Minütlich Sternstunden der Mitmenschlichkeit

Gottesdienst am 17. September 2023 im Dom zu Lübeck

17. September 2023 von Kirsten Fehrs

15. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Genesis 15,1-6

Liebe Gemeinde,

Sternstunden haben wir gewiss alle schon erlebt. Gestern gab es im Dom wieder einmal eine davon, eine lange sogar, als der runde Geburtstag unserer „Altbischöfin“ Bärbel Wartenberg-Potter aufs Herzlichste gefeiert wurde. Gern schließe ich mich den zahlreichen Gratulantinnen und Gratulanten an: Viel Gutes und reichen Segen für dich, liebe Bärbelschwester. Warum nur der Begriff „Altbischöfin“ nottut, frage ich mich, du bist doch erst achtzig? Bleib so herzensweit wie stets, mit der dir eigenen jungen und erfrischenden Art, mit himmlischer Neugier immer wieder neue Horizonte auszumessen!

Sternstunden im Minutentakt, das durfte ich auch vergangene Woche in Düsseldorf erleben. Momente voller Begeisterung, die buchstäblich Tausende von den Stühlen, respektive Rollstühlen riss. Groß, klein, jung, alt, Prinz Harry war dabei und Herzogin Meghan auch. Einige haben es vielleicht erraten? Richtig – diesmal im deutschen Düsseldorf waren zahlreiche Nationalitäten bei einer ganz besonderen Olympiade, den Invictus-Games am Start. Invictus bedeutet „unbesiegt“ und steht für den Kampfgeist der Teilnehmenden: Soldaten und Soldatinnen nämlich, die in Kriegseinsätzen wie etwa Afghanistan an Leib und Seele versehrt wurden. Und die sich ins Leben zurückgekämpft haben. Schwer verletzte Menschen, die in Kriegen, über die sie nicht entschieden haben, fast ihr Leben ließen und an ihren Wunden bis heute tragen.

So etwa Steven, der beim Minenräumen beide Hände und Füße verlor. Aber Tischtennis spielt wie ein Weltmeister. Oder Jonas, der seit Jahren schon seelisch erstarrt ist durch posttraumatische Belastung, weil er diese schrecklichen Bilder einfach nicht loswird. Aber er will bei diesen Spielen unbedingt helfen. Bewegend zu sehen, wie er stundenlang, ganz in sich versunken, Namenslisten abhakt. Auch beim Rollstuhl-Rugby bleibt kein Auge trocken und kein Rollstuhl auf seinen vier Rädern, weil man krachend ineinander fährt – man schenkt sich schließlich nichts als Unbesiegbare! Gleichzeitig liegen sich die Gegner beim Sitzvolleyball in den Armen, weil sie alle Freunde sind. Invictus ist eine große Familie – mit samt ihrer Familien. Unbesiegbar, ihre Liebe. Und ihre Lebensfreude. Und so werden die ersten bejubelt wie die letzten. Es regnet Applaus und Stolz und Liebe auf die Spieler herab, und damit die Botschaft: So wie du bist, bist du unendlich wertvoll. „Hier ist es ok, nicht ok zu sein“, sagte einer.

Jeder einzelne Mensch dort hat eine tief tragische Geschichte, aber ich habe nur lachende Gesichter gesehen. So dermaßen schöne Momente waren das, dass einem dauernd die Tränen kamen. Minütlich Sternstunden der Mitmenschlichkeit. Als etwa einer der Spieler spontan den höchstrangigen, formstrengen General so fest umarmt, dass der „locker macht“. Rührend. Etwas so Hochemotionales, schmerzlich lebensbejahendes, trotzig-stark-hingebungsvoll Zärtliches habe ich lange nicht erlebt. Dass verletztes Leben einen so tiefen Sinn behalten kann, dass Ängste und Traurigkeit eines Traumas nicht das Lachen zu besiegen vermögen, und dass die Menschen sich nicht bitter und voller Zukunftssorgen zurückziehen, sondern dem Verheißungsvollen entgegengehen, das sich da in jedem Lachen eröffnet, das war ein ganzer Sternenhimmel voll Wunder!

