Gottesdienst am Weltkindertag
20. September 2020
15. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu 1. Mose 2,4b-9.15
Liebe Gemeinde,
frühmorgens, wenn die Septembersonne über dem Ratzeburger See aufgeht und der Nebel langsam weicht, wenn die atemberaubende Schönheit dieses Erdenfleckchens offenbar wird, jeden Morgen neu: Das ist doch paradiesisch! Man kommt sich vor wie zurück versetzt in Gottes sagenhaften Schöpfungsgarten von einst. „Und ein Nebel stieg auf und feuchtete die Erde.“ Vor aller Zeit und jeden Morgen neu – die Schöpfung hält uns an diesem Ort besonders deutlich ihre Wunder entgegen. Ganz demütig werde ich da, allemal als Stadtmensch.
Kein Wunder, dass Heinrich der Löwe vor 850 Jahren diesen Dom genau hier erbauen ließ. Erhaben zeigt er mit dem Turm gen Himmel, hin zu eben dem Schöpfer. Wie um eine Orientierung zu geben, wem wir unser Leben wirklich verdanken. Ein Fingerzeig Gottes inmitten dieses Paradieses. Und auch wenn bei Heinrich ein klitzekleiner strategischer Grund dahinter gesteckt haben mag, – denn hier stand zuvor eine Burg der Slawen – , hat doch der Dom inmitten von Wirrnissen, Kriegen und Seuchen über deren bittere Realität hinausgezeigt und stand immer schon für Sicherheit, für den Zufluchtsort schlechthin: Hier war und ist Gott mein feste Burg.
850 Jahre schon. So gern hätten wir dieses Kirchenjubiläum heute gefeiert! Mit Pauken und Trompeten, Posaunenjubel und stärkenden Chorälen, und zwar so, dass man hautnah erlebt, was Lebensodem bedeutet: Er „blies den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ So wollten wir feiern. Mit lautem Gesang, lebensnah und ohne Nasen-Schutz.
Nun ist es anders gekommen. Nun brauchen wir langen Atem. Den großen Kirchengeburtstag feiern wir nächstes Jahr. So ist heute der Gesang zarter – und auch wunderschön. Die Hoffnung trägt sich durch die leisen Töne, durch Augenblicke, gute Gedanken, das stille Gebet. Die Zuversicht setzt die Maske auf, man erkennt sie daher nicht so schnell. Nicht so sehr Aufbruchsstimmung prägt unser gemeinschaftliches Leben in diesen Wochen, mehr ein entschlossen-vorsichtiges: Es geht weiter! Nur wissen wir noch nicht so recht, wohin und wie.
Es ist also auch heute vieles am Anfang. Wie damals. Der Predigttext redet ja auch von nichts anderem als davon, wie das Neue anfängt, wie Leben entsteht. Jeden Morgen neu. Auch in Pandemiezeiten. Oder gerade dann. Denn das ist das Besondere am biblischen Schöpfungsglauben, dass eben nicht irgendwann in grauer Vorzeit Gott eine Welt erschaffen hat. Nein, wir erzählen davon, dass der Gott, an den wir glauben, niemals aufhört Leben zu schaffen. „Creatio continua“ haben die Kirchenväter das weise genannt. Sich immer fortsetzende Schöpfung. Wie ein ewiger Fluss mit immer frischem Quellwasser.
Es ist immer Anfang. Heißt: Die Hoffnung endet nicht. Das Lied des Lebens wird weitergesungen, gesummt, gepfiffen. Vielleicht manchmal auch nur weitergedacht. Aber verstummen wird es nicht. Weil Gott nicht verstummt. Gottes Liebe für das Leben ist unendlich und hört nicht auf, auch und gerade nicht, wenn es kritisch wird. So sehr hat Gott diese Welt, diese geschaffene Welt mit ihren Bitterkeiten geliebt, dass er seinen Sohn gab, auf das keiner verloren gehe! So hat sein Sohn Jesus sich uns grenzenlos zugewendet und gezeigt: Kein Tod, keine Krankheit, kein Streit und keine Schuld bleibt ohne Gottes kreative – und das heißt ja lebensschaffende – Antwort: Die sich stets erneuernde Zuversicht.
Das passt gut zum heutigen 20. September: Weltkindertag. Also genau der richtige Tag, um über Anfang nachzudenken, über Hoffnung und Aufbruch, über Neugier, Mut und Lebenshunger. Kind sein, das heißt doch: Mit großer Hoffnung klein sein können. Die Zukunft fängt erst an! Sie will gelebt sein!
Und unweigerlich denke ich an die Kinder, deren Zukunft ein schmaler Grat ist. Die unter Armut leiden und verlorenen Sicherheiten. Hier und – in Moria. Wie viele Kinder liegen dort auf nacktem Beton und unter den Olivenbäumen auf Zeltplanen mitten im Dreck! 12.000 Menschen insgesamt. Ausgebrannt. 9000 nun in einem anderen Lager. Doch es bleibt eine entsetzliche Lage, und die war eine mit Ansage! Seit Monaten war bekannt, wie groß das Elend ist, wie unhaltbar die hygienischen Zustände. Seit langem war damit zu rechnen, dass das gefährliche Virus sich auch dort verbreiten würde. Und es geschah - nichts. Wie erklärt man jetzt den Kleinsten, was dort geschieht?
Mich erschüttert die Unfähigkeit Europas, zu einer humanen Flüchtlingspolitik zu kommen. Nehmen wir 150 oder 300 oder 3000? – das ist doch wirklich zynisch. Seht hin! Es sind Menschen, Kinder, keine Nummern. In Moria entscheidet sich die Zukunft Europas. Was wollen wir sein? Eine Gemeinschaft der Werte - oder eine abweisende Festung?
