27. Juli 2026 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst zum 6. Sonntag nach Trinitatis

27. Juli 2025 von Kirsten Fehrs

1. Petrus 2, 1-10 Basis Bibel

Liebe Gemeinde,
Jauchzt alle Lande. Jauch-zet. Vielleicht blitzt jetzt bei einigen eine kleine Erinnerung auf? An meinen kenianischen Kollegen, von dem ich euch in der Weihnachtspredigt erzählte? Der war ja so schwer begeistert von diesem schönen, deutschen Wort „jauchzen“ und hat es immer wieder ausgesprochen (gar nicht so leicht für ihn). JauchZET. Seine Augen wurden dabei immer runder und schöner: JauchZet. „Da ist ein kleiner Hüpfer drin“, sagte er. „Probier´s mal.“ Habe ich dann auch gemacht, gemeinsam mit Ihnen: JauchZET. Nun? Wie wär´s als kleine Einstimmung? JauchZET! Na bitte, geht doch. Danke dafür.

Heute dreht sich nämlich alles ums „Jauchzet, frohlocket!“ Ja genau, das sind die ersten Worte des Weihnachtsoratoriums. Hören Sie nicht auch sofort die Pauken und Trompeten und den jubelnden Chor? „Auf, preiset die Tage.“ Und bevor sie sich nun um mein Oberstübchen sorgen – klar weiß ich, dass wir uns im Hochsommer befinden, nahezu 5 Monate vor Heiligabend. Also Weihnachten - Ende Juli?
Warum nicht? Wo doch Johann Sebastian Bach morgen vor 275 Jahren gestorben ist und im März 340. Geburtstag hatte. 2025, ein Bachjahr. Eine gute Gelegenheit, den genialen Komponisten und Musiker zu würdigen und ihn heute dank Johannes Unger die ganze Zeit schon zu genießen, eingangs, am Schluss und nach dieser Predigt mit der unglaublich tiefgängigen Orgelpartita zu „Christ, der du bist der helle Tag.“
Alles – Zitat Bach - „andächt´ge Musike“. Mit ihr hat Bach Zeit seines Lebens all den Schmerz der Welt, die doch gerade auch jetzt so aus den Fugen gerät, in Fugen gefügt. Musik - Fugen, Oratorien, Passionen - großartige Musik, die mit all ihren Themen und Demuts-Etuden, Zerrissenheiten und Umkehrungen einzig dies versucht: der Unordnung dieser verwundeten Welt die schöpferische Ordnung Gottes entgegenzuhalten. Den Schmerz des Lebens einzubinden in die unaufhörliche Gnadenmelodie Gottes. Bach hat diese „gnädge Gegenwart“, wie er’s einst in seine Bibel schrieb, stets geglaubt, ja in sich gehört. Hat dieses tief gegründete Vertrauen in Gott unermüdlich in Noten gesetzt, was sage ich: in hinreißende Musik. Damit die Menschen fühlen können: Christ, du bist der helle Tag, vor dir die Nacht nicht bleiben mag. Diese Nächte Bachs auch, die Trauer um seine verstorbenen Kinder, die Wut über himmelschreiende Ungerechtigkeiten, nein, „lasset das Zagen“. Christ du bist der helle Tag. Jauchzet frohlocket. Auch in der Nacht.
Wir leben weltweit in Spannungen, liebe Geschwister, die herzzerreißend und eben nicht einfach aufzulösen sind. Wir schauen mit Entsetzen auf die hungernden Kinder, Eltern, Ärzte in Gaza, auf unfassbares Leid und verletztes Menschenrecht. Sehen mit Trauer auf das Leid der von der Hamas grauenhaft gefangen genommenen Geiseln, um deren Leben die Familien seit 653 Tagen bangen. Kaum zum Aushalten das himmelschreiende Elend, das die Zivilbevölkerung im Nahen Osten, ja überall in den Kriegsgebieten erleidet – in der Ukraine, im Tschad, im Sudan, es gibt mehr Kriege denn je.
Jauchzet, frohlocket?
Ja. Auch in der Nacht. Denn Christus, der Friedefürst, ist ja in der Heiligen Nacht mitten hinein geboren in unsägliches Leid, Krieg und Gewalt. Geboren als widerständige Hoffnung, die mit ihm Hand und Fuß bekommen hat. Hoffnung, die das Herz nicht festhält im Trauermarsch, sondern über das Jetzt hinausdenkt, und zwar um die Welt zu verändern. Das war Bachs geniales Vermögen: in jeder „andächt´gen Musike die gnädge Gegenwart Gottes“ zu vertonen, betonen, sogar zu tanzen. Denn aufgerichtet werden soll der Mensch, um zu wachen und zu beten und zu handeln. Ja - wir können die schrecklichen Spannungen nicht von uns aus lösen, müssen sie mit zerrissenem Herzen aushalten, aber bitte als Friedenschristen, die die Hoffnung gerade nicht aufgeben. Als die, wie der Petrusbrief schreibt, die sagen: Aufhören! "Hört auf mit aller Bosheit und allem Betrug, mit Heuchelei, Neid und aller üblen Nachrede. So wie neugeborene Kinder nach Milch schreien, so sollt ihr, so wollen wir nach dem echten Wort verlangen.“ Echtes Wort. Gottes Wort, das in Jesus Christus, dem hellen Kind in der Krippe, auf die Welt kam. In der 3. Kantate des Weihnachtsoratoriums hört man dann ja auch die Hirten zu diesem Kind hineilen. Schnell. „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem“. Denn wir werden sonst irre ohne Zuversicht. Ohne Liebe. Ohne Schalom.

