Hoffnung für die Verlorenen
21. Juni 2015
3. Sonntag nach Trinitatis, Predigt im Festgottesdienst der Bachwoche zu Lukas 15, 1-3.11b-32 u. J. S. Bach, Gott fähret auf mit Jauchzen (BWV 43)
„Verlorene zu erretten“
Liebe Gemeinde,
Gott ist König. Mit Pauken und Trompeten und großer Klangpracht wird uns diese Botschaft ins Herz gesungen. Mit der Himmelfahrt wird Jesus Christus zur Rechten Gottes erhöht und herrscht jetzt gemeinsam mit dem Vater. Die Bachkantate „Gott fähret auf mit Jauchzen“ ist eine herrliche Vertonung der Himmelfahrtsbotschaft, die die christliche Kirche auszurichten hat.
Diese heute zu Ende gehende Bachwoche „Königsmusik“ hat uns viele Könige begegnen lassen. Aus dem alten Israel trafen wir die Könige Saul und David. Der letzte babylonische König Belsazar gab sich ein Stelldichein. König Lear und Friedrich II. von Preußen waren konzertant anwesend. Und gestern bei der Geistlichen Morgenmusik hielt uns ein Nachfahre des letzten deutschen Kaisers die Predigt. Obwohl Deutschland 1918 ein- für allemal der Monarchie den Abschied gegeben hat, ist das Interesse an gekrönten Häuptern in Deutschland groß. Die Regenbogenpresse berichtet in hohen Auflagen über Gerüchte und Ereignisse in den Königshäusern Europas.
In welchem Verhältnis steht die Königsherrschaft Jesu Christi zu den vielen gekrönten Häuptern auf dieser Erde? Vor Jahren war das keine Frage. Man muss nur einmal die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder den Berliner Dom anschauen. Das gesamte Bildprogramm setzt die biblischen Könige und das Habsburger Königshaus in eine Entsprechung. So, wie David und Salomo und die Könige Israels ihren Auftrag zum Regieren des Volkes von Gott bekommen haben, so fühlten sich auch die preußischen Könige von Gott eingesetzt.
Der Hinweis auf die Königsherrschaft Jesu Christi ist dann ein Störfaktor. So wie auch auf unserem Bachwochenplakat und unserem Programmheft es irgendwie stört, dass die dort abgebildete Krone aus Stacheldraht besteht. Was für ein König ist denn dieser Jesus Christus? In welchem Verhältnis steht sein dienendes Leben, das sich in der Dornenkrone zeigt, zu der Herrschaft der Königinnen und Könige auf Erden?
[Wie die Reformatoren den Bezug zwischen dem Regierungshandeln Gottes und dem menschlichen Regierungshandeln gesehen haben, erzählt eine wunderbare Anekdote aus dem Leben Johannes Bugenhagens, unserem pommerschen Reformator. In Ueckermünde sollten 1535 zehn Anführer der Pasewalker Bürgerunruhen hingerichtet werden.
Damit wollte Herzog Philipp von Pommern-Wolgast ein abschreckendes Beispiel gegen Aufruhr geben. Schon die Umgebung des Herzogs hielt diese Strafe für zu streng und man versuchte, Straferlass für die Aufrührer zu erhalten. Daraufhin erließ der König sieben der Verurteilten die Strafe gegen Zahlung einer Geldbuße. Für die übriggebliebenen drei wagte nun keiner mehr zu bitten. Da trat Bugenhagen vor den Herzog. Alle anderen wichen zurück. Konnte man dem einmal unmissverständlich ausgedrückten herzoglichen Urteil widersprechen?
Doch Johannes Bugenhagen redete den Herzog nicht als Herrscher an, sondern als einen Menschen, der auch ein Sünder sei und jeden Tag neu aus Gottes Gnade und Vergebung leben müsse. Darauf folgerte er: „So, du, Herzog, allein auch nur angewiesen bist auf die Barmherzigkeit Gottes, solltest du nicht diesen dreien auch Barmherzigkeit erzeigen?“ Und wirklich, der Fürst ließ sich bewegen und gab auch diese letzten drei Verurteilten Aufrührer frei. Das dienende Herrschen Jesu Christi sollte auch Vorbild sein für das Herrschen der weltlichen Obrigkeit. Ein christlicher Herrscher soll sich nicht nur an Macht und Recht orientieren, sondern auch an Barmherzigkeit und Liebe.]
Wie die Dornenkrone das signifikante Emblem für diesen König ist, den Christen glauben, so ist die kleine Wendung „Verlorene zu erretten“ die charakteristische Aussage für diese Bachkantate. Die Herrschaft dort droben ist keine Wolkenkuckucksherrschaft, sondern Hoffnung für die Verlorenen. Jesus ist von Gott nicht mit aller Gewalt im Himmel oder auf Erden ausgestattet worden, um nach kalten Gesetzmäßigkeiten diese Welt zu regieren, sondern um sie zu erretten. Es geht darum, Verlorene zu erretten.
