, auch. Weil Flo nicht anders konnte, als liebevoll zu sein.

So verstandene Nächstenliebe, und also: so gelebte Diakonie entspringen unmittelbar aus dem christlichen Glauben. Das kann auch darin deutlich werden, dass die moderne, neuzeitliche Diakonie  als „Innere Mission“ ein Programm der Kirchenerneuerung gewesen ist: es ging ihr um die „Wandlung der Kirche aus einer obrigkeitlichen Anstalt in eine brüderliche – wir dürfen ergänzen: geschwisterliche – Gemeinschaft“ (zitiert nach Theologische Realenzyklopädie Bd. 8, Art. „Diakonie“). Die Diakonie verstand sich also von Anfang an als ein Beitrag zur Kirchenverbesserung, ein Impuls, durch den die Kirche ihre eigene Aufgabe angemessener und den neueren Umständen angepasst wahrnehmen kann – gut reformatorisch also, daran kann gerade in der Lutherdekade auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 erinnert werden. In dieser Perspektive ist doch eine etwaige Kluft und Konkurrenz zwischen Diakonie und Kirche überhaupt nicht nötig?! Denn genau richtig ist doch in der Selbstbeschreibung der Diakonie, wenn sie in ihrem Leitbild sagt:  „Wir sind Kirche. Diakonie erfahren heißt erkennen: Die Kirche lebt! Diakonie ist Christsein in der Öffentlichkeit. Sie ist Wesens- und Lebensäußerung der evangelischen Kirche“ (aus dem Leitbild der Diakonie auf diakonie.de).

Doch wie lässt sich diese Lebensäußerung umsetzen, in Kirche wie in Diakonie? In kleiner Münze, in der täglichen Arbeit? Hier finden sich, als immer wieder deutliche Zeichen unserer unerlösten Welt, Ambivalenzen und Dilemmata. Wie soll man einerseits ein besonderes christliches Profil in der Zuwendung zum Nächsten sicherstellen, wenn andererseits der Kostendruck so groß ist, dass für den einzelnen Menschen nicht mehr genug Zeit bleibt. Nächstenliebe und Wirtschaftlichkeit schließen sich zumeist aus, müssen aber immer wieder zusammen gebracht werden. Es sind klassische Dilemmata, bei denen man akzeptieren muss, dass jede Lösung Nachteile hat. Ein Dilemma ist ein einziges Dazwischen. Zwischen Stühlen ist man hin- und hergerissen, die alle wichtig sind gleichgewichtig zu besetzen, sonst fällt man. Entweder ins desaströse Minus oder vom Glauben ab.

Auch die Zuwendung, die Nähe selbst, die gerade das Besondere und Charakteristische der christlichen Diakonie ausmacht, kann kippen: professionell in der Nächsten Nähe zu arbeiten, kann eben auch heißen, auf Abstand zu gehen um sich nicht vereinnahmen oder gar aufsaugen lassen. Und das gehört doch nun wirklich zum Allerschwierigsten: den richtigen Mittelweg zu finden zwischen Tun und Lassen, den Ausgleich zwischen Engagement und Distanz, die Mitte zwischen Festhaltenwollen und Loslassenmüssen.

In der allernächste Nähe finde ich: mich. Heißt es doch: „Du sollst deinen Gott lieben … und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lukas 10, 27) Das so genannte Doppelgebot der Liebe erweist sich in Wahrheit als ein Dreifachgebot. Eine klassische Dreiecksbeziehung zwischen Gott, den Nächsten und mir selbst.  Erst wenn wir alle drei Momente berücksichtigen, werden wir unserem Auftrag gerecht. Das bedeutet viel. Viel Verantwortung. Für uns als Kirche. Für Sie als Diakonie. Das bedeutet – ich führe zum Anfang zurück – dass sie auch eine besondere Verantwortung für Ihre MitarbeiterInnen hat. Wir sollten uns immer wieder selbstkritisch fragen: lassen wir uns genug in die Pflicht nehmen für sie? Geben wir Ihnen genug Anerkennung? So, dass sie ihren Beruf und ihre Berufung in der Nächsten Nähe gern ausüben und erfüllen können?

Anderen die Nächste sein und zur Nächsten werden – das geht immer wieder ineinander über. Oder mit den – leicht veränderten – Worten des großen Dichters Robert Gernhardt (in Anlehnung an sein Gedicht „Vom Leben“, in: Wörtersee, S. 95):

 „Dein Leben ist Dir nur geliehn – / du sollst nicht daraus Vorteil ziehen. / Du sollst es ganz dem Nächsten weihn / und der kannst nicht du selber sein. / Der Nächste, das bin ich, mein Lieber – / nu komm schon mit der Kohle rüber!“

Zugegeben, der Schluss ist – wie immer bei Robert Gernhard – ein wenig krass, doch irgendwie auch unvergleichlich lebensnah. Jedenfalls wenn man die Bedürfnisse anschaut, die keinen Aufschub dulden. Und ich schaue auf meine begrenzte Redezeit (die ich wahrscheinlich wieder einmal überschritten habe) und denke: vielleicht haben Sie nun das Bedürfnis, das Büffet ein wenig genauer zu studieren? Aus der nächsten Nähe?

Ich freue mich dort auf den Austausch mit Ihnen.

Datum
05.09.2012
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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