25. Dezember 2025 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst zum Christfest

25. Dezember 2025 von Kirsten Fehrs

Titus 3,4-7

Liebe Weihnachtsfestgemeinde,

in Dithmarschen, wo ich aufgewachsen bin, und überhaupt im Norden, gibt es einen wunderschönen Brauch: das Kindkieken. Wenn ein Baby auf die Welt gekommen ist, kommt das ganze Dorf, um das Neugeborene zu begrüßen und den Eltern zu gratulieren. Da stehen sie dann alle um das verknauschte kleine Wesen mit den unabgelaufenen Füßen und den winzigen Fingernägeln und bekommen den Mund kaum zu, vor lauter Ohs und Achs.

„Ach Gott, wat för ne seute Popp.“ und „Ach, wie goldig!“ und „Heel de Vadder!“ – ganz der Vater, wahlweise, „Nipp un nau de Moder!“ – genau die Mutter. Man guckt und lächelt, spricht leise mit Respekt und Bewunderung und geht nach einer Weile selig ob dieses kleinen, neuen Wunders wieder nach Hause. Beschenkt vom Zauber des neuen Anfangs. Beschenkt mit dem Erdenglück eines unglaublich verletzlichen und schutzbedürftigen Lebens. Beschenkt mit – Weihnachten im Alltag.

Denn klar, Weihnachten ist ein Geburtsfest, das größte Wunder aller Wunder, bei dem Gott selbst ein wehrloses Menschlein wird. Aus unendlicher Liebe zu uns Menschen in diese verwundete Welt hineingeschenkt, dass diese Welt und wir darin niemals mehr gottverlassen sind! Kein Wunder, dass die Hirten damals eilten, wir hörten es eben so wunderschön. Schnell, schnell eilten sie, um dieses Kind zu kieken!

Beeilen nun müssen wir uns heute nicht; zum Glück hat Weihnachten ja mindestens eine Nachspielzeit bis zum 6. Januar. Wir müssen heute nur in der Kirchenbank sitzen und uns beschenken lassen. Zum Beispiel von Worten aus dem Titusbrief, in dem Paulus schreibt: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben seien nach der Hoffnung auf ewiges Leben.“

66 Worte ohne Punkt, aber mit vielen Kommata. Ein Hymnus ist das, der beim ersten Hören gar nicht so leicht zu erfassen ist. Aber schön ist er. Als hätte man ein Gedicht gehört, fein komponiert mit herzwarmen Worten, die über uns „ausgegossen“ werden: Menschenliebe, Seligkeit und Gnade, Barmherzigkeit und ewiges Leben. Eine Fülle von Worten, die eines versprechen: Es kommt etwas Schönes über dich. Du musst gar nichts tun. Freundlichkeit, Liebe, der Zauber des neuen Anfangs, all das wird dir geschenkt. Zu Weihnachten wird uns das zugemutet, liebe Geschwister. Einfach in Empfang sollen wir‘s nehmen. Mit leeren Händen. Sich beschenken lassen.

Überhaupt mal etwas lassen und zulassen – keine leichte Übung heutzutage. Unsere Zeit schätzt die Aktiven. Die ihr Leben in die Hand nehmen. Die alles unter Kontrolle haben. Die autonom sind. Bloß keinem zur Last fallen – wie viele ältere Menschen seufzen das leider heutzutage. Weil dieses Aufeinander-Angewiesensein vermeintlich Hilflosigkeit bedeutet. Was es letztlich nicht trifft: Sich einlassen können auf andere, kann vielmehr ein großes Glück der Gegenseitigkeit sein!

