Grußwort zur Kirchengeschichtstagung und zum 850. Domjubiläum
06. August 2021
Grußwort zur Kirchengeschichtstagung der Arbeitsgemeinschaft für Mecklenburgische Kirchengeschichte und der Domgemeinde Schwerin zum 850. Domjubiläum
Sehr geehrter, lieber Herr Dr. Wurm,
sehr geehrter, lieber Domprediger Volker Mischok,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder!
Ich freue mich, diese Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Mecklenburgische Kirchengeschichte und der Domgemeinde anlässlich des 850-jährigen Domweihjubiläums mit einem Grußwort zu eröffnen. Und wie könnte es anders sein – am Anfang aller Arbeit, auch aller kirchenhistorischen Arbeit, und natürlich auch des Grußwortes der Landesbischöfin, steht das, was für all unser Denken und Handeln die Grundlage, das Fundament ist: der Bezug auf das Wort Gottes.
„Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1. Kor 3,11) Ob die Menschen, die vor 850 Jahren den Grundstein für den Schweriner Dom gelegt haben, wohl diesen Bibelvers aus dem 1. Korintherbrief in Kopf und Herz hatten? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen: Am 9. September 1171 wurde die Weiheurkunde des Domes ausgestellt und von Heinrich dem Löwen besiegelt, etwa sieben Jahre nach Verleihung der Stadtrechte an Schwerin. Heinrich der Löwe hatte den romanischen Vorgängerbau des heutigen Doms gestiftet, wie auch die Dombauten in Braunschweig, Lübeck und Ratzeburg, die sogenannten Löwendome. Die Schenkung einer Heilig-Blut-Reliquie durch Graf Heinrich I. von Schwerin im Jahre 1222 hatte Schwerin zum bedeutendsten Wallfahrtsort Norddeutschlands werden lassen. Der romanische Dom war für den Zustrom der Pilger bald zu klein. Mit dem gotischen Bau, den wir heute kennen, wurde nur knapp einhundert Jahre nach der Weihe des Löwendoms begonnen. 1416 wurde die zu den Hauptwerken der Backsteingotik zählende Kathedrale vorläufig fertiggestellt. Der Kreuzgang folgte etwa 50 Jahre später.
Kirchen sind in Stein gefasste Theologie, Glaubenszeugnisse aus Licht und Architektur. Wo – wie im Falle unseres Schweriner Doms – an einer Kathedrale über viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gebaut wurde, erkennen wir bis heute die Spuren unterschiedlicher Theologien. So endete nach der vollständigen Einführung der Reformation 1549 auf dem Landtag zu Sternberg in Mecklenburg die Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie. Bald wurden auch die Altäre im Chorumgang des Doms abgebrochen, an ihre Stelle traten nun Fürstengräber. Das bedeutendste ist das von Christoph von Mecklenburg und seiner Frau Elisabeth von Schweden in der nordwestlichen Kapelle des Chorumgangs von 1595. Es stellt das vor einem Betpult kniende Paar dar. Der Chorumgang wurde im 19. Jahrhundert zur großherzoglichen Grablege umgestaltet. Der Chorumgang selbst aber zeugt bis heute von den ehemals hierher pilgernden Gläubigen. Heute kann man hier Pilgernden begegnen, die dem Birgitta-Pilgerweg folgen, der von Saßnitz auf Rügen nach Lauenburg an der Elbe führt und den Schweriner Domhügel kreuzt. Unseren Blick Richtung Himmel lenkt der beeindruckende, 117,5 Meter hohe Turm im neugotischen Stil. Mit seiner aufstrebenden Formensprache ersetzte er Ende des 19. Jahrhunderts den alten romanischen, wenig über die Höhe des gotischen Mittelschiffs reichenden Turm.
Mich selbst beeindruckt bei jedem Gottesdienst, den ich im Schweriner Dom feiere, der von Bischof Conrad Loste um 1490 gestiftete spätgotische Flügelaltar. In seinem von Maria und Johannes gerahmten Mittelschrein erzählt er von der Überwindung der Hölle durch Jesus Christus. Die Bildmitte dominiert der gekreuzigte Christus, dessen Blut Engel in Kelchen auffangen, ein Hinweis auf das Abendmahl. Auf der rechten Bildseite steht der auferstandene Christus, hinter Lorbeerranken, die auf seinen Sieg über den Tod verweisen. Er reicht denen, die er aus der Hölle befreit, die Hand, während der Satan an einen Pfosten gefesselt ist. Es ist ein Bild dafür, dass Gott alles Böse letztlich durch seine barmherzige Liebe überwindet – selbst den Tod.