Er dagegen, der Abra(ha)m, der glaubt schon lange nicht mehr an Wunder. Schmerzlich ernüchtert ist er. Auch von der einstigen Verheißung Gottes. „Ich will dich zu einem großen Volk machen“, hat Gott gesagt, „und ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein. Geh in das Land, das ich dir zeigen werde – und du wirst reich sein an Nachkommen.“ Darauf hat er vertraut. Ist aufgebrochen und hat mit seinen 75 Jahren noch gemeinsam mit Sara neu angefangen. Nun ist er nahezu Hundert, und gewiss, er ist reich, auch an Respekt und Ansehen, aber nicht an Glück. An Kindern. Lebenssinn. Da hat er so fest an seinen Gott geglaubt, so gehofft auf ein Zeichen, doch der Himmel ist dunkel geblieben. Keine Zukunft in Sicht. Denn kinderlos heißt nachkommenlos und damit auch namenlos. Er wird irgendwann sterben – und das war‘s. Sein Mut aufzubrechen in neues Land, hat gar keinen Sinn gehabt. Abra(ha)ms Hoffnung ist schwer versehrt. Sie hat nicht mehr Hand und Fuß. Wie ein Scherbenhaufen liegt Gottes Verheißung vor ihm – und ihn beschleicht immer öfter die Angst, was daraus wohl werden wird.

Angst, was werden wird – Abra(ha)m als Urvater der Menschheit durchlebt in etlichen Kapiteln der Bibel alles, was auch wir kennen. Achterbahnen der Gefühle, Verzweiflung, Gottesskepsis, Verwundung, Traurigkeit. Ob es noch mal gut werden wird, fragt er. Eine Zukunft in Frieden? Er sieht seinen Bruder Lot leiden in Sodom, fragt: Warum diese furchtbaren Kriege von Menschen, die einst Brüder waren? Diese Machtspiele von dummen Potentaten, die Tausende das Leben kosten? So viel sinnloser Tod. Wo bleibst du, Gott mit deinen Verheißungen? Was ist mit dem Land, in dem Milch und Honig fließen sollen? Worauf kann ich noch vertrauen, wo doch gerade alle Gewissheiten zu zerrinnen drohen?

Alles unsere Fragen heute, oder? Die vielen Krisen, die uns schon seit langem Sorgen, ja Angst machen, muss nicht auch noch ich aufzählen. Davon hören wir täglich genug und merken, wie sie uns das Herz eng machen. Und wir sehen auf die vielen jungen Menschen von Fridays for Future, die vorgestern wieder auf die Straßen gegangen sind – und völlig zu Recht einfordern, dass endlich gehandelt wird. Die Zukunft, liebe Geschwister, ist für viele junge Menschen tatsächlich ein dunkles Land, kein Honig weil keine Bienen, keine gesunde Milch ohne CO2-Ausstoß und viel zu wenig sauberes Wasser zum Leben.

Es ist dunkel, mitten in der Nacht, als Gott in Abrahams Sorge hineinspricht: „Fürchte dich nicht, Abram! Ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn.“ Doch Abraham versteht das nicht. Er versteht nicht, dass Gott ihm Schutz geben will und Glück. Logisch versteht er es nicht. Er hat doch wahrlich andere Sorgen! Er ist so enttäuscht vom Leben! Und von Gott. Und dann platzt es förmlich aus Abra(ha)m heraus: Gute Güte, „Herr, was willst du mir (denn noch) geben? Ich gehe dahin ohne Kinder und mein Knecht Eliëser von Damaskus wird mein Haus besitzen.“

Da ist doch nichts mehr zu machen, was also, willst du mir denn noch geben, Gott? Abra(ha)ms Schmerz ist unüberhörbar in dieser verzweifelten Sinnfrage. Denn sehr wahrscheinlich, denkt er, sind Sara und er nicht nur die erste, sondern auch die letzte Generation in diesem Land, das Gott ihnen gegeben hat. Dabei haben sie alles getan für das lang ersehnte Kind. Und schließlich Eliëser, den Verwalter, adoptiert, damit das Erbe wenigstens gesichert ist, wenn sie einmal nicht mehr sind.