Und zugleich will ich ehrlich zugestehen: Lassen können fällt mir auch schwer. Weil ich sehe, dass so viel zu tun ist und zu beschicken. Ich fühle die Verantwortung. Aber Weihnachten, liebe Geschwister, Weihnachten lässt uns Pause machen vom Machen. Es will uns beschenken, ohne dass wir uns schämen, weil wir auf das Geschenk mal nichts erwidern können, außer danke zu sagen und uns zu freuen. „Als nämlich erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, machte er uns selig, nicht um der Werke willen, sondern nach seiner Barmherzigkeit.“

Uns wird so viel Barmherzigkeit geschenkt mit dem Krippenkind in diesen rauen Zeiten. Und also machen wir jetzt mal nichts weiter, als dieses wunderschöne Geschenk, dieses Kind zu kieken. Und zu merken, wie es uns anstrahlt. Kennen Sie bestimmt. Denn Babys strahlen ungefähr ab ihrem dritten Lebensmonat jeden Menschen so an, dass jeder zurücklacht – vielleicht mal abgesehen von Großmuffeln. Da wird nämlich etwas in den Tiefenschichten unseres Menschseins aktiviert. Eine Erinnerung, dass die Menschen im tiefsten Kern freundliche Wesen sind, die wiederum auf Freundlichkeit angewiesen sind. Von Anfang an. Schon das Baby lächelt in gewisser Weise strategisch, weil es ohne deine Freundlichkeit, ohne die Zuwendung und die Umsorgung seiner Umgebung nicht überleben könnte.

Und bleibt das nicht eigentlich das ganze Leben so? Auch Erwachsene können ohne freundliche Menschen in ihrem Umfeld schwerlich leben. Oder arbeiten. Jeder Mensch braucht Aufmerksamkeit und Liebe, Achtung. Und obwohl das so ist, hat die Freundlichkeit in unserer Gesellschaft derzeit kein allzu hohes Ansehen. Zumindest könnte der Eindruck entstehen, dass die Tugend unserer Zeit in dauernder Kritik besteht, die leider schnell in Verachtung abrutscht. Da wird niedergemacht und gepöbelt, was das Zeug hält, da wird gelogen und verleumdet, dass sich die Balken biegen. Da wird polarisiert und gehetzt, dass es eine Qual ist.

Freundlichkeit steht wahrlich nicht hoch im öffentlichen Kurs. Weil freundliche Menschen als schwach gelten, was sie gerade nicht sind, weit gefehlt. Freundliche Menschen setzen nur ihre eigenen Interessen nicht um jeden Preis durch. Freundlich sein heißt: Ich möchte nicht nur, dass es mir gut geht, sondern auch den anderen. Freundlichkeit ist wohlwollend – ein schönes altes Wort. Wohl-wollend – das Wohl der anderen wollen. Freundliche Menschen wollen erfassen, was ein anderer braucht. Manchmal spüren sie es, oft fragen sie einfach nach. Was willst du, dass ich dir tue?

Das ist die Frage Jesu im Umgang mit seinen Mitmenschen. Verbunden ist das mit dem Vertrauen, dass dem anderen ein freundlicher Kern innewohnt, selbst wenn der sich nervtötend oder frech oder sonstwie danebenbenimmt. Der freundliche Mensch versucht, sich dieses Verhalten zu erklären. Wild entschlossen, mit den Spleens, Torheiten und Ängsten der anderen einigermaßen entspannt umzugehen und neben aller Schwäche die Stärken des anderen nie aus dem Blick zu verlieren. Ich denke, so könnte man beschreiben, was es heißt, Menschen zu lieben. Auch in der schönen Selbsterkenntnis, dass man selbst sicher auch nicht frei ist von Schwächen, Spleens, Torheiten und Ängsten und das Wohlwollen der anderen bisweilen dringend nötig hat.

Und dies vielleicht auch besonders an Weihnachten? Weil man da irgendwie dünnhäutiger ist, für die Schönheiten, aber auch für das Verstörende und Unfriedliche. Nicht zuletzt liegt dies ja beides auch in der Weihnachtsgeschichte – das Wunder in der Krippe, aber in einem kalten Stall. Prekäre Kindheit, Flucht, Gewalt, Jesus bleibt wahrlich nichts erspart. Und dennoch sind wir Erben der Hoffnung, wie Paulus sagt. Stopp: nicht dennoch. Deshalb! Deshalb sind wir Erben der Hoffnung! Weil dieser menschenfreundliche Gott nicht nur unsere hellen Stunden teilt, sondern auch die Dunkelheiten, Nöte und Gefahren.