Vor einigen Jahren war ich Mitglied einer Bildungskommission unseres Bundeslandes. Diese Kommission war eingesetzt worden, weil wir in Deutschland und besonders in Mecklenburg-Vorpommern erschrocken waren über die schlechten Leistungen unseres Schulsystems. Finnland hatte bei der so genannten „Pisa-Studie“ viel besser abgeschnitten. Und so fuhren wir mit unserer Kommission nach Finnland, hospitierten, besichtigten und hörten Vorträge. Immer wieder wurden wir auf einen Grundsatz verwiesen, der in finnischen Schulsystem gelten sollte, und der lautete: „Keiner soll verlorengehen!“ Hier schien mir das Geheimnis des Erfolgs des finnischen Systems zu liegen. Es galt, den Einzelnen in den Blick zu nehmen, ihm nachzugehen und alles so einzurichten, dass das im Schulsystem auch möglich ist. Wenn dieser Grundsatz schon im Bildungsbereich Geltung beanspruchen muss, wieviel mehr in der Kirche.
Denn, liebe Gemeinde, es gibt Verlorene! Davon redet Jesus in dem Gleichnis, das wir heute als Evangelium gehört haben. In der Person des jüngeren Sohnes stellt uns Jesus einen solchen Verlorenen vor Augen. Der jüngere Sohn war ein Tunichtgut. Er kommt auf die Idee, sich sein Erbe vorzeitig auszahlen zu lassen. Das war ausgesprochen ungewöhnlich und eine Grobheit gegenüber dem Vater. Aber der Sohn bricht sowieso alle Verbindungen ab und zieht in ein fremdes Land, dorthin, wo die strengen Regeln des jüdischen Glaubens nicht gelten. Was er dort tut, wird nicht näher ausgeführt. Doch das Gleichnis sagt alles mit der Wendung: „Dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen“ (V. 13). Was gemeint ist, sagt die Basisbibel sehr klar in ihrer Übersetzung: „Dort verschleuderte er sein ganzes Vermögen durch ein verschwenderisches Leben.“ Am Ende war er ganz unten. Er, der Jude, musste nun in einem heidnischen Land die Schweine hüten! Die Schweine gelten jüdischen Menschen als Inbild der Unreinheit. Schweinehüten geht für einen jüdischen Mann gar nicht. Schweine fressen gerne die Schoten des Johannesbrotbaumes. Der junge Mann hat solchen Hunger, dass er diese ebenfalls gern essen würde. Doch niemand gibt sie ihm. Am Ende ist der jüngere Sohn in Konkurrenz zu Schweinen geraten. Tiefer kann er nicht mehr fallen.
Da zieht er Resümee. In welche Situation ist er geraten? Dieser Verlorene hat einen lichten Moment. Und als er – wie es so schön im Bibeltext heißt – „in sich geht“, da kommen ihm ganz nüchterne Überlegungen. Als Tagelöhner in einem fremden Land fehlt ihm das Nötigste zum Überleben. Er erinnert sich an die Situation der Tagelöhner seines Vaters. Ihm ist klar: Sohn im Hause seines Vaters kann er nicht mehr sein. Er hat sich ja sein Erbteil auszahlen lassen. Damit ist sein Sohnesrecht verwirkt. Kaum wird der Vater Lust haben, sich zu seinem versumpften Sohn zu bekennen. Aber vielleicht würde ihm sein Vater die Chance geben, als Tagelöhner im Hause des Vaters zu leben. Das wäre weniger, als ein Sklave zu sein, denn die Sklaven gehören - wenn auch nur in einem weiteren Sinne - zur Familie. Der Sklave hat eine gewisse Sicherheit, sein Herr muss für ihn sorgen. Der Tagelöhner schaut nur von Tag zu Tag.
Aber der junge Mann weiß, sein Vater hat für seine Tagelöhner immer gut gesorgt. Seine Ansprüche sind so total heruntergefahren, dass es ihm erstrebenswerter zu sein scheint, als Tagelöhner im Hause seines Vaters mit zu leben, als weiter mit den Schweinen seines heidnischen Herrn in Nahrungsmittelkonkurrenz zu treten. Die Motive seiner Umkehr sind nicht edel. Es geht ihm einfach „dreckig“. Aber bei all dem gewinnt der junge Mann doch eine klare Sündenerkenntnis. Er weiß, dass er gegen Gottes Gebote verstoßen hat und will deswegen seinem Vater sagen: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!“ (V. 18 f).