Der Schweriner Dom ist ein zentraler Ort und ein Symbol der Stadt Schwerin und ihrer Geschichte. Nicht ohne Grund war er auch ein wichtiger Ort während der friedlichen Revolution von 1989. Bei der Gedenkveranstaltung, mit der im Oktober 2019 der ersten Schweriner Montagsdemonstration im Jahr 1989 gedacht wurde, war für mich in bewegender Weise spürbar, wie hoch bedeutend unsere Kirchen als bergende und für alle Menschen offene Orte in unserer Gesellschaft sind. Sie laden uns ein zu einem Perspektivwechsel – sie laden uns ein, himmelwärts zu blicken, und so die Blickrichtung der Liebe einzunehmen, die sich an Jesus Christus orientiert. Diese Liebe behält die Würde aller Menschen, ihr gerechtes und friedliches Zusammenleben als Aufgabe und Hoffnung gleichermaßen im Blick. Für die Blickrichtung dieser Liebe ist der Schweriner Dom ein lebendiges und weithin sichtbares Zeichen. Durch die Jahrhunderte ist er so für viele Menschen zur Heimat geworden – und wird es auch weiterhin sein!
Wie das im Einzelnen geschehen ist, welche kirchenhistorischen, welche kunsthistorischen großen Linien und welche wunderbaren Details es dazu immer wieder neu zu entdecken und miteinander zu teilen gibt, wie sich die Lebenslinien einzelner Persönlichkeiten mit diesem Dom verbunden und geradezu ineinander verwoben haben, all das zu erheben, dazu dient auch die heutige Tagung. Eine Tagung, die dazu beitragen will, dass wir verstehen können, wie all das geworden ist, was wir als selbstverständliche Gegenwart erleben. Wobei das „forschende Verstehen“ immer zugleich auch ein „forschendes Erklären“ ist und beides im Wechselspiel miteinander steht[1].
Erinnern möchte ich heute auch an einen Grundgedanken Wilhelm von Humboldts, den er vor 200 Jahren in seiner 1821 erschienenen Abhandlung „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“[2] dargelegt hat. Humboldt vertrat die Ansicht – und ich folge hier Gedanken des Historikers Ulrich Muhlack[3] – „dass Geschichte, außer dass sie sich in kausal-gesetzmäßig berechenbaren Rahmenbedingungen vollzieht, ein Werk menschlicher Schöpferkraft, Selbstbestimmung und Freiheit ist.“[4] In der Beschäftigung mit Geschichte treffen Historiker:innen auf Tatsachen, die sich „als spontane, durch sich selbst begründende Akte autonomen menschlichen Handelns zu erkennen geben. ‚Verstehen‘ im Sinne Humboldts bedeutet, diese Herkunft bestimmter Tatsachen aus Akten menschlicher Freiheit gewahr zu werden, die Autonomie menschlichen Handelns als Triebkraft der Geschichte zu erfassen.“[5] Diese Überlegungen möchte ich so ergänzen: Wenn die Reflexion menschlicher Freiheit Bezug nimmt auf die Frage, ob und inwieweit diese Freiheit ihr Maß und ihre Struktur im Hören auf Gottes Ruf zur Verantwortung für alles Leben und seine Schöpfung sucht und findet, dann kommt damit eine Perspektive zu Wort, wie sie insbesondere die Kirchengeschichtsschreibung berücksichtigen und in den wissenschaftlichen Diskurs eintragen kann.
Ich bin froh, dass wir in der Nordkirche in der Lage sind, Jubiläen wie das der Schweriner Domweihe mit einer wissenschaftlichen Tagung zu begleiten. Von Herzen danke ich allen, die die heutige Tagung geplant und vorbereitet haben und sie heute mit ihren Beiträgen gestalten und so unsere Kenntnis der Domgeschichte erweitern werden. Denn Kirchen- und Theologiegeschichte sind wichtig für die Gegenwart und die Zukunft unserer Kirche – weil sie uns lehren, unser Christsein aus der Geschichte, aus seinem geworden-sein heraus zu verstehen. In der Beschäftigung mit unserer Geschichte – der allgemeinen wie der Kirchengeschichte – lernen wir auch, was menschliches Handeln bewirken kann, aber auch, wie menschliches Handeln andere als die beabsichtigen Folgen hervorrufen kann, wir lernen, dass gute Absichten nicht nur gute Folgen haben können, wir erfahren etwas über menschliche Möglichkeiten wie deren Grenzen, über die Vielfalt von Bedingungen und Zusammenhängen unseres Lebens – kurz: wir bekommen eine Ahnung von dem, was wir vermögen und gestalten können und ebenso von den Grenzen unser Fähigkeiten und Möglichkeiten.[6] Beschäftigung mit Geschichte kann also lehren, um es mit einem alten Wort aus der christlichen Tradition zu sagen, demütig zu werden und wirklich menschlich, human – wissend um Möglichkeiten wie Grenzen menschlichen Handelns.