Gott hört den Schmerz. Ja, er weiß darum. Denn er weiß doch seit Ewigzeiten schon wie viel Mücklein spielen, wie viel Fischlein sich kühlen. Wir haben es eben mit Inbrunst gesungen. Wie viel Kindlein frühe stehn aus ihren Bettlein auf, dass sie ohne Sorg und Mühe fröhlich sind im Tageslauf. Kennt auch dich und hat dich lieb. Kennt auch dich, Abra(ha)m und hat dich lieb.

So hält Gott ihn fest – und seine Verheißung. Ein leibliches Kind verspricht er ihm. Und er nimmt ihn an der Hand, den so zaghaft gewordenen Abra(ha)m, und spricht fast zärtlich: „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne. Kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!“ Und Abra(ha)m schaut in den sternengesättigten Himmel, in diese unglaubliche Weite, und da er nun von sich absieht, lösen sich seine ängstliche Enge, seine Trauer, sein Schmerz. Er wird sozusagen gehimmelt auf Erden. Und er erkennt: Die Zukunft, die kommt erst noch! Es wartet noch so viel auf ihn. Die Geburt einer neuen Zeit. Ja, die Zukunft braucht ihn. Seine Tatkraft. Seine Zuversicht. Überhaupt, dass er sich ins Leben zurückkämpft! Unbesiegbar soll es sein: sein Vertrauen ins Leben, in die Liebe, in Gott.

Weißt du wie viel Sternlein stehen in dem blauen Himmelszelt? Oder du? Oder Abra(ha)m? Wohl kein Mensch. Laut Forschung kann der Mensch mit bloßem Auge wohl nur ca. 3.000 Sterne grob erfassen, von den insgesamt 70 Trilliarden, die existieren sollen (das sind 21 Nullen hinter der 70). So wenig wir also die Sterne zählen können, Gott kann es. Gott, der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, an der ganzen großen Zahl ... Diese unvorstellbare Größe, Höhe, Weite und Tiefe Gottes, sie umfasst das ganze Universum mitsamt aller unserer kleinen Welten. Mitten darin wir, als kleines Licht mit großer Würde. Den Himmel über uns dürfen wir glauben: Wir sind Gottes Augenstern. Abra(ha)m, Sara, Steven, Jonas, der General und wir hier auch. Eine Gewissheit, die uns ermutigen soll, die Deichsel unseres Wagens, der in die Zukunft fährt, an die Sterne zu hängen. Hoffnungsermutigt – so dass wir die Weite des Himmels in unser Herz nehmen und die Angst nicht so raumgreifend ist im Leben! Die Zukunft liegt vor uns. Und neue Aufbrüche auch. Allemal, damit die Welt eine bessere wird.

Halten wir‘s also mit Abra(ha)m. Der tapfer vertraut hat und sich dem Neuen entgegen gewundert. Und tatsächlich: Die Verheißung erfüllt sich. Sara gebiert übers Jahr einen Sohn, denn bei Gott, sagen die Engel zu ihr, ist ja nichts unmöglich. So viel Tragik war da, so traurig war den Ureltern der Menschheit einst ums Herz, doch als sie ihren Sohn in Armen halten, nennen sie ihn beim Namen Isaak, das bedeutet: Gott lacht mit.

Sternstunden der Menschlichkeit – dazu sind wir gesegnet mit allem, was wir sind. So möge Gott in unser Herz den Himmel senken, um uns auf Wege zu führen, die wir bisher nicht betreten haben – mag sein aus Angst und Unwissenheit darüber, dass Gott uns aufrechten Ganges und fröhlich sehen will – und weil die Liebe alles überwindet, Angst und Sorge und die Traurigkeit, so lasst uns heute, liebe Menschenkinder, die Sterne vom Himmel holen, es ist Zeit.

Und der Friede Gottes, höher als alle Vernunft, er bewahrt dabei unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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