13. März 2022 | St. Marien zu Lübeck

Gottesdienst zur Solidaritätsbekundung mit politisch Verfolgten

13. März 2022 von Kirsten Fehrs

Sonntag Reminiszere, Predigt zu Matthäus 26,36-46

Liebe Marien-Gemeinde,

„bleibt hier und wacht mit mir!“ Wenn ich höre, was Sie erzählen, liebe Frau Kazak, dann schwingt für mich die Stimme Jesu aus dem Evangelium sofort mit: Bleibt bei mir. Bleibt wach. Betet für alle, denen Unrecht geschieht und die in dieser Zeit vor lauter Angst nicht wissen wohin.

Bleibet hier und wachet mit mir. Fünf Wörter aus einer der berührendsten Geschichten der Bibel erklären, was hier und jetzt und nicht nur an diesem Sonntag Reminiszere solidarisches Verhalten meint: wachbleiben. Sich hineinversetzen – hier, mitfühlen – hier, was Menschen – dort – bewegt. In Belarus. In den Gefängnissen und auf den Straßen. Bleiben, wachen und ja, dann: beten für die Friedensmutigen, auch dort in der Ukraine und Russland. Das alles gehört zusammen. Denn Beten, das tun wache Menschen. Wer betet, hält die Augen offen und schaut um Gottes willen gerade nicht weg. Wenn ich bete, nehme ich Leben aktiv in die Hand. Das eigene Leben. Das Zusammenleben. Ich lege die Angst und die Müdigkeit in Gottes Hand, um neue Kraft und neue Hoffnung zu gewinnen. Kraft, auch um Gott und der Welt laut zu sagen, was ich sehe. Und siehe: „Er ist dort, der mich ausliefert.“

So wie Jesus unmittelbar nach dieser Szene im Garten Gethsemane zum politischen Gefangenen geworden ist, so sitzen in Belarus mehr als tausend Menschen in den Gefängnissen. Schuldlos zu langen Haftstrafen verurteilt – unter furchtbaren Umständen. Getrennt von den Familien, abgeschnitten von der Welt, Folterungen ausgeliefert. Nach der sogenannten Wahl von 2020 waren sie mit Tausenden auf die Straßen gegangen, haben gegen Wahlbetrug demonstriert und für ein demokratisches Belarus gekämpft. Für Menschen- und Freiheitsrechte, die keinem Menschen und keinem Land genommen werden können, auch nicht mit Gewalt. Auch nicht mit einem Krieg.

Dafür hat Sergej Tichanowski sich mutig auf allen sozialen Medienkanälen eingesetzt. Sein Urteil: 18 Jahre Strafkolonie. Und seine Frau, Swetlana Tichanowskaja, Präsidentschaftskandidatin von 2020, erhebt aus dem Exil unermüdlich die Stimme für ein demokratisches Belarus, genau wie Sie, liebe Frau Kazak. Gerade in diesen Tagen sind Ihre Stimmen so wichtig, da zwei gewissenlose Diktatoren in Moskau und Minsk unserem Kontinent einen furchtbaren Krieg aufzwingen. Ein Krieg, in dem nicht allein gebärende Frauen, Kinder, junge Soldaten, in dem täglich tausende Menschen sterben, nein, auch ein Krieg, in dem die Menschlichkeit stirbt. Siehe, sie sind dort ganz klar zu erkennen, die die Friedensordnung unseres Kontinents zerstören.

Aber dankenswerterweise gibt es Widerspruch. Widerspruch, der Menschen ins Gefängnis bringt in Minsk, in Moskau, in vielen anderen Städten. Wo Lüge und Unrecht mit brutaler Gewalt durchgesetzt werden, da stehen Menschen ein für ihre Freiheit und – ja, für unser aller Frieden in Europa! Mag sein, dass diese Mutigen in Belarus, als sie auf die Straße gingen, wie Jesus gehofft und gebetet haben: „Ist’s möglich, so gehe der Kelch an mir vorüber.“ Sie mögen innerlich gerungen, gezögert, gezweifelt und wie Jesus angstvolle Nächte durchwacht haben – am Ende haben sie in diese kurze und so schwierige Bitte eingestimmt: „So geschehe dein Wille.“

Denn Gottes Wille ist ja, dass Menschen friedlich zusammenleben und dass sie frei atmen können. Dass Menschen widersprechen, wo die Würde eines anderen verletzt wird. Gottes Wille liegt in solchen Worten, dass „Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“ mögen. „So geschehe dein Wille.“ Ich habe tiefen Respekt vor allen, die in diesen Tagen aufstehen, weil Menschen- und Völkerrecht mit Kampfstiefeln getreten werden. Die aufstehen, obwohl sie wissen, dass man sie niederknüppeln, ausliefern, mit ihren Familien bedrohen wird. Die so viel riskieren an Leib und Leben, damit der große Traum von einer Gerechtigkeit, die den Frieden küsst, dass der Traum von der Liebe, die den Hass überwindet, Wirklichkeit wird – überall. Auch in Belarus.

Und ich höre sie sagen: Bleibt hier und wacht mit uns! Lasst uns nicht allein in diesem ungleichen Kampf. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“ Unmittelbar steht er denen vor Augen, die aus lauter Verzweiflung in den Hungerstreik getreten sind, wie es etwa Ihar Losik getan hat. Am 30. Dezember 2020 schreibt er angesichts der haltlosen Anklagen: „Mir ist klar [...] sobald ich in den Hungerstreik getreten bin, kann ich in Einzelhaft oder in eine Strafzelle überführt werden [...] und ernsthafte gesundheitliche Probleme bekommen oder sogar sterben. Um der Gerechtigkeit willen, um meine Tochter wieder in den Armen halten zu können, bin ich bereit den ganzen Weg bis zum Ende zu gehen. Ich hoffe auf die Unterstützung aller nicht gleichgültigen Belarusen. Ich bitte um die Unterstützung der [...] Regierungen der demokratischen Staaten, um die Aufmerksamkeit auf das himmelschreiende Unrecht zu lenken.“ Über vier Wochen später bricht Losik im allerletzten Moment den Hungerstreik ab, letztlich aus Liebe – die kleine, einjährige Tochter in den Armen.

Bleiben, wachen, beten – und öffentliche Briefe schreiben, wenigstens das können wir tun. Damit unsere Solidarität die Gefangenen erreicht und sie wissen: Die Welt schaut genau hin!

Liebe Ludmila Kazak, auch deshalb sind Sie heute unter uns. Um uns und die Welt aufzurütteln. Ich weiß, am liebsten wären Sie jetzt in Belarus an der Seite derer, die für Demokratie und Freiheit kämpfen. Doch wie wichtig ist es, auch mit Worten zu kämpfen. Hier zu erzählen von dort. Ich bin dankbar, dass und wie durch Sie die belarusische Stimme laut wird. Sie halten die Freiheitsliebe Ihres Volkes lebendig. Und, ja auch dies: Sie warnen schon lange vor despotischen Machthabern und müssen erleben, dass erst dieser brutale Angriffskrieg Ihnen so richtig Gehör verschafft. Wir haben zu wenig hingehört, so sieht es jedenfalls heute aus, wir haben auch Ihnen zu wenig zugehört.

Bleibt hier und wacht mit mir, bittet Jesus seine Jünger. Doch – sie schlafen ein. Dreimal kommt er zu ihnen, will sich ihrer Solidarität vergewissern. Will sehen: Ich bin nicht allein in meiner Verzweiflung und in diesen dunklen Stunden meines Lebens. „Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend.“ Was für ein Versagen dieser Menschen, die so dringend gebraucht wurden, und die einfach eingeschlafen sind.

Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob es richtig ist, in diesem Krieg Waffen zu liefern und möglicherweise der Eskalation und der Kriegslogik noch weiter Vorschub zu leisten. Ich bin mit der Friedensbewegung aufgewachsen und bis heute glaube ich daran, dass wir ohne Waffen den Frieden besser fördern können. Aber zugleich geht es mir wie so vielen: Wir müssen neu nachdenken. Wir müssen uns mit der kriminellen Energie solcher Despoten ernsthafter auseinandersetzen als bisher. Wir müssen Wege finden, dem Bösen zu widerstehen – mit Gutem. Und jetzt gerade, in diesen Tagen, ist Solidarität das Gute. Wir dürfen sie nicht allein lassen, die Menschen, die sich mit letzter Verzweiflung dem Unrecht entgegenstellen. Wir dürfen nicht vor lauter Friedensliebe einschlafen. Bedrohte Menschen brauchen unser Wachen, unser Bleiben, unser Beten. Und wo immer es verantwortlich möglich ist: unser Tun.

Die politischen Gefangenen in Belarus sagen uns: Man kann etwas tun. Und wenn es rechtzeitig geschieht, dann gelingt dies auch mit friedlichen Mitteln. Wir können Gewalt und Diktatur unsere Liebe zur Freiheit entgegenstellen. Wir können wachbleiben und an der Seite derer bleiben, die auf die Straßen gehen und ihr Leben riskieren. Wach bleiben, damit es zu Krieg und Waffenlieferungen gar nicht erst kommt. Und vielleicht gehört das mit zur Wahrheit in diesen Tagen: Wir sind nicht rechtzeitig aufgewacht.

Bei all dem empfinde ich es als tröstlich, wenn ich mir vorstelle: Der Jesus aus dem Garten Gethsemane, der ist ganz nah bei den Gefangenen. Er versteht zutiefst, was sie durchleiden. Er, dort in dem Garten Gethsemane, weiß von Isolation, Todesangst und unerfüllter Liebe. Hautnah erlebt auch er dieses Ausgeliefertsein, dieses Nicht-mehr-Können. Aber: Er wacht. Betet. Er bleibt an ihrer Seite, auch wenn unsere menschliche Solidarität müde wird. Oder ihr Ziel nicht erreicht. Dieser Jesus hört, wenn sie und wenn wir beten: „Bleib bei mir, Herr!“ „Ich brauch zu jeder Stund dein Nahesein.“

Herr, bleib. Bei ihnen – damit ihr Mut sie nicht verlässt, dort in ihren Gefängnissen. Und hier bei uns – damit wir wach bleiben und tun, was wir können. Um das Böse mit Gutem zu überwinden. Das ist die Haltung der Solidarität, die uns durchtragen wird durch diese Zeit, davon bin ich überzeugt, liebe Geschwister. Wir werden einen langen Atem brauchen – für den Frieden, höher als alle Vernunft. Der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
13.03.2022
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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