1. Juni 2025 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst an Exaudi

01. Juni 2025 von Kirsten Fehrs

Johannes 7,37-39 und Thomas Mann: Der Zauberberg

Liebe Domgemeinde,

jedes Mal freue ich mich auf Lübeck! Auf Sie und euch hier. Eine Freude, von Hansestadt zu Hansestadt zu reisen und sofort von Lübscher Tradition in Empfang genommen zu werden – mit ihren sieben Türmen, ihrem Marzipan (denn: „Marzipan statt Naziwahn“, so heißt es wohl jüngst in vielen Lübscher Kreisen), den Buddenbrooks – die übrigens derzeit im Hamburger Ohnesorg-Theater Erfolge feiern.

Als Thomas Mann die Buddenbrooks vollendete, war er gerade 25 Jahre jung. Und wir wissen: Sein Romandebüt wird zum Skandal. Die Lübecker Gesellschaft und eigene Familienmitglieder fühlen sich erkannt und gehörig auf den Schlips getreten. Doch das Buch wird ein Welterfolg und Thomas Mann Literaturnobelpreisträger. Am 6. Juni feiern wir seinen 150. Geburtstag.

Das Schöne an solchen Jubiläen ist ja, dass man wieder auf die gelesenen, aber auch die ungelesenen Bücher gestoßen wird. Der Zauberberg etwa – 1924 erschienen – beging just seinen 100. Habe ich mir den also mit in den Sommerurlaub genommen. Nun ja. Die 1.000 Seiten sind eine wahre Sprachwucht und fordern viel Muße. Zeit. Was soll ich sagen: Ich habe noch ein paar hundert Seiten vor mir … Aber in die Sprachwelt von Thomas Mann einzutauchen, ist allemal bezaubernd. So reich an Witz, Feinheiten und erzählerischer Raffinesse, genial.

Ob Thomas Mann ein gläubiger Mensch war – er weiß es selbst nicht, gesteht er in einem Interview. Dennoch hoffen, lieben, verwundern, erschrecken, sehnen, singen und stoßbeten sich seine Romanfiguren so unerhört menschlich durchs Leben mit all seinen Bergen und Tälern und Verrücktheiten, dass Gottes Wirken oder vielfach auch die Verzweiflung über Gottes Ferne zwischen den Zeilen immer hindurchschimmert.

Gottes Sein oder Nichtsein bildet einen unüberhörbaren Subtext, den ich hochaktuell finde, nicht nur an diesem Sonntag Exaudi – der ja meint: Hinhören! Aufhorchen! Horchen auf Gottes Trost und auf Hoffnung zwischen den Zeilen unseres Lebensbuches. Aktuell inmitten all der Verrücktheiten, die wir gerade erleben. Von Zollidiotien jenseits des Atlantiks, abgründigen Machtlogiken kriegstreibender Autokraten, Rechtsbrüchen etlicher Regierungschefs, Verlust von Anstand und vernunftgesteuerten Debatten, Rechtsextremisten in unserem Land, deren Ungeist bedrückende Urständ feiert … Und also: wo ist da Trost und Hoffnung in diesen Zeiten, wo ist Gottes Nähe, sein Geist des Friedens und sein frisches Wasser, das er uns Dürstenden zum Leben gibt?

Gott nah und Gott fern – beides zugleich erleben auch die Jünger am ersten Sonntag Exaudi vor 2.000 Jahren. Gerade eben ist Jesus gen Himmel gefahren, sie spüren noch das Zauberhafte dieses Moments. Wie er sie berührt hat. Das ist nun vier Tage her. Langsam breitet sich eine eigentümliche Leere in ihnen aus. Sie sind irgendwie der Welt entrückt. Jesus-seelenallein fühlen sie sich kraftlos, verzagt. Wissen nicht so recht, was werden soll. Vom verheißenen Aufbruch – keine Spur. Kein wirbelnder Geist der Wahrheit, kein Liebesstürmen. Und Ströme lebendigen Wassers? Nichts. Still ruht der See. Noch. Noch ist nämlich kein Pfingsten. Noch ist Wartezeit. Zeitlose Zeit zwischen Abschied und Neuanfang, Sterben und Aufblühen, Trauer und Zuversicht. Eine ambivalente Gefühlslage, von der wir in diesen Tagen wahrlich auch viel wissen. So viele Gewissheiten – dahin. Hoffnungsklare Aufbrüche, die so nötig sind – noch nicht da.

