24. Dezember 2025 | Hauptkirche St. Michaelis

Gottesdienst zur Christnacht

24. Dezember 2025 von Kirsten Fehrs

Lukas 2

Liebe Christnacht-Gemeinde,

wenn es einen Ort gibt, wo das Wunder zuhause ist, dann im Miniaturwunderland. Da kommt das Kleine groß raus. Waren Sie schon einmal dort? Großartig, oder, dass man da durchweg in glückliche Gesichter sieht? Staunend, mit roten Wangen und glänzenden Augen stehen Große wie Kleine vor den Miniatur-Schönheiten der Welt. Verschneites Skandinavien mit verliebten Elchen, sonniges Venedig mit hellen Plätzen, eine Frau, die dem Obdachlosen am Hauptbahnhof Frühstück hinstellt. Alles unerhört gutherzig, sagenhaft freundlich und millimeter-detailgenau – und gerade deshalb ganz großes Kino. Bei dem man genau hingucken muss, um die Wunder zu entdecken. Durchhetzen geht nicht. Allemal bei dem Weihnachtswunder. Da muss man einfach stehen bleiben, weil das Jesuskind so unglaublich klein ist in seiner winzigen Krippe. Und man erlebt tatsächlich, was wir eben gesungen haben: Ich steh an deiner Krippe hier und kann mich nicht sattsehen …

In Bethlehem, wo diese Krippe einst stand, war ich vor einiger Zeit. Auch das ist ein unglaublich kleiner Ort, nicht einmal zwei mal zwei Meter misst der Krippenplatz Gottes. Inmitten von Not und Elend, Krieg und Gewalt – damals und heute ja auch – ein kleiner Ort der Seligkeit. Dort geschah das Wunder aller Wunder: Unser großer Gott wurde Gott gerneklein. Wurde ein kleines Kind, ein Friedensbringer, damit die verwundete Welt in ihrer Traurigkeit und Kriegsnot bitte nicht allein bleibt, sondern Trost und Liebe die Menschen erreicht. So dass sie wieder Mut fassen. Froh werden. Friedliebend. Ja, friedenstüchtig!  

Und deshalb wird genau dort, wo im Krippenkind der Frieden das Licht der Welt erblickte, jedes Jahr von einem Kind das Friedenslicht in Bethlehem entzündet, um es in die Welt zu tragen. Zehntausende von Pfadis weltweit tragen es weiter. Eben gerade ist es im Michel angekommen. Das Friedenslicht bleibt ein unauslöschliches Zeichen des Widerstands gegen Krieg, Gewalt und Dunkelheit. Jedes noch so kleine Licht macht einen Unterschied. Und Kinder sind die Friedensbringer – und mit dem kleinen Heiland fing alles an. Die Würde der Kleinen. Wahrlich ein Wunder, dass in der winzigen Krippe die größte Zeitenwende der Menschheit begann!

Wunderbar übrigens auch, dass Johann Sebastian Bach einst beschlossen hat, diesem Zauber des Anfangs die schönste Musik überhaupt zu schenken. Und dies nicht nur mit „Ich steh an deiner Krippen hier“. Nein, damit die Menschen froh werden und sich gar nicht satthören können – und rote Wangen bekommen und glänzende Ohren – hat er gleich ein ganzes Weihnachtsoratorium komponiert. Sie wissen schon: „Jauchzet, frohlocket“ [Chor]

Jauchzet, frohlocket. Zehntausend haben es dieses Jahr schon im Michel gehört. Toll, oder, wie man sofort gute Laune bekommt, ein bisschen selig wird und all die Sorgen und Pflichtenhefte einfach mal beiseitelegt? Aufatmen, liebe Geschwister. Jetzt ist die Weihnachtsfreude dran! Jauchzet frohlocket. Lebensfreude ist nämlich nicht nur etwas wunderbar Leichtes. Ihr wohnt auch ein Hoffnungstrotz inne, sich von den vielen Schrecknissen der Welt nicht unterkriegen zu lassen. Der Terror derer, die, wie in Sydney, gezielt fröhliche und tanzende Menschen töten, um Angst zu schüren, der darf uns nicht zaghaft machen. Im Gegenteil, jetzt mit den Engeln einstimmen: Fürchtet euch nicht. Uns ist ein Kind geboren, ein jüdisches Kind! Mit Hoffnungstrotz, Leute, gerade machen. Jauchzet.

Bach übrigens war‘s nicht so zum Jauchzen zumute. Der hatte für sein Weihnachtsoratorium ordentlich kämpfen müssen. Man kann das sehen in einem der schönsten neueren Weihnachtsfilme: „Bach, das Weihnachtswunder“ Bestimmt keine Miniatur, aber trotzdem ganz großes Kino! Historisch zwar nicht immer korrekt, aber egal. Entscheidend ist, dass all die Menschen darin so nahbar sind mit ihren Widersprüchen, großen Ideen und kleinen Eitelkeiten. Zum Beispiel Johann Sebastian selbst, der den ganz großen Wurf plant für den Weihnachtsmorgen 1734, eine Uraufführung, wie sie Leipzig noch nicht gehört hat. Ein bisschen größenwahnsinnig und doch zutiefst ergriffen ist er von der Idee, Freude und Hoffnung in die Herzen der Menschen hineinzumusizieren. „Wir müssen die Menschen erschüttern“, sagt der Komponist „das Verstockte, Versteinerte aufbrechen. Meine Musik öffnet ihre Herzen.“

Mit Pauken und Trompeten die Lieblosigkeit erschüttern – die Ansage gefällt mir. Geht einem der immer rauere Ton in unserer Gesellschaft doch zunehmend auf den Zimtkeks. Kritik mutiert zu empörter Verachtung und in den sogenannten sozialen Medien werden Andersdenkende mit Hass und Häme überschüttet. Nein, den lebensfreundlichen Ton setzen. Dem Wunder die Hand hinhalten. Bach wollte das. Wollte, dass die Verstockten und Versteinerten wieder Mensch werden. Wie Gott selbst. Mensch werden, ein Mensch, der fühlt und mitfühlt, sich berühren lässt vom Zauber der Weihnacht. Der sensibel ist für die Verletzlichkeit und einsteht für die Menschenwürde aller Menschen. Der Dankbarkeit empfindet für all die Miniaturen von Glück, ja, von Wundern, die uns geschenkt werden. Wir müssen nur genau genug hinschauen.

Jauchzet, frohlocket – Bach hat es komponiert, weil so viele seiner Zeitgenossen freudlos, ängstlich, unzufrieden und hoffnungsarm durchs Leben schlurften. Und heute? Wie wird es Weihnachten in diesen rauen Zeiten? So richtig, meine ich, dass der Ruf des Engels wirklich dein Innerstes berührt mit seinem „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude.“ Wie springt diese Freude über? Nicht nur als Gedanke, sondern körperlich spürbar? Dass es vergnügt hochperlt wie Prosecco, verstehen Sie? Wenn‘s uns ergreift, dieses „O wie lacht“, und uns ein bisschen verliebt sein lässt wie die Elche im Schnee, auf jeden Fall selig. Na? Jauchzt es schon, und frohlockt?

In Leipzig damals nahm man übrigens Anstoß an den schwärmerischen Ideen des Herrn Bach. Er solle lieber Gemeindelieder zum Mitsingen komponieren, hat er auch brav getan. „Ich steh an deiner Krippen hier“ ist eines davon. Und überhaupt sei es wichtiger auf die Predigt zu lauschen als Musik zu hören. (Da enthalte ich mich lieber eines Kommentares.) Kurzum: Der Magistrat verbietet Bach das Oratorium. Doch der komponiert weiter, trotzig, widerständig, getrieben. Die Zeit ist knapp, die ganze Familie muss ran, überall in der Wohnung hängen tintenfrische Notenblätter an Wäscheleinen. Mitten in all der dramatischen Hektik, der Kipppunkt steht kurz bevor, rettet ausgerechnet Gottfried das Projekt. Der jüngste Sohn, ein stiller Träumer, der verstummt ist in dieser hochbegabten Familie. Just ins schlechtgelaunte Nölen der Bedenkenträger hinein fängt er plötzlich an – zu singen. Wunderschön. Engelgesang weicht Herzen auf. Die Gegner legen nach und nach ihre Wortwaffen nieder. Hingebungsvoll singt Gottfried all die Eitelkeit, den Streit, all das Böse ins Nichts. Singt über die Abgründe der Welt und des Menschseins hinweg.

Solche Musik, liebe Geschwister, es muss ja nicht nur Bach sein, ermöglicht einen anderen, gnädigeren, barmherzigen Blick auf unser Leben. So, dass man auf einmal die Spannungen unseres Lebens, die Spannung vom Jauchzen und Seufzen, von tobender Welt und friedvollem Krippenasyl aushalten kann.

Ja, so könnte es Weihnachten werden. Als eine Unterbrechung in unserem spannungsvollen Alltag. Als ein Aufatmen und Eintauchen in den Engelgesang des „Fürchte dich nicht!“ und „Friede auf Erden!“. Botschaften, die bleiben. Seit 2.000 Jahren sind sie verlässlich an unserer Seite. Wie sonst auch sollen wir diese Welt aushalten? All die Nachrichten von irrlichternden, skrupellosen Autokraten? Und wie sollen wir die Trauer über die lieben Menschen, die nicht mehr mit uns feiern, bestehen? Wie können wir weitergehen? Mutig, trotz allem?

Wohl gewiss nicht, indem wir den Schmerz des Lebens einfach beiseiteschieben. Vielleicht aber, indem wir die andere Seite der Wirklichkeit genau ansehen: Neben, über und in all den Traurigkeiten und Schrecken der Welt kommt Gottes unendliche Menschenliebe und Freundlichkeit in Person zur Welt. Sie kommt direkt zu uns in unsere Zweifel und in unsere Einsamkeit. Nach Bethlehem und Eimsbüttel, nach Marmstorf und Lokstedt. Und: Der Ohnmacht wird die Macht genommen! Denn diese Liebe in dem kleinen Friedensbringer ist das allergrößte hoffnungstrotzigste Dennoch gegen den Hass in der Welt.

Und das heißt: Dennoch, bei allen Hässlichkeiten die Schönheit des Lebens feiern. Dennoch, in aller Friedlosigkeit der Welt den Frieden suchen. Jeder, wie er kann, jede, soweit es ihr möglich ist. Frieden in unseren Familien und in unseren Herzen. Frieden zwischen den Menschen in unserer Stadt. Frieden zwischen den Völkern. Frieden, der mit seiner kleinen Schwester beginnt, mit der Freundlichkeit. Und freundlich sein ist so leicht, sagt das Kind, und strahlt uns an.

So will das kleine Friedenskind uns selig machen und freundlich dazu – auch übrigens am Schluss dieses Weihnachtsfilms: Nach unzähligen Hürden wird das Weihnachtsoratorium tatsächlich am ersten Weihnachtsfeiertag 1734 um 7 Uhr morgens in der Thomaskirche uraufgeführt. Als das „Jauchzet, frohlocket“ erklingt, mit allem Drum und Dran, lauscht die Gemeinde verzückt und sogar in den Augen des mürrischen Stadtrats glitzern Tränen. Den kleinen Gottfried hält es nicht mehr auf der Bank. Selbstvergessen, geradezu entrückt, tanzt er im Mittelgang im Takt der Musik. Selig wiegt er sich fast schwerelos, eins mit sich, im Frieden mit der Welt, ein Sinnbild des erlösten Menschen. Für ihn ist es Weihnachten geworden. Von Herzen wünsche ich: so auch für Sie. Ein frohes, seliges, friedvolles Weihnachtsfest Ihnen allen. Amen.

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