30. August 2020 | Dom zu Lübeck

Hefata! Tut euch auf

30. August 2020 von Kirsten Fehrs

Gottesdienst am 12. Sonntag n. Trinitatis, Predigt zu Markus 7,31-37

 

Kanzelgruß


Liebe Gemeinde im Dom zu Lübeck,

vergangene Woche hatte ich Erstes Theologisches Examen. Zum Glück nicht mein eigenes, das konnte ich bereits vor 33 Jahren hinter mich bringen. Nein, jedes halbe Jahr darf ich das Examen abnehmen; es ist mir eine Ehre. Denn die Begegnung mit diesen so klugen, jungen Theolog*innen – immerhin waren es dieses Mal siebzehn – ist immer großartig. Anregend und erfrischend neu in den Theorien, fröhlich-frech auch, wenn sie den Prüfungsstress etwas hinter sich lassen können und mit den Professoren ins Diskutieren kommen. Da geht es dann darum, gemeinsam Texte bis aufs Jota zu durchdringen. Texte, die ja einen besonderen Geist atmen. Markus, Paulus, Luther – darin lebt nicht nur Theologie, sondern auch dichte Glaubenserfahrung. Wie gehen hier Wissenschaft und Glaube zusammen? Wie gelingt bei, aller Wissenschaft, Bildung, die das Herz warm hält, weil es sich, wie Luther einmal sagte, Christus einge-bildet hat?

Interessant vor diesem Hintergrund fand ich, dass das Thema Wunder bei den Kandidat*innen ganz weit oben rangierte. „Diese Wundergeschichten sind Trostgeschichten“, sagte eine zur Erklärung. „Denn Wunder erinnern immer daran, wie unser Leben ursprünglich einmal gedacht war.“ Und ich höre unser Evangelium. „Er hat alles wohl gemacht. Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“

Eine wunder-bare Trostgeschichte in dieser Coronazeit. Denn dieses Evangelium kennt keine Berührungsängste. Da wird nicht weg-, da wird genau hingesehen. Schaut, wie sehr dieser Mensch leidet, stumm und taub. Was für ein Elend! „Und sie baten Jesus, dass er die Hand auf ihn lege.“ Macht er doch alles wohl, hoffen sie. Doch nur eine Handauflegung reicht Jesus nicht. Viel zu distanziert für ihn. Der Leib ist schließlich krank. Also heilt er auch leiblich, sagenhaft leiblich; er legt die Finger in die Ohren, spuckt, seufzt, ringt die Hände. Gebärdensprache at it’s best. Inklusion vor 2.000 Jahren. Aber nicht nur diese Gebärdensprache erreicht den Tauben. Auch das Wort braucht’s. He-fa-ta – für einen Gehörlosen anhand der Lippen mühelos zu verstehen. Hefata! Schließ dich auf, heißt das. Es ist ein Schlüsselwort. „Und sogleich löste die Fessel seiner Zunge sich und er konnte richtig reden.“

Ein Wunder also, heute, im unsicheren August 2020, wo nach wie vor ungewiss ist, was in den nächsten Wochen oder gar an Weihnachten sein wird. Hier übrigens sollten wir Kirchen klug sein und unbedingt genau planen, herauszugehen zu den Menschen. Hefata! Tut euch auf. Weihnachten auf die Plätze! Oder sollte ich sagen: Weihnachten auf die Plätzchen? Zusammenkommen, die gute, alte Weihnachtsgeschichte hören, Stille Nacht singen, Fürbitten mit Kerzen und Segen. Das Licht soll in die Welt, nach draußen, die Menschen sehnen sich so danach.

Es sind die Schlüsselworte unserer Tage, auch im August: Licht, Leben, Sonne, Liebe. Nähe auch. Denn diese lange und unbedingt vernünftige Zeit der Disziplin ohne Berührung, auch ohne höflichen Handschlag und liebevolle Umarmung ist je länger desto mehr eine Entbehrung, die etwas mit den Menschen macht. Gerade mit den jungen. Sie haben so einen Lebensdurst. Wer würde das nicht verstehen! Wir alle doch wissen und spüren es hautnah: Der Mensch vergeht ohne Nähe, Gemeinschaft und Zärtlichkeit. Sei er alt oder jung.

Hefata! Tut euch auf. Aber schaut dabei genau hin. Denn derzeit hören wir auch äußerst schräge Töne, die nicht zu verstehen, ja, die gefährlich sind. Zunehmend ignorant, rechtsextrem, spalterisch. Solch Anti-Corona-Demonstrationen wie gestern in Berlin etwa. Besorgniserregend und unerträglich zugleich. Woher kommen diese kruden Behauptungen? Jüngst sagte ein Politiker zu mir: „Angst essen nicht nur Seele, Angst essen Demokratie auf.“ Und auch ich frage mich, ob diejenigen, die mit den abenteuerlichsten Verschwörungstheorien Ängste schüren, vergessen haben, dass Frieden und Wohlstand keine Selbstverständlichkeiten, sondern demokratische Errungenschaften der vergangenen 75 Jahre sind. Es braucht jetzt unsere Entschiedenheit, liebe Geschwister, dass wir uns ganz bewusst für unsere Kultur des gegenseitigen Respekts und Dialogs einsetzen.