Und nun kommt eine nicht erwartete Wende in das Gleichnis. Schon von weitem sieht der Vater den Sohn. Der Vater muss Sehnsucht gehabt haben nach seinem Sohn. Tag für Tag schaute der Vater nach dem Sohn aus. Dieser Vater hat Mitleid mit seinem Sohn, „es jammerte ihn“. Als der Vater den Sohn sieht – endlich! – macht er etwas, was ein alter Mensch im Orient eigentlich nie tun würde. Er setzt seine Ehre aufs Spiel und läuft seinem Sohn entgegen. Er fällt seinem Sohn um den Hals und küsst ihn. Diese spontane Umarmung und dieser Kuss sind Zeichen der Vergebung. Bevor der Sohn irgendetwas sagen und tun kann, hat der Vater bereits die Zeichen auf Liebe gestellt. Da setzt der Sohn an und möchte seine Sprüchlein aufsagen: „Vater, ich habe gesündigt … .“ (V. 21).
Aber er kommt gar nicht zu Ende. Den Plan mit dem Tagelöhner-Sein kann er seinen Vater gar nicht mehr erzählen. Der fällt seinem Sohn ins Wort, lässt ein wertvolles Gewand holen und kleidet ihn prächtig. Er gibt ihm einen Siegelring an seine Hand und setzt ihn damit als Sohn wieder ein. Der, der sein Erbe verspielt hat, wird nun wieder Sohn. Zu allen Überfluss lässt der Vater dann noch das Mastkalb schlachten, das ja eigentlich für andere Zwecke gedacht war.
Durch sein Verhalten macht dieser Vater ganz klar: Er möchte seine Kinder bei sich haben. Er hat den vorzeitigen Abschied seines Sohnes als ein Sterben aufgefasst und deswegen jetzt seine ebenfalls unerwartete Rückkehr als Wiederlebendigmachung. Hier muss ich an die letzte Strophe des Himmelfahrtsgedichtes denken, das Johann-Sebastian-Bach zum Zentrum seiner Himmelfahrtskantate gemacht hat. Wir werden gleich vor dem Choral das Rezitativ des Soprans hören:
„Er will mir neben sich
die Wohnung zubereiten,
damit ich ewiglich
ihm stehe an der Seiten,
befreit von Weh und Ach!
Ich stehe hier am Weg
und ruf ihm dankbar nach.“
Gott möchte den Himmel voll haben und freut sich über jeden, der den Weg zurück zu ihm findet. Da kommt der ältere Sohn von der Arbeit. Es gibt auch immer die Verantwortungsträger, die, auf die man sich verlassen kann und die ihre Aufgaben erledigen, ohne viel zu reden. Auf den älteren Sohn konnte sich der Vater verlassen. Hier lag die Führung seines Bauernhofes in guten Händen. Jahrelang hat er sich geplagt. Er war immer im Dienst und in der Nähe seines Vaters. Aber ein solches Fest hat der Vater für ihn noch nicht gefeiert. Deswegen fühlt er sich nun hintergangen. Sein treuloser Bruder wird ohne Standpauke, ohne Ermahnung und pädagogische Maßnahmen einfach wieder aufgenommen. Das ist für den älteren Bruder der Güte zu viel.
Aber so ist Gottes Barmherzigkeit. Gott hat ganz andere Kriterien. Bei ihm fließt das Herz über voll Liebe. Es gibt verlorene Menschen und diese möchte der Vater zu sich zurücklieben. Niemals ist der Rückweg zu Gott verbaut. Ja, man mag das als ein hartes Urteil empfinden, dass es verlorene Menschen gibt. Wer aber die Verbindung zu Gott gekappt hat, der ist geistlich tot. Ganz unverblümt sagt deswegen auch der Vater: „Dieser, mein Sohn, war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden“(V. 24). Die Abkehr von Gott bedeutet geistlichen Tod. Die Rückkehr zu ihm neues Leben. Das ist hart und realistisch. Jesus verharmlost die Tatsache, wenn Menschen Gott weglaufen nicht, sondern bezeichnet das als spirituelles Dahinscheiden.
Aber Gott wartet noch. Es ist seine Freude, wenn Menschen, die sich aus der Verbindung zu ihm gelöst haben, wieder zu ihm zurückkehren. Liebe Gemeinde, es geht nicht nur um Kultur, es geht nicht nur um die großen abendländischen Werte, es geht um eine lebendige spirituelle Beziehung zu unserem Schöpfer. Da ist es noch nicht ausgemacht, wer am Ende der verlorene Sohn ist. Vom jüngeren Sohn wird berichtet, dass er umkehrte, vom älteren nicht. Verloren sind nicht nur die, von denen man es erwartet. Nicht nur die Obdachlosen und die Alkoholabhängigen, sondern auch die Workaholics und die mit dem Tunnelblick der Karriere. Verloren sind alle, deren lebendige Beziehung zu Gott gestört ist.
Gott wartet noch. Er ist bereit, einem jeden von uns seine konkrete Sünde zu vergeben und einen Neuanfang zu machen: „Er will mir neben sich die Wohnung zubereiten, damit ich ewiglich ihm stehe an der Seiten.“ Dazu ist Jesus König, dass durch seine Herrschaft die Liebe siegt und damit der Himmel voll wird.
Amen.