Gebt keinen verloren, gerade die Kleinen nicht, das ist die Botschaft unserer Geschichte vom immer wieder neuen Anfang! Also: Hoffen und handeln wir, dass es einen Neuanfang des Denkens oder besser: des Mitgefühls, der Empathie in Europa gibt. Gott sei Dank sind ja viele Menschen und viele Kommunen bereit zu helfen, auch im Herzogtum Lauenburg. Sie waren es 2015 schon und sind es immer noch. Wir brauchen nach wie vor einen europäischen Geist, der Rückenwind gibt. Eine gesellschaftliche Stimmung, die sich nicht den Ängsten und den Grenzen ergibt, sondern Humanität und Zuversicht verbreitet. Den Lebensgeist des Anfangs.
Denn es blies Gott selbst dem Menschen den Odem des Lebens in seine Nase. So ward er ein Mensch, ein lebendiges Wesen. Wir sind alle in der Weltenfamilie menschlich nur durch Gottes Atem, wir leben und atmen seinen Geist. Gott gegeben also die Humanität, sie gehört zu unserer DNA! Und weiter noch: „Gott der Herr pflanzte einen Garten Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte.“ Wir sind hineingesetzt in die Schöpfung, damit wir uns für sie einsetzen. Der Mensch, selbst ein kreatives Wesen, hat die Schöpfung zu hegen und zu pflegen und ist in diesem Sinne ein kultivierter Mensch. Das ist eine ganz andere Lesart als der ungezügelte Fortschrittsglaube, der sich in falsch verstandenem Sinne die Welt untertan machen will.
Gerade die junge Generation schreibt uns dies – nicht nur am Weltkindertag! – ganz oben auf die Agenda: Wenn es Zukunft auch für unserer Jüngsten geben soll, dann müssen wir uns neu arrangieren mit der Schöpfung, müssen wir uns mäßigen und mit Grenzen leben lernen. Und wie schnell das gelingen kann, wenn es sein muss, das haben uns diese Pandemiemonate auch eindrucksvoll vor Augen geführt. Gewiss war und ist vieles bedrückend, die Unsicherheit macht nervös und die Existenznöte und Kosten werden uns noch lange beschäftigen – aber es ist doch auch viel Neues entstanden: Nachbarschaftshilfe und nachdenkliche Achtsamkeit, Flugstille und eine frühlingserholte Natur, Gemeinschaft via Zoom und Skype, überhaupt: Zusammenhalt, der Abstand zu überwinden wusste. Wir können das, die Welt so nehmen wie sie ist und hoffnungsmutig das Beste draus machen. Wir können das, zuversichtlich bleiben, wenn alles nach Vollbremsung aussieht. Kreativität, das Zauberwort dieser Wochen und Monate – das ist ja nichts anderes als: Schöpfungskraft. Die Kraft zum Leben, die sich durchsetzt. Immer wieder.
Und wie sie sich durchsetzt, das erzählt ein Detail unserer Schöpfungsgeschichte, das mir durch die Coronapandemie besonders aufgefallen ist: Die Gottesberührung am Anfang. Als es eben nichts weiter gab als den Nebel und leeres Land, da nahm Gott von der durchfeuchteten Erde und formte daraus mit seinen Händen den Menschen – wie ein Töpfer. Schöpfung handfest. Was vorher leblos war, beginnt durch seine Berührung zu atmen, sich zu bewegen, zu singen, wird Mensch. Der Mensch vergeht seitdem ohne Berührung, ohne Nähe und Gesten der Zärtlichkeit. Wie sehr erleben wir das derzeit! Wenn am Krankenbett die streichelnde Hand Kraft gibt weiterzumachen. Wenn nach so langen Monaten der Enthaltsamkeit Großeltern und Enkel sich umarmen, so ein Glück. Berührung ist ein tiefes Grundbedürfnis. Und so stehen wir mit unserer ganzen Tradition als Kirche für die Berührung der Herzen und Sinne, für unbeirrbare Nächsten-Liebe, die mit Abstand die Beste ist.
Kirche wird gebraucht, gerade jetzt. Mit ihrer Muttersprache, der Seelsorge, die weiß, was die Menschen berührt und besorgt. Und so verstehe ich gut, dass es auch Sorge um genau diese Kirche gibt, hier im Lauenburgischen und anderswo. Wie soll es weitergehen, fragen sich viele, wenn die Mitglieder uns verlassen und Pastor*innen und finanzielle Mittel zurückgehen? Wie bleiben wir guter Hoffnung, so dass wir sie zutiefst glaubwürdig weitertragen können? Es geht ja gerade nicht um den Erhalt von Strukturen um ihrer selbst willen, sondern darum, auch zukünftig in lebensnaher Vielfalt an möglichst vielen Orten Zeugen der Hoffnung zu sein. Deshalb: In all den Veränderungen, die manchmal schmerzhaft sind, brauchen wir jede und jeden. Sie, die mit innerer Zuversicht Gewohntes loslassen können, wenn es denn nicht anders geht, weil sie wissen: Da kommt Neues. Gewiss. Creatio continua.
Sie merken, nicht erst gegen Schluss:
Ich setze auf den Anfang. Jetzt.
Den Chorgesang mit neuem Text.
Wenn Angst dich treibt und Kraft dir fehlt.
Ich setze auf den Anfang. Jetzt.
Friedensleis ein Hoffnungsfest.
Der Dom verspricht´s, die Kirche lebt!
In Zuversicht, die eingewebt.
Feiern wir im nächsten Jahr: 850 Jahre plus!
Denn: Ich setze auf den Anfang. Schluss.
Amen