Und Jesus rief: Hefata – und sogleich taten sich die Ohren auf und man redete richtig … Und dann, sagt das Evangelium, wendet Jesus sich der Menge zu. Sie, die dort am Galiläischen Meer wohnen, weit entfernt vom heiligen Jerusalem und damit weit entfernt von Religion und sozialer Gerechtigkeit. Genau hier, wo das Reich Gottes ferner gewesen ist denn je, hier verkündet Jesus das nahe Himmelreich.

Hefata, sagt er zu ihnen. Verändert euren Blick. Schaut den Horizont, nicht nur die Strecke. Der Himmel will auf Erden. Gott, der euch über alle Maßen liebt, weiß, wie verletzlich und verwundbar euer Leben ist. Deshalb ja ist er uns erschienen in Jesus, in einem Menschen, dem wir etwas bedeuten, der uns heilt und uns berührt, der uns mahnt, neu zu beginnen und der sich die Hände schmutzig macht, der den Flüchtling ins Boot holt und den glimmenden Docht zu schützen versucht. Er rettet das Licht und dein Leben. Leuchtet die Dunkelheit aus. Und dies nicht, um selbst gesehen zu werden, sondern um zu sehen. Die zu sehen, die im Schatten sind. All die Tauben und Sprachlosen, die Ausgestoßenen, sie, die Gott und die Welt nicht mehr verstehen können. Alle. Auch 2020.

Mit jeder Heilung geht es Jesus immer auch um die Gemeinschaft, dass sie gesund wird. Dass sie es lernt, auf die zu achten, die am Rande sind und keine Lobby haben. Hefata! Tun wir den Mund auf für die Stummen. Für den Blumenhändler nebenan, der in seiner Suche nach Unterstützung durch alle Maschen fällt, weil sein Umsatz noch nie besonders hoch war. Für den Schüler, dessen Vater Risikopatient ist und der überall die Maske trägt vor lauter Angst, den Vater zu gefährden. Für die alte Dame mit Demenz, die ständig den Flur auf und ab geht, und ihre Tochter nun gar nicht mehr erkennt, weil sie so lange nicht kommen konnte.

Da ist derzeit viel Schmerz in unserer Gesellschaft, liebe Gemeinde. Und, ehrlich, wir Kirchen haben hier einen Auftrag. Wir können mit unserer Seelsorge und Hoffnungsbotschaft so viel anbieten. Wir sind getragen durch einen wunder-vollen Glauben, kennen Hoffnungsbotschaften noch und noch, wir haben tröstliche Musik und könnten kluge Theologie einbringen in die ethischen Debatten dieser Zeit. Hefata – öffnen wir uns für unsere Möglichkeiten. Lassen Sie uns die Schlüsselworte unserer Gesellschaft aufsuchen, die die Menschen öffnen, dass sie neue Lösungen wagen. Was sprengt die Fesseln, löst die Angst? Wie kommen wir ans Licht? Wie den Trost vermitteln und Zuversicht?

In dem Film „Amistad“ von Steven Spielberg, in dem die Geschichte der Sklaverei in Amerika nachgezeichnet wird, gibt es eine Szene, die mir für unseren Zusammenhang sofort eingefallen ist. Da sieht man etliche Sklaven gefesselt und in Ketten im Kerker sitzen. Damit sie den Geist der Wahrheit und die Kultur der hochstehenden Weißen erkennen können, gibt ihnen jemand eine Bibel mit ins Verließ, natürlich in Englisch, was keiner sprechen, geschweige denn lesen kann. Glücklicherweise ist die Bibel mit Radierungen von Rembrandt versehen. Als sie die Bibel durchblättern, kommentieren sie sie: „Seht mal, was für ein süßer Kleiner!“, sagt einer und zeigt auf die Geburtsszene. „Und all die Könige, die vor ihm knien. Der muss wichtig sein.“ „Oh, jetzt ist er groß und wird in einem Fluss gewaschen“, sagt ein anderer. „Donnerwetter, er kann übers Wasser gehen.“ So blättern sie das ganze Evangelium durch, bis jemand sagt: „Schaut mal, da muss etwas schief gegangen sein, er wird gefangen genommen und in Ketten gelegt, wie wir.“ Und sie blättern weiter. Dornenkrone, Kreuzigung, sie werden immer schweigsamer, bis am Ende beim Bild der Kreuzabnahme einer auf den Heiligenschein von Jesus zeigt: „Aber seht nur: Überall, wo er ist, da ist auch die Sonne!“

Überall wo er ist, ist die Sonne! Das ist das Hefata in unserer Zeit. Voller Verheißung und Trost. Schauen wir hin und öffnen wir uns: Wo und wer ist die Sonne unseres Lebens? Wo unsere Helligkeit, die andere versöhnt? Bleibt unser Mut – auch wenn die glücklichen Stunden, die gelingenden Phasen unseres Lebens im Moment eine Pause einlegen? Wenn die Gesundheit gefährdet ist, obwohl wir so auf sie achten? Überall da, wo er ist, ist die Sonne. Bleiben wir aufrecht, auch wenn wir liegen müssen? Bleiben wir zugewandt, auch wenn wir kritisiert werden? Bleiben wir berührbar, auch wenn Corona uns auf Abstand hält? Bleiben wir zärtlich, auch wenn die Liebe in die Jahre kommt? Überall da, wo er ist, ist auch die Sonne. Er bleibt, hell und klar, Ort der Ewigkeit mitten im Leben. Hefata, ruft er. Und das Wunder strahlt uns an. Im August 2020!

Und sein Frieden, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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