11. Juli 2021 | Hauptkirche St. Michaelis Hamburg

Gottesdienst am 6. Sonntag nach Trinitatis

11. Juli 2021 von Kirsten Fehrs

Predigt Matthäus 28, 16-20

Liebe Gemeinde,

mitten hinein in die Vorbereitung dieser Predigt trifft mich die Nachricht vom Tod Esther Bejaranos. Gestorben mit 96 Jahren, gestern am frühen Morgen. Was für eine großartige Frau ist da gegangen! Eine aufrechte, mutige Streiterin für Demokratie und Menschenrechte und eine energische Lebenskünstlerin zugleich.

Gott hat sie bei ihrem Namen gerufen … so geht es mir sofort durch den Sinn. Und ich sehe sie vor mir, so zierlich und zerbrechlich zuletzt, aber mit einer Energie, die einen ganzen Saal in Bann ziehen konnte. „Wir schweigen nicht“, sagte sie noch im Januar am Holocaust-Gedenktag. „Wir, die Überlebenden der Konzentrationslager im Nazi-Regime, kämpfen gegen das Vergessen. Kämpfen gegen Rassismus, Antisemitismus, auch gegen heutige Verschwörungsideologien. Denn aus Worten werden schnell Taten. Wir haben es erlebt!“ Die Hölle in Auschwitz – als Mitglied des Mädchenorchesters überlebt Esther Bejarano sie tatsächlich. Und als Zeitzeugin mit Akkordeon hat sie fortan unermüdlich in Schulen und auf den Bühnen gegen das Vergessen angesungen, gelesen, gemahnt. Das war ihre Mission: Nie wieder darf so etwas passieren! Ihre Geradlinigkeit und ihre klaren Worte werden uns fehlen – und nein, vergessen werden wir sie nicht.

Zeugin der Zeit, mit einer Mission im Herzen. Ich schaue plötzlich neu auf das alt vertraute Evangelium, das wir eben hörten, übertitelt ja mit „Missionsbefehl“. Zwei schwierige Wörter in heutigen Ohren: Mission wie Befehl zeugen nicht gerade von Freiheit des Geistes. Und ja, es stimmt: Wir haben uns als Kirchen immer wieder damit auseinanderzusetzen, dass in früheren Jahrhunderten im Namen christlicher Mission Menschen drangsaliert, grausame Gewalt ausgeübt und ganze Völker geknechtet wurden. Stichwort Kolonialismus.

Was nun ist mit heute? Haben wir – heute noch – eine Mission, liebe Gemeinde? Als Kirche? In säkularer Welt? Und ich höre die Worte Jesu, die auch in diesem Matthäusevangelium stehen: „Selig die Trauernden, sie sollen getröstet werden. Selig die, die Frieden stiften. Selig, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, sie sollen satt werden.“ Der Mensch soll zu seinem Recht kommen, heißt das. Lieben und leben dürfen. In aller Freiheit. In der Freiheit nicht nur der Christenmenschen, sondern aller Menschen, die einander zu achten haben in ihrer Würde, mit ihrer Religion, Herkunft, ihrem Geschlecht. Also ja, liebe Gemeinde, wir haben eine Mission! Einen Auftrag für und in der Welt. Nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit dem Wort vom Licht – das wir fast sphärisch in dem Gesang eben haben erleben dürfen.

Und ich denke wieder an Esther Bejanaro und ihre Strahlkraft, gerade wenn sie jungen Menschen begegnete. Man muss an etwas glauben können, überzeugt von etwas sein, um Zeugin in dieser Zeit zu werden. Wissend, dass keine Überzeugung ohne Brechung, kein Glaube ohne den Zweifel auskommt.

Eindrücklich, dass es selbst den Jüngern so geht, wie sie da auf dem Berg dem Auferstandenen begegnen, ihm, der ihnen doch eigentlich so vertraut ist. Doch „als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten“,heißt es. Wie sich das erklärt? Bei Matthäus ist‘s hier die erste und einzige Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus. All die Geschichten in den anderen Evangelien, wie die Jünger den Auferstandenen sehen, fühlen, ja berühren und erleichtert irgendwann Ostern glauben können, all das fehlt bei Matthäus. Bei ihm war‘s ein Erdbeben und ein Engel für die verstörten Frauen am Grab, kurz und knapp. Keine Emmausjünger, die sich ihre neue Gewissheit buchstäblich erlaufen haben. Kein segnender Jesus zum Abschied bei der Himmelfahrt. Nur jetzt hier die Begegnung auf dem Berg, ganz am Ende des letzten Kapitels, an dem Ort, wo alles begann. In Galiläa.

Und in dem Moment, als sich so der Kreis schließt, sagt Jesus diese letzten Worte. „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Ich bin bei euch, ob ihr etwas anfangt im Leben oder das Gefühl habt, am Ende zu sein. Es gibt keinen Ort und keinen Augenblick ohne meine Gegenwart. „Denn mir ist gegeben alle Gewalt“, sagt er. Ein gefährlicher Satz. Mir ist gegeben alle Gewalt – damit bestreitet Jesus die Macht des Kaisers in Rom; nur der hätte genau dies sagen dürfen. Mir, hält Jesus gegen, nicht ihm und all den kleinen und großen Mächtigen, Potentaten und Diktatoren, mir ist gegeben die wahre Macht. Sie gilt im Himmel und auf Erden. Frei von den Grenzen, die Raum und Zeit setzen, ist Jesus mit seiner Menschenliebe präsent. Zu allen Zeiten und an allen Orten ist er damit derselbe. Er ist und bleibt das Licht der Welt, die rettende Hand, das heilende Wort.

