25. Mai 2025 | St. Marien zu Lübeck

Gottesdienst zum Sonntag Rogate im Rahmen der Veranstaltungsreiche „Erinnern ist Verantwortung“

25. Mai 2025 von Kirsten Fehrs

Joh. 16, 23b-28; 33

Liebe Gemeinde,

Ramazan Avcı wartet mit seinem Bruder Veli und einem Freund auf den Bus, als Skinheads auf sie zustürmen. Sein Bruder und der Freund retten sich in einen Linienbus. Ramazan Avcı läuft auf die Fahrbahn. Ein Auto erfasst ihn und schleudert ihn zu Boden. Die Skinheads schlagen und treten auf ihn ein und brechen ihm Schädel, Becken und Beine. Trotz mehrerer Notoperationen erwacht er nicht mehr aus dem Koma. Er stirbt drei Tage später, mit 26 Jahren.
Eine Geschichte, die einem das Herz zerreißt. Eine Geschichte von vielen. Von zu vielen. Brandanschläge, Überfälle, Morde. Trauer, Entsetzen und Ohnmacht. Die Ausstellungen hier im Kirchenschiff erzählen von den Opfern rechtsextremer Gewalt, den Taten, den Folgen - und von dem Verschwörungsirrsinn der Täter, die andere deshalb terrorisieren, weil sie nicht in ihr Weltbild passen.
Es gibt auch andere Extremisten und Gewalttäter, die Menschen bedrohen und umbringen. Keine Frage. Und doch ist es gut und wichtig, dass achtzig Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in diesen Wochen ein besonderes Augenmerk auf rechtsextremer Gewalt liegt. „Erinnern ist Verantwortung“ heißt die Veranstaltungsreihe, zu der auch dieser Gottesdienst heute gehört. Das sagt: Erinnern ist nicht rückwärtsgewandt. Nach dem Motto: Ach, damals! Als deutsche Männer und Frauen völkisch- nationalistisch verirrt Millionen Menschen brutal eingeschüchtert, verfolgt und ermordet haben. Lange her!
Nein, erinnern heißt, vor dem Hintergrund dieser Vergangenheit das Hier und Jetzt in den Blick zu nehmen. Und festzustellen, dass es 1945 keine Stunde null gab, in der alle, wie von Zauberhand vom nationalsozialistischen Gift der Menschenverachtung befreit wurden. Die Ausstellung mit dem Titel „Rechte Gewalt in Hamburg nach 1945“ zeigt eindrücklich, wie rechtsextremes Denken immer weitergelebt hat, wie rechte Netzwerke kontinuierlich bestanden und ausgebaut wurden. Nicht nur in Hamburg. Oder Lübeck – wer erinnern den Anschlag auf die Synagoge. Auch NSU steht dafür und Hanau – jüngst bewegte das fünfjährige Gedenken an die Opfer die Nation. Die Situation, vor der wir heute stehen, kommt keineswegs aus dem Nichts. Nein, die Verachtung für Menschen, die anders aussehen, anders denken, anders glauben, anders lieben, zieht sich durch unsere Geschichte bis heute. Eine blutige Spur der Gewalt mit vielen Opfern. In München oder Mannheim, Mölln, Rostock oder Kassel und eben: Hanau. Überall in unserem Land.
Und ja, die Gewalt auf der Straße hat geistige Brandstifter. Sie sitzen an ihren Computern und in unseren Parlamenten und schüren den Hass. Jeder kann zum Opfer ihrer Hetze werden. Besonders Menschen, die nicht weiß, männlich, gesund und stark sind. Viele haben Angst. Große Angst. Und verkriechen sich. Machen sich unsichtbar im Straßenbild. Tragen keine Kippa. Sind auf der Hut. So ist das nicht nur in Chemnitz oder Görlitz, sondern auch hier in Lübeck, im Jahr 2025. „Die Angst verfolgt uns bis heute“, heißt nicht zufällig die zweite Ausstellung hier im Seitenschiff.

„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Diesen Satz hörten wir gerade in der Abschiedsrede Jesu, es ist eine Art Testament. Der erste Halbsatz: eine Feststellung. In der Welt habt ihr Angst. Nicht nur die akut von Hass und Gewalt Bedrohten haben Angst. Angst haben wir alle. Vor allem Möglichen. Denn wir sind Menschen und sind deshalb verwundbar. Verletzlich. Niemand aber will verletzt werden. Niemand will körperliche oder seelische Schmerzen erleiden. Es ist zutiefst menschlich zu vermeiden, dass einen jemand beschimpft, bedroht oder angreift. Und die Angst davor lässt einen schnell erstarren. Oder fliehen. Darauf basiert ja die Macht der Gewalttäter. Sie nutzen die Angst, die mit der menschlichen Verwundbarkeit einhergeht. Sie setzten darauf, dass es oft schon reicht, Gewalt anzudrohen, um Menschen einzuschüchtern. Dabei inszenieren sie sich selbst als stark, angstfrei und unverletzlich. Was für eine Selbsttäuschung. Allerdings notwendig, um alle Berührbaren und Verwundbaren zu verachten.
Aber seid getrost, hält Jesus gegen.
Worin genau liegt der Trost, der hilft, die Angst zu überwinden? Wie kann aus Angst Mut werden? Auch der Mut, aufzustehen und sich zu wehren? Und der Mut, anderen beizustehen, die angegriffen werden?
Rogate. Betet. Hilft das? Rogate ist der 5. Sonntag nach Ostern, dieser Hoffnungshorizont ist wichtig. Denn Ostern ist das stärkste Statement gegen den ängstlichen Rückzug vor der Gewalt. Die Geschichte vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi sagt: Gott schafft nicht eine äußerst fragile und verletzliche Welt – und überlässt sie dann sich selbst. Gott kommt in diese Welt, wird Mensch und macht sich aus freien Stücken verwundbar. Gott selbst wird in Jesus Christus verwundet, gefoltert, ermordet. Diese Verwundbarkeit, das ist die eigentliche Stärke unseres Glaubens. Es ist die eigentliche Stärke Gottes, der eben nicht in Siegerpose überlegen sein muss. Sondern einfach nur – Mensch.
„Seid Menschen“, so appellierte die am 9. Mai verstorbene Holocaust-Überlebende Marion Friedländer stets. Eine sehr beeindruckende Frau. Ihre Statements haben auch etwas von einem Testament. Gerade wenn sie sie an Jugendliche und Kinder gerichtet hat. Voller Zugewandtheit übrigens. Und ohne irgendeine Bitterkeit. „Seid Menschen – das ist es, was ich euch mitgebe. Wer Mensch ist, macht nicht das, was damals geschehen ist. Seid menschlich, habt Respekt. …Es gibt ja kein christliches, kein jüdisches, kein muslimisches Blut, es gibt nur menschliches Blut. Alle Menschen sind gleich.“
Und also: Sei Mensch, wie Gott auch. Gott, der sich schützend vor jedes Leben stellt. Jesus hat das mit einer aufrechten Bedingungslosigkeit getan, hat Position bezogen in Fragen, die religiös und politisch umstritten waren – und eigentlich bis heute sind. Dass etwa Nächstenliebe universal gilt, nicht nur im eigenen Land; dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde besitzt – heilig ist sie und unantastbar. Dass der Verfolgte ein Recht auf Asyl und die Armen das Recht auf Brot und Obdach haben. Seit 2000 Jahren sind das christliche Positionen, die niemals unpolitisch waren und gar nicht sein können. Jesus hat sich damit auch ungeschützt, verwundbar gemacht. Alles, weil er die Menschen liebt. „Mein Gott“, hat ein Theologe gesagt, „ist der verwundete Gott.“
Seid Mensch - und geht damit das Wagnis der Verwundbarkeit ein, so könnte man die Abschiedsrede Jesu auf den Punkt bringen. Habt wie Gott eine Schwäche für die Menschen, habt eine Schwäche füreinander, besonders für die Armen, Bedrängten und Verwundeten, für die, die jetzt Angst haben. Seid dabei getrost, denn er hat die Welt der Angst ja überwunden.
ER hat die Welt überwunden, mit unerschütterlicher Liebe, die eben nicht totzukriegen ist. Das ist die Macht der Ostern. Dieser tiefe Glaube, höher als alle Vernunft: Liebe hat als einzige die Kraft, den Hass in der Welt zu überwinden. Deshalb, liebe Geschwister: Aufstehen, sichtbar sein, nicht zurückziehen - zeigt, dass die Liebe die eigentliche Macht ist in dieser Welt! Gerade angesichts der Autokraten unserer Tage: Aufmerken, aufrichten und den Hetzern entgegenhalten: Unsere Angst bekommt ihr nicht. Aber unsere ungebrochene Hoffnung. Unser unbeirrtes Festhalten am Grundgesetz des Lebens. Die Würde ist unantastbar! Die, die das fast auf den Tag genau vor 76 Jahren schrieben, wussten wahrlich, warum. Und das sollten wir doch gerade in diesem Land ein für alle Mal gelernt haben! Erinnerung heißt Verantwortung.

In den vergangenen Wochen gab es viele denkwürdige Tage, bei denen ich dabei sein durfte. Die Konstituierung des Bundestages, bei der die AfD von Anfang an den Ton des Hasses und der Abwertung setzte, erschreckend, in diesem ehrenwerten Haus! Der 8. Mai – wo in bewegender Weise die Erinnerung an übergroße Schuld und der Dank für eine versöhnte Friedenszeit in Europa sich die Hand reichten. Alle haben gespürt: Es geht jetzt um viel. Die wachsende rechtsextreme Einschüchterung und Gewalt in Worten und Taten beunruhigt zutiefst. Aber es gibt eben auch viele, die den Rücken für unsere Demokratie gerade machen. Hoffnungsvoll viele, die sich nicht ängstigen lassen. Die sich zusammentun und sich mitziehen lassen von der österlichen Hoffnungskraft. Sie organisieren Ausstellungen wie diese hier, koordinieren in der Stadtgesellschaft Hilfe für Opfer und initiieren Bildung – Bildung, liebe Geschwister, denn zu wenige wissen inzwischen von der Geschichte unseres Landes. Für all diese Engagierten bin ich zutiefst dankbar. Sie alle geben der Menschwerdung Gottes ein glaubwürdiges Gesicht. Stark. Mutig. Beherzt.
Beherzt Mensch sein - das lässt sich nicht delegieren. Alle sind wir gefordert, dem Gift des rechtsextremen Gedankenguts entgegenzutreten. Und da gehört es zur Wahrheit dazu, dass auch die eigene Seele bisweilen verführbar ist. Niemand ist frei von Überheblichkeit, Vorurteilen und ausgrenzenden Gedanken. Es sind nicht immer nur die anderen, die Böses denken. Wie gut, dass der heutige Sonntag an ein bewährtes Gegengift erinnert: Rogate. Betet.
Beten hilft. Zur Demut. Es hilft, sich klarzumachen: Ich bin nur ein winzig kleiner Teil des großen Ganzen. Und mir wird eine Menge im Leben geschenkt. Wer betet, dankt und denkt. Findet sich deshalb nicht ab mit Unrecht, Krieg und Menschenrechtsverletzung. Wer betet, will die Welt zu einem besseren Ort machen. Denn, so schrieb es mal Albert Schweitzer: Beten verändert die Menschen und Menschen verändern die Welt.
Ja, ich bete – und wünschte mir so sehr ein Land, in dem keine Frau hochschwanger am Grab ihres Verlobten stehen muss, in dem niemand Angst haben muss, an einer Bushaltestelle zu warten, in dem niemand Angst haben muss, weil er so ist, wie er ist. Ich bete - und wünsche mir so sehr eine Gesellschaft, in der wir wieder mehr miteinander reden, gerade auch mit denen, deren Meinung wir nicht teilen. Schlicht, um Angst voreinander abzubauen. Ich bete – und wünsche mir Menschen, die sich einsetzen für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat, der die Menschenrechte schützt. Jeder, da wo er lebt und arbeitet. Jede, so wie sie kann. Damit die Gewalt nie das letzte Wort hat. Sondern die Liebe.

Zehn Tage nach dem Tod von Ramazan Avci brachte seine Verlobte ihren gemeinsamen Sohn zur Welt. Sie gab ihm den Namen seines Vaters: Ramazan. Er hat seinen Vater nie gesehen. Für den Vater des Kindes schrieb die Mutter ein Gedicht:
»Ich habe meine Jugend nicht leben können,
habe mein Kind nicht gesehen.
Der vom Fremdenhass ermordet wurde:
Ramazan Avcı.“
Erinnern heißt Verantwortung.
Amen

 

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