Jahresempfang der Johanniter in Lüneburg und Umgebung
10. Januar 2012
Wie viel Religion braucht die Gesellschaft?
Ein segensreiches, friedvolles und frohsinniges neues Jahr, meine sehr geehrten Damen und Herrn, liebe Schwestern und Brüder. Das ist das Wichtigste vor allem anderen: Segen, den ich Ihnen von Herzen wünsche. Ebenso herzlich danke ich für die freundliche Einführung, lieber Herr von Borries, sowie für die Einladung hierher in den Michel Lüneburgs – ein prägnanter und würdiger Ort für den Neujahrsempfang der Johanniter in Lüneburg. Ich freue mich, zu Ihnen reden zu dürfen.
Wie viel Religion braucht die Gesellschaft? Eine Frage, die mich schon deshalb beschäftigt, weil es „wie viel“ heißt. Nicht allein ob, sondern wie viel - typisch für unsere Gesellschaft, mögen Sie sagen. Ist doch deren Leitmotiv, was „es“ „mir (nicht) bringt“. Und so kreisen persönliche und politische Themen immer wieder ums „Wie viel“:
- wie viel Einkommen man hat und wie viel einflussreiche Freunde;
- wie viel Kilos man wiegt;
- wie niedrig die Zinsen und wie hoch Hartz IV ist – gemessen wiederum an dem errechneten Verbrauch der 15% Geringstverdienenden – und so weiter und so weiter.
Wir leben in einer Welt der Quantität. Wert und Selbstwert werden bemessen. Gleichzeitig wissen wir alle, dass die Fragen, die uns wirklich umtreiben, tiefer gehen. Existentieller sind. Die Quantität trifft nicht das Eigentliche. Im persönlichen Leben ebenso wenig wie bei den politisch brisanten Themen. So ist die Frage nach Religion – nach einer Kategorie also, die per se unermesslich und tiefgründig alles sprengt, was wir denken können – eine Bewegung der Qualität, eine Suche nach dem Eigentlichen.
Ich erlebe, dass viele Menschen suchen. Und auch wenn sie es anders nennen, wage ich die Behauptung: Sie suchen, was zugleich Ziel und Schatz unserer Religion ist, nämlich die Qualität von Leben. Lebensfreude. Oder theologisch: Herrlichkeit. Kurz: Das, was einen morgens zuversichtlich aufstehen lässt und am Lebensabend zufrieden gehen. Wie viel Religion braucht die Gesellschaft – das Thema bewegt deswegen Gläubige aller Religionen genau so wie Atheisten, Zweifler und Kritiker. Dabei wird viel darüber gerätselt, ob es denn nun tatsächlich etwas auf sich habe mit dem neu erwachten religiösen Interesse oder gar einer Renaissance kirchlicher Rituale. Dies allerdings oft unausgesprochen mit dem inneren Bild, dass da eben nicht viel ist. Dass einem – speziell in der evangelischen inszenierungsspröden Kirche – leere Kirchenbänke, trostlose Worthülsen und müder Gesang entgegen gähnen.
Glücklicherweise sind Sie ja heute das beste Gegenbeispiel. Auch beim Singen….
Mein Vortrag ist ein Versuch, hinter diese Klischees zu schauen und den Dingen hinter den Dingen auf die Spur zu kommen. Denn sie sind es, die uns in unserem Leben am meisten berühren, weil sie uns wert und teuer sind. Liebe, Freundschaft, Ehre, Trost, Klarheit. Alles „Dinge“, die man nicht kaufen, verwerten, ja die man nicht erklären kann und die uns vielleicht bis ans Lebensende ein Geheimnis bleiben.
Und so komme ich nach dieser Einleitung zu dem ersten der vier Themen im Thema:
1. Religion und Werte
In der Wertedebatte des letzten Jahrzehnts hat man die Religion – vorzugsweise in Gestalt der Kirchen – als die Instanz verstanden und herausgefordert, die für die Vermittlung und den Erhalt menschlicher und gesellschaftlicher Werte zuständig sei. Basieren doch die abrahamitischen Religionen (Judentum, Islam, Christentum) auf dem generell anerkannten und ältesten Wertekanon: den 10 Geboten. Unantastbar sind hier das Leben, die Liebe, die Achtung, die Würde, das zur Ruhe kommen – auch und gerade am Sonntag. Unantastbar ist das Eigentum, besonders das des anderen, versteht sich.
Interessant an der lang geführten Wertdebatte der letzten Jahre finde ich, dass sie eigentümlich diffus, ja fleischlos geblieben ist. Das mag daran liegen, dass der Wertebegriff kein klassisch christlicher, sondern letztlich ein ökonomischer Begriff ist. Werte verstanden als Handelsgegenstände, die man herstellt und eintauscht, sind etwas Schwankendes. Also gerade nicht prinzipiell oder grundlegend ethisch. Anders wird es, wenn man nach dem Eigentlichen fragt. Wenn Menschen darüber ins Gespräch kommen, was ihnen persönlich wert ist. Oder, um es in religiöser Sprache zu formulieren, was ihnen heilig ist. Dann wird es lebendig, kräftig, klar. Was ist uns heilig oder - so die Übersetzung des Begriffes aus dem Hebräischen – unantastbar? So wertvoll, dass wir es schützen würden um jeden Preis?
Diese Frage ist für unser Thema zielführend. Denn erst mit der Rