10. April 2020, Karfreitag | Schwerin

Gott war in Christus

10. April 2020 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt predigt an Karfreitag 2020 für die Domgemeinde Schwerin zu 2. Korinther 5,14-21

Liebe Domgemeinde,

verstörende Bilder erreichen uns in diesen Wochen. Aus Italien, aus Spanien, den USA: Überfüllte Krankenhäuser, erschöpfte Ärzte, lange Sargreihen. Bei uns sind die Straßen leer geworden. Die Zahlen der Infizierten und Toten wachsen – langsamer, aber sie wachsen. Und das sei, so heißt es immer wieder, nur „die Ruhe vor dem Sturm“. In dieser Passionszeit treten Ängste und Sorgen, Leid und Tod sehr nah in das eigene Leben. So erlebe ich es in diesen Tagen.
Und so oder ähnlich empfinden es auch andere. Auch im scheinbar so sicheren Homeoffice. Auch in selbstgewählter Quarantäne. Und die archaische Frage kommt auf: Wen werden wir opfern? Wen werden wir opfern, damit es allen wieder gut geht, damit alles wieder normal wird?

Wen werden wir opfern? Wenn in der Triage, ethisch gut und sorgfältig durchdacht, Ärzte entscheiden müssen, wer Überlebenschancen hat und wer nicht. Wenn das Leben wieder hochfahren soll, damit die Wirtschaft weiterlaufen kann und die drohende Rezession wenn nicht abgewendet, so doch wenigstens nicht zu groß werden soll: Wen werden wir opfern? Manche empfehlen jetzt, Angehörige der Risikogruppen weiterhin unter Quarantäne zu stellen und das Leben für die jüngere Generation möglichst schnell möglichst normal wieder anlaufen zu lassen.
Andere plädieren für eine kontrollierte „Durchseuchung“ der Gesellschaft, um schnell eine breite Immunisierung aller Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Aber wer wird geopfert, wenn sich alle einem für den einzelnen nicht kalkulierbaren Risiko für das eigene Leben aussetzen, damit der Alltag bald wieder für alle „normal“ wird? Wen werden wir opfern? Andere? Uns selbst?

„Und Christus ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und auferweckt wurde.“ Die heute oft auf Unverständnis stoßende Rede vom Opfertod Jesu zeigt auf, was es zu den aufgerufenen Fragen mindestens auch zu sagen gibt: Christus opfert nicht andere. Lässt nicht andere über die Klinge springen, um sich zu retten. Tritt nicht still in den Hintergrund, damit sich im Vordergrund andere in die Schlacht stürzen.
Nein, Christus opfert nicht andere. Christus opfert sich selbst. Tritt an unsere Stelle, tritt für uns ein, leidet Gewalt und Tod. Führt uns in seinem Leidensweg unsere todbringenden Mechanismen vor Augen: Ausgrenzung, Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit, Machtinteressen, Geltungswünsche, Gewalt, Hass. Führt uns vor Augen, wie wir Menschen sein können. Wie wir einander zu Opfern machen. Einander den Tod bringen. Führt uns das alles an seinem eigenen Leib vor Augen, damit Schluss damit ist. Ein für alle Mal. Und, nota bene: Der sich und sein Leben hingebende Christus fordert genau das nicht von denen, die ihm nachfolgen.

Zum Verständnis des Kreuzes als Opfertod, einer der Lesarten des Todes Jesu am Kreuz,  gehört eben auch: Die Selbsthingabe Christi am Kreuz ist ein für alle Mal geschehen. Von da an heißt es: Keine Opfer mehr. Niemals. Niemals mehr sollen Menschen andere Menschen opfern, damit sie das Leben haben. Christus nachfolgen heißt dann auch: Wir beenden das Opfern, auch das Uns-Selbst Opfern. Ein für alle Mal.

Nachfolge, successio. Leidenschaftliche Liebe zum Leben, zum anderen, lebt Jesus uns vor. Ihr gilt es nachzufolgen. Um diese Nachfolge geht es, nicht um die imitatio, die Nachahmung eines Opferns, bei dem immer jemand auf der Strecke bleiben muss.

Wen werden wir opfern? Ist das überhaupt eine Frage, die uns noch bevorsteht? Oder beantworten wir diese Frage nicht schon längst täglich: durch unsere Art zu leben, die ihre Opfer fordert – an den Grenzen Europas, auf den endlosen Flüchtlingsrouten überall auf dieser Welt? Wer auf den Gekreuzigten sieht, sieht auf das Leid dieser Welt: Gott, vergib uns unsere Schuld. Lass uns umkehren. Hilf uns, das Opfern zu beenden. Jetzt.

Wen werden wir opfern? Diese Frage stellt vor Entscheidungen und Abwägungsprozesse, die Menschen schlechterdings nicht treffen sollten, auch nicht vor dem Hintergrund einer noch so sorgfältigen ethischen Reflexion. Denn jedem Menschen kommt die gleiche Würde zu – Menschenleben dürfen nicht gegeneinander abgewogen werden. Und doch stehen Menschen auf dieser Welt in diesen Tagen vor genau solchen Abwägungen. Sie übernehmen eine eigentlich nicht zumutbare Verantwortung und treffen Entscheidungen. Entscheidungen, aufgrund derer die einen weiterleben und andere sterben.
Es sind Entscheidungen, die sich eingraben in das Gewissen, die unser Zusammenleben auf dieser Welt mitten ins Herz treffen. Wir werden sie und wir dürfen sie nicht vergessen – als Gesellschaft, als europäische Gemeinschaft und als Weltgemeinschaft. Denn es sind Entscheidungen, die eine Gesellschaft insgesamt mitzutragen hat. In der Solidarität einer gemeinsam zu tragenden Schuld, die wir einander nicht erlassen, um deren Vergebung wir alle aber bitten können.

„Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch.“(Sophokles, Antigone) Wen werden wir opfern? Ungeheuerlich ist diese Frage. Die klassische Antike findet auf diese Frage die Antwort, dass die Existenz des Menschen tragisch ist – und er sich damit abzufinden hat: Es gibt keine Erlösung.

Der christliche Glaube findet eine andere Antwort, die der Apostel Paulus formuliert: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Wir Menschen können nicht durchs Leben gehen, ohne an anderen schuldig zu werden. Wir leben und vergessen dabei immer wieder, dass wir unser Leben nicht uns selbst, sondern Gott verdanken – Schöpfer allen Lebens, Grund und Quelle der Liebe. Er schenkt uns die Möglichkeit, uns immer wieder neu an seiner Liebe zu uns, zu allen Geschöpfen, zu seiner Schöpfung zu orientieren.
Wir Menschen zerstören Leben durch unsere Art zu leben. Aber durch uns bahnt sich auch Barmherzigkeit ihren Weg, greift die Liebe um sich, wird Leben gerettet. Weil Gott in Christus Schuld und Sünde von uns weg und auf sich nimmt – und uns so ermöglicht, uns immer wieder neu an seiner Liebe zu uns zu orientieren und danach zu handeln. Deshalb denke und bete ich in diesen Tagen mit den Worten des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld führe uns nicht in Versuchung“:

Du Gott in Christus, vergib uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung, Gott. Lass uns erfahren, dass Passion nicht nur Leiden heißt, sondern auch: leidenschaftliche Liebe. Lass uns wach bleiben für eigenes und fremdes Leid. Wecke leidenschaftliche Liebe, dagegen anzugehen. Schenke Wege, lebensbedrohender Gefahr entgegen zu treten. Hilf uns, so zu leben, dass wir andere nicht in Versuchung führen, über Leben und Tod zu entscheiden und eine Auswahl treffen zu müssen. Stärke Liebe und Barmherzigkeit bei uns selbst und überall auf dieser Welt, die in deinen Händen steht. Amen.

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