Mit dieser Mission nun: Gehen wir! Schämen wir uns nicht des Evangeliums. Bringen wir das Gute in Bewegung. Redet also verständigend mit den Völkern, sagt das Evangelium. Erzählt, dass es keinen Grund gibt, in Furcht und Misstrauen zu erstarren. Vielmehr ist die Liebe die eigentliche Macht im Leben. Dahinein tauft die Menschen, hinein ins Kraftfeld Gottes.

Hinein ins Kraftfeld der Liebe – es liegt etwas so Starkes und zugleich Inniges darin. Und so ist mir immer bei jeder Taufe, als berühre Gott selbst sein Kind. Eines seiner vielen, geliebten Augensterne. Und wenn der Name ausgesprochen und das Wasser den Kopf berührt, ist‘s ein ganz feierlicher, heiliger Moment, in dem auch die Gemeinschaft darum herum still den Atem anhält. So als würde in jedem etwas Inniges in Bewegung kommen. Taufe er-innert eben. Sie rührt an unsere Ursprünglichkeit. An das, was wir waren und was wir sein wollten. Sie erinnert an die Hoffnung, die wir einmal glaubten und die Sehnsucht, die uns zu Träumenden gemacht hat. Sie erinnert immer wenn uns Zweifel zusetzen und Abschiede das Herz zerreißen, dass es Einen gibt, der uns inmitten der tobenden Welt im Innersten zusammenhält. Denn er weiß um jeden Stern in unserem Leben, wen wir lieben und wen wir tragen. Er allein weiß, wie viel Sternlein stehen. „Gott, der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, an der ganzen großen Zahl, an der ganzen großen Zahl.“

Im Himmel und auf Erden, vom ersten bis zum letzten Moment – ist er bei uns alle Tage. Also los! Mit Gottvertrauen. Als Menschenkind, das mutig Sterne und Welten entdecken will. Aber auch als Kirche, die sich jetzt eben nicht zurückziehen darf. Im Gegenteil. Geht hin! sagt Jesus. Schaut, dass ihr nicht oben auf dem Berg bleibt, fern vom Geschehen, sondern hingeht zu den Menschen, wo sie sind. Geht auch in ihre Täler der Trauer, der Angst und der Mühen des Alltags. Es ist Zeit, Zeuge zu sein. Geguckt haben wir ja nun lange genug. Und abgewartet, manche neugierig, manche erstarrt, viele unsicher. Ja, die Pandemie bremst uns aus, immer noch. Das lächelnde Gesicht verschwindet hinter der Maske, immer noch. Aber wir können wieder singen! Hoffentlich gehen wir weiter besseren Zeiten entgegen, vielleicht aber stehen uns neue Einschränkungen bevor. Ja, man könnte sich lähmen lassen, Matthäi am Letzten ganz wörtlich. Oder man könnte die rettenden Worte trinken, die uns Quelle der Hoffnung sein wollen. Und sagen: keine Angst, wir sind ja längst beim Namen gerufen. Oder wie es einst Luther in seinen schweren Anfechtungen immer wieder vor sich hin schrieb. Ich bin getauft!

Mir fällt Jonathan ein, ein inzwischen betagter baptistischer Prediger aus Südafrika. Er erzählte mir jüngst, dass er während der Zeit der Apartheid einmal fast ums Leben gekommen wäre. Wie es damals eben gewesen ist: Die Verfolger waren überall. So willkürlich. Brutal. Schließlich flüchtet Jonathan sich in seine Kirche. Die Verfolger treten die Tür ein. Kurz bevor sie die Kirche stürmen, sieht Jonathan das große Taufbecken, in das er einst bei seiner Erwachsenentaufe ganz und gar eingetaucht worden war, springt kurzerhand hinein und zieht den Taufdeckel über sich. Und er wird nicht entdeckt!

Ich bin getauft, sagt Jonathan. Halleluja! Seitdem er damals im wahrsten Sinne des lutherischen Wortes aus der Taufe „gekrochen ist“, lebt Jonathan anders. Unendlich dankbar, auf dieser Welt zu sein – und angefüllt mit einer Friedenssehnsucht, dass es schmerzt. Angesichts der Welt, die er täglich sieht. Angesichts dieser elenden Armut, die es immer noch gibt. Angesichts der Millionen Männer, Frauen und vor allem Kinder, die weltweit auf der Flucht sind. Und die in ihren Booten vor den Küsten Europas untergehen. Immer noch. Namenlos, weil unerkannt. Un-erhört.

Wir sind auf seinen Namen getauft, der sagt: Ich bin bei dir alle Tage. Vom einen bis zum anderen Ende der Welt. Das als Christenmensch in aller Konsequenz zu hören, heißt, berührbar zu bleiben, bis an die Herzhaut, wenn Leben angegriffen wird. Gegenrede zu halten, so wie eine Esther Bejarano, wenn Menschen angefeindet, niedergetrampelt, beschimpft werden. Das ist unsere gemeinsame Mission. Als Jüdin, Moslem, Buddhistin und getaufter Christenmensch: Zeitzeugen der Liebe zu sein und Gottes Gegenwart mit ins Leben zu heben. Angetrieben von der Sehnsucht nach seinem Frieden, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
11.07.2021
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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