Zur Entstehung von Bachs Weihnachtsoratorium gab es vergangenen Winter einen anrührenden Film in der ARD. Nicht alles historisch belegbar, aber was macht das schon. Entscheidend ist, dass die Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, in ihrem Wollen, ihrem Schmerz, in ihrem Trotz und ihrer Verletzlichkeit so glaubwürdig sind. Zum Beispiel dieser Johann Sebastian, der den ganz großen Wurf plant für den Weihnachtsmorgen 1734, eine Uraufführung, wie sie Leipzig noch nicht gehört hat. Nicht ganz uneitel, ein bisschen größenwahnsinnig und doch zutiefst ergriffen von der Idee, Freude und Hoffnung in die Herzen seiner Zuhörerinnen hineinzumusizieren. Ganz wie es der Petrusbrief will: „Denn ihr sollt die großen Taten Gottes verkünden. Er hat euch nämlich aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen.“ Bach sagt genau dies im Film so: „Wir müssen die Menschen erschüttern - das Verstockte, Versteinerte aufbrechen. Meine Musik öffnet ihre Herzen.“ Aus finsterer Verzweiflung und Sorge ins Licht. Aus Verstockten und Versteinerten sollen lebendige Menschen werden. Lebendige Steine, sagt Petrus, in denen der Geist Gottes wirkt. Begeisterte, die sich durch Jesus Christus, den Stein des Anstoßes schlechthin, in Bewegung bringen lassen. Die aus ihrer Versteinerung erwachen und merken, wie hartherzig sie gewesen sind. Nölig. Ungerecht. Nun aber sich bewusstwerden, wie dankbar wir sein können für unser kostbares Leben. Dass wir eben Friedenschristen sein können und sollen – barmherzig, aufrichtig, liebevoll. Als Rolling Stones der „gnädgen Musike“.