Willkommen damit auch auf dem „Zauberberg“ von Thomas Mann! Mit genau dieser Stimmung des Dazwischen. Lassen Sie uns gedanklich einmal dahinreisen, liebe Geschwister, auf diesen besonderen Berg der Entrückung, in diese Wartezeit in Davos mit ihren eigenen Zeitlosigkeiten. Hinein in die Lungenheilanstalt dort auf dem Berg, die die unterschiedlichsten Weltcharaktere unter ihrem Dach vereint, damit sie gesunden. Gesunden von Fieberwahn und Egozentrik, Liebesleid, Heldentraum und Einsamkeit.

Wobei es, das kurz vorweg, unmöglich ist, diesem Mammutwerk in einer Predigt, die möglichst unter drei Stunden dauern soll, gerecht zu werden. Hat doch Thomas Mann zwölf Jahre, von 1912-1924, an seinem späten Epochenwerk geschrieben. Wobei er aus Sicht der Weimarer Republik die entscheidenden sieben Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges, der die Welt auseinanderriss, ins Bild setzt. Belasse ich es angesichts dieser Komplexität also bei einigen Gedanken zu dieser Weltliteratur, von der Thomas Mann selbst gesagt hat, dass man das Buch mehrmals lesen sollte, um seine musikalische und symphonische Architektur zu durchdringen. Einmal lesen wäre auch schon was, würde ich nach erprobtem Selbstversuch sagen …

Nun also: Der Zauberberg ist die Geschichte des 23 Jahre jungen Hamburger Ingenieurs Hans Castorp, ein früh verwaister Sohn aus gutem Hause. Vor dem Antritt einer Stelle in einer Schiffsbauwerft reist er zu seinem lungenkranken Cousin Joachim Ziemßen, der in eben dieser Heilanstalt auf dem Berge weilt. Castorp will eigentlich nur drei Wochen in Davos bleiben. Es werden sieben Jahre. Kurz vor seiner geplanten Abreise stellt man nämlich bei ihm einen Befund in der Lunge fest. So wird Castorp ebenfalls zum Patienten. Anfänglich befremdet von der um sich selbst kreisenden Morbidität des Ortes, erliegt er dann aber dem hermetischen Zauber dieses weltfernen Lebens, das mit Kriegsausbruch für ihn abrupt endet.

Da ist er dann gut 30 Jahre alt, so alt wie die Generation, die der Krieg dann nahezu auslöschte, wohl auch Castorp selbst. Sieben Jahre, in sieben Kapiteln, 52 Abschnitte. (Quersumme: 7!) Alles hochsymbolisch! Zahlenzauberei.

Und das in einer von Umbrüchen berstenden Weltenzeit (ähnlich wie heute), über die Hans Castorp in immer neuen Schleifen nachdenkt. Denn Zeit haben alle Patienten auf dem Berg mehr als genug, im Gegensatz zu den arbeitenden „Flachländern“. Die Monotonie der Tage lässt das Gefühl für Zeit völlig verschwimmen. Dort oben auf dem Berg liegen die Patienten, eingewickelt in Decken auf ihren Balkonen, oft für viele Stunden des Tages, um die Bergluft einzuatmen. Essen. Schlafen. Liegen. Spazieren. Reden. Schlafen. Liegen. Essen. Im Laufe des Romans beschleunigt sich die Zeit durch die Wiederholung des immer Gleichen, bis sie in rasendem Tempo verrinnt, der Katastrophe des Krieges entgegen.

Äußerlich passiert gar nicht viel. Es kommen Gäste, Besucher, neue Patienten; andere gehen wieder, reisen ab, oder sterben vorzeitig, friedlich erlöst oder mit Grauen. Die Tuberkulose, die Schwindsucht, um die es da als Krankheit geht, endet für viele tödlich. Der Berg kann nicht alle heilen.

Viel intensiver geht es bei Castorp in seinem Inneren zu, mit unzähligen Monologen und in Auseinandersetzung mit all den Persönlichkeiten dort auf dem Zauberberg. Sie bilden ein Panoptikum psychologischer Figuren seiner Zeit. Es sind Geistestypen, Stellvertreter, ja Repräsentanten unterschiedlicher Weltsichten. Ideologie-Verdächtige wie -Unverdächtige, Schlüsselfiguren in einem geistreichen Ensemble. Wobei unklar bleibt, wer den Geist der Wahrheit gepachtet hat.