All das lässt uns im Blick auf unsere Kirche immer wieder verstehen: Eine Kirche ohne Vergangenheit hat keine Zukunft. Denn die Beschäftigung mit der Geschichte zeigt uns und lässt uns verstehen: Die Art und Weise, wie Menschen ihren Glauben an Christus gestalten und leben, die Art und Weise, wie wir Kirche sind, ändert sich. Sie hat sich im Lauf der Jahrhunderte geändert und sie ändert sich immer wieder. Sie ändert sich, weil wir Menschen uns ändern, weil unsere Glaube in seiner jeweiligen Gegenwart durch uns in der Gegenwart des Geistes Gottes gelebt und gestaltet wird. Eine lebendige Kirche ist also eine sich verändernde Kirche, eine Kirche mit Geschichte. Und deshalb auch eine Kirche mit einer lebendigen Gegenwart und Zukunft. Beständig, fest und sicher ist darin das, oder besser der, der Grund und Ziel unseres Glaubens ist: Jesus Christus. Deshalb noch einmal die Erinnerung an diesen Grund und seine Bedeutung: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“
Lassen Sie uns heute im Wissen um diesen Grund und im Vertrauen auf diesen Grund anlässlich des 850. Jubiläums der Domweihe in einen Teil der Geschichte derer eintauchen, die wie wir sich in Christus gegründet haben: die Geschichte derer, die diesen wunderbaren Dom gebaut, ihn umgestaltet, in und mit ihm gelebt und ihrem Glauben hier Ausdruck verliehen haben. Ich schließe deshalb mit einem Zitat des Historikers Fernand Braudel, einem der Mitbegründer der berühmten französischen Historiker:innen-Schule der Annales. Er schrieb: „Der Historiker öffnet zunächst die ihm vertrauteste Tür zur Vergangenheit. Versucht er aber, so weit wie möglich zu schauen, wird er zwangsläufig an die nächste, dann an die übernächste klopfen. Und jedes Mal wird sich eine neue oder doch leicht veränderte Szenerie vor ihm auftun … Die Geschichte aber vereint sie alle, sie schließt diese Nachbarschaften, diese Grenzgemeinschaften mit ihren Wechselwirkungen ohne Ende zum ganzen zusammen.“ [7]
Ich freue mich auf die vielen Türen, die sich uns heute öffnen werden und auf die sie zusammenbindende Sicht in historischer Perspektive - dass aber alles, was wir heute sehen und entdecken werden, vereint und gehalten ist in der Hand dessen, der uns miteinander verbindet über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg und aller Geschichte letztlich ihren Sinn und ihr Ziel gibt, darauf vertraue ich. Denn: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] Vgl. dazu Wolfgang J. Mommsen, Wandlungen im Bedeutungsgehalt der Kategorie des „Verstehens“, in: Christian Meier/Jörn Rüsen, Historische Methode (Beiträge zur Historik, Bd.5), München 1988, 200-226.
[2] Wilhelm von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: der., Werke. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, 585ff.
[3] Vgl. Ulrich Muhlack, Zum „Verstehen“ im frühen Historismus. Ein Diskussionsbeitrag, in: Christian Meier/Jörn Rüsen, Historische Methode (Beiträge zur Historik, Bd.5), München 1988, 227-234.
[4] AaO., 230.
[5] Ebd.
[6] Vgl. ausführlich dazu Thomas Nipperdey, Wozu noch Geschichte?, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, 366-388, insbesondere. 377ff.
[7] Fernand Braudel, Zum Begriff der Sozialgeschichte, in: der., Schriften zur Geschichte, Bd. 1, Stuttgart 1992, 167-182, 181; zit. nach Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2. Aufl. 2016, 19.