Ob Bach sich manchmal selbst als Stein des Anstoßes sah wie Jesus? Möglich. Auf jeden Fall hatte er eine Mission: Musik zu schaffen, die den Menschen zu Herzen geht und er-hebt, über sich selbst hinaus, hin zu Gott. Und: Wie die Gemeinde, an die Petrus schreibt, nahmen in Leipzig tatsächlich wohl manche Anstoß an Bachs hochfliegenden Plänen. Historisch belegt ist ein nervtötender Dauerkonflikt mit dem Leipziger Stadtrat. Der wollte, dass Bach vertragsgemäß „keine opernhaften Kantaten, sondern Lieder zum Mitsingen für die Gemeinde“ komponieren sollte. Und dem Superintendenten war´s ein Dorn im Auge, dass Bachs eitle Musik die Predigt ja nur in den Schatten stellen wolle. (Fragt sich, wer da nun wirklich eitel war).
Kurzum: Der Magistrat verbietet Bach das Oratorium zum Weihnachtsfest. Doch der komponiert weiter, trotzig, widerständig, getrieben. Die Zeit ist knapp, die ganze Familie muss ran, überall in der Wohnung hängen die tintenfrischen Notenblätter an Wäscheleinen. Ohne die diplomatischen Fähigkeiten seiner Frau Anna-Magdalena, ohne die Versöhnung mit seinem zweitältesten Sohn Carl Philipp Emmanuel wäre alles zum Scheitern verurteilt gewesen. Mitten in all der dramatischen Hektik trägt Gottfried, der jüngste Sohn, der damals als „schwachsinnig“ gilt und verstummt ist, völlig überraschend mit seiner wunderschönen Stimme zur Rettung des Projektes Weihnachtsoratorium in letzter Sekunde bei.

Denn dieses Kind singt! Ich sag euch, wie ein kleiner, schüchterner Engel. Es singt all die Eitelkeit, all das Böse ins Nichts. Singt hingebungsvoll die Musik seines Vaters, die über die Abgründe der Welt, die Abgründe des Menschseins hinweghebt. Weil diese Musik in ihrer wohltuenden Distanz einen anderen, barmherzigen Blick auf unser Leben ermöglicht. Und auf einmal ist sie auszuhalten, diese Spannung von Jauchzen und Seufzen, von Majestät und Zartheit, von Größe und Stille, von tobender Welt und Gottes Asyl. Und deshalb ist es so wichtig, sich als Kontrapunkt zu unserem sorgenvollen Alltag von solch einer Musik unterbrechen zu lassen. Und zwar genau auch in solchen Kathedralen und Domen wie diesen hier. In Urlauben. Wenn man etwa im „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier es so liest:
„Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.“1

Wunderbar ausgedrückt, oder? Was wären wir ohne unseren Dom, ohne das Licht der Fenster, ohne das helle Wort der Bibel. Und klar, was wären wir ohne Bach?? Am Schluss des Films übrigens, nach unzähligen Hürden, wird das Weihnachtsoratorium tatsächlich am ersten Weihnachtsfeiertag 1734 um 7 Uhr morgens in der Thomaskirche uraufgeführt. Als das „Jauchzet, frohlocket“ erklingt, die Trompeten und Pauken, die Stimmen des Chores, lauscht die Gemeinde verzückt und sogar in den Augen des mürrischen Stadtrats glitzern Tränen. Da hält es den kleinen Gottfried nicht mehr auf der Bank. Selbstvergessen, geradezu entrückt, tanzt er im Mittelgang im Takt der Musik. Glücklich. Selig - wiegt er sich fast schwerelos, wie zwischen Himmel und Erde, ein Sinnbild des erlösten Menschen. Die großen Taten Gottes, sie bekommen Hand und Fuß eines Kindes. Also: Jauchzet, frohlocket, liebe Geschwister! Er hat uns aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen.“ Und Bach respektive Johannes Unger sekundiert dazu gleich fast 10 Minuten: Christ, du bist der helle Tag, vor dir die Nacht nicht bleiben mag.

Ich wünsche Ihnen einen wunderschön hellen, segensreichen Sommer - lebensfroh, leicht, licht. Mit Musik und Himmelsweite, Erdbeereis und Sinnenfreuden. Getragen vom Frieden Gottes, höher als alle Vernunft. Der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unsere Gnadensonne. Amen

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1Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, S. 198 f.

 

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