Die Herren Settembrini, Naphta, Peeperkorn, Behrens und Frau Chauchat, eine russische Dame, in die sich Castorp verliebt, sie verhandeln restlos alle Themen der Zeit: Macht, Geist und Tyrannei, Kunst, Leben, Musik, Christentum, Judentum, Atheismus, Antisemitismus – und immer wieder: die Liebe, die Krankheit und den Tod. Ein schier unendliches Kreisen um die Fragen nach dem Grund, Ziel und Sinn des Daseins, um die Frage des Menschen nach sich selbst. Ein letztlich unausdeutbares Werk. Epochendiagnose mit hoher Satzbaukunst. Mit viel Humor und Phantastik und einer verzaubernden Sprache. Aber bisweilen auch unheimlich aktuell – wenn etwa Naphta schnarrend und kalt analytisch seine anti-humane, anti-aufklärerische und national-extremistische Gedankenwelt dem Geist der Nächstenliebe gegenüberstellt.

Und ja, wo befindet sich nun das Christentum? Auch in diesen Zeiten mit all ihren Verstörungen, Nationalismen und Menschenrechtsverletzungen? Was ist unsere Aufgabe als Kirche jetzt, in dieser Epoche? In den 20er Jahren dieses Jahrhunderts? Und ich horche auf – Exaudi! – und höre hinein in den Zauberberg. Und mir kommt in den Sinn, dass wir auch so etwas sind wie eine Heilanstalt, in der Menschen gesunden, indem sie ihr Wissen und Gewissen bilden, ja, ihr Gewissen schärfen. Und sich demütig erinnern, dass es Grundwahrheiten gibt, die universal gültig die Meinung des Einzelnen übersteigen. Universal gültig etwa das Gebot der Nächstenliebe, sie gilt nicht nur fürs eigene Land! Insofern eine Anstalt zum Heilwerden, in der sich die verschiedenen Geister und Leidwesen versammeln, in ihrer Buntheit und Schrägheit, mit allen Themen menschlicher Existenz, tragisch, bitter, leidend, und gewiss, ein bisschen verrückt. Zugleich aber, schauen wir uns um, kulturell begabt, geistvoll, politisch, musisch, klug und beseelt, stets auf der Suche nach Wahrheit. Pardon! Wahrheiten! Lebbaren und utopischen.

Ja, leben nicht auch Christenmenschen irgendwie auf einem „Zauberberg“? Verzaubert von einer Botschaft, die ins Unbedingte reicht? Verliebt in eine Idee von Humanität und Demokratie, Menschenfreundlichkeit und Frieden? Ständig auf der Suche nach tragbaren Lebensdeutungen. Mit einer Verliebtheit auch in die zauberhafte Sprache der Bibel, die uns für diesen Einen und Ewigen Augen und Ohren öffnen will? Aber auch immer in Gefahr, die Welt der „Flachländer“ aus den Augen zu verlieren, weil man sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Im jungen Hans Castorp reift viel Erkenntnis. Auch in Glaubensfragen. Die im besten Fall ja nie aufhören und mal gutgläubig, mal skeptisch zweifelnd, dann wieder rational, ein Leben lang um die Frage kreisen, wer wir sind und was Gott für uns ist, welcher Geist uns beseelt und welche Sehnsucht uns in die Arme Christi treibt.

Ein Letztes noch. In dem ganzen Buch „Der Zauberberg“ gibt es nur einen einzigen Satz, der kursiv gesetzt ist. In dem sehr mystischen 6. Kapitel „Schnee“, ziemlich am Ende des Romans, wacht Hans Castorp nach einem tiefgeistigen Traum auf. Und da erscheint als Schlüsselsatz seiner inneren Erkenntnis: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken!“

Wie treffend in diesen Zeiten mit ihren Weltverwundungen! Ein Aufbäumen des Lebens, der Menschlichkeit, der Liebe gegen den Tod. Wir haben allen Grund, den Satz heute zu verinnerlichen, ihn stark zu machen, gegen die furchtbaren Kriege und den Irrsinn in dieser Welt. Und wir haben allen Grund, vom Berg herunterzukommen ins Leben hier und jetzt, um den Geist der Weisheit, der Liebe und der Güte hoffnungsvoll in Empfang zu nehmen. Um Kraft zu bekommen für den Aufbruch der Liebe, der ansteht. Für uns persönlich, für unser Land, für die Welt. „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Aber dem Frieden Gottes, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

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