Erben zu sein der Menschenfreundlichkeit, das ist meine große Weihnachtshoffnung für diese Zeit, liebe Geschwister. In der wir doch alle nichts mehr ersehnen, als dass Frieden wird und diese elende Gewalt an viel zu vielen Orten der Welt aufhört. Die Kinder, Frauen und Männer – sie leiden furchtbar in all den Kriegsgebieten, in der Ukraine, Südsudan, Haiti, Georgien, Irak … Es nimmt kein Ende. Ehrlicherweise bleibt unser konkreter Einfluss auf die großen Konflikte und Kriege dieser Welt überschaubar, oft verbunden mit dem Gefühl der Ohnmacht. Was bleibt, ist, auf die Kraft des Gebets und der Fürbitte zu vertrauen, jedes mitfühlende Gedenken nämlich macht einen Unterschied. Weil man sich eben genau nicht abfinden will mit Not und Tod. Und das, weil ein kleiner Friedefürst geboren wurde, der uns in den Friedensdienst ruft. Weil dieses Gotteskind der Ohnmacht die Macht genommen hat.

Deshalb sind wir Erben seiner Menschenfreundlichkeit – und so ersehne und erhoffe ich, dass das „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“, dass dieser Engelgesang einen anderen Ton einträgt in unsere derzeit so aufgerüstete Sprache. Friedenstüchtigkeit, die brauchen wir jetzt in unserem Land. Und die wiederum braucht die Freundlichkeit. Sie ist die kleine Schwester des Friedens. Und andersherum: Der Frieden, das ist die Freundlichkeit im großen Stil. Und der Frieden ist bekanntlich mit der Gerechtigkeit verheiratet. Weswegen nur Friede ist, wenn alle Menschen ihre Mieten bezahlen können und Alleinerziehende nicht für ihre Kinder hungern müssen, wenn Geflüchtete menschenwürdig unterkommen und Kranke auch auf dem Land noch einen Arzt finden.

Ja, da muss Menschenliebe konkret werden und sie braucht neben guten Worten auch handfeste Taten. Es braucht friedenstüchtige Menschen, die allein und gemeinsam mit anderen, privat oder beruflich tun, was möglich ist. Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe gebieten es, die Rechte und die Würde der Schwächeren zu verteidigen, gerade wenn wir jetzt so viele Ressourcen in Aufrüstung und Wettbewerbsfähigkeit stecken (müssen).

Aber auch dies gilt, selbst wenn die Bühne der Weltpolitik und all die schlechten Nachrichten anderes befürchten lassen: Es gibt sehr viele sehr freundliche Menschen. Wir brauchen uns hier nur umzuschauen. Nach rechts, links, hinten, vorn. Vielleicht mal ein Lächeln wagen? Und sogar zurücklächeln? Auch weil es doch gar nicht so selbstverständlich ist, dass wir hier in Frieden sitzen und gemeinsam feiern! Ja, dass es doch vielmehr ein Geschenk ist, diese Gemeinschaft und dass es so tolle Musizierende gibt, die uns ihr Können und ihre Stimmen schenken – und, wenn ich schon dabei bin, dass es Pastoren und Küster und Ehrenamtliche gibt und Sie und Sie und dich auch, die Sie allesamt je ein riesengroßes Geschenk in dieser Welt sind. Als Mensch!

Als Mensch, von Gott von allem Anfang freundlich angeschaut und mit einer unverlierbaren Würde gesegnet. Keiner darf sie je antasten. Nein: Du Mensch, du bist ein Geschenk. Sich dies bewusst zu machen, im Herzen mit nach Hause zu nehmen und sich dies weihnachtlich rote Band hinzulegen, an den Kühlschrank zu kleben, was weiß ich – darum gibt es diese Bänder, die Sie am Ausgang mitnehmen können. Ein Band für sich selbst – und eines für jemanden anderen, dem Sie vielleicht schon lange mal sagen wollten: Mensch, du bist ein solches Geschenk in meinem Leben!

So mögen Sie denn heute ein bisschen selig nach Hause gehen, weil es so schön war, das Kindkieken. So schön dieses Kind, zu Bethlehem geboren. Ein Glückgeschenk für unser ganzes Leben. Ich wünsche Ihnen von Herzen gesegnete, selige Weihnachten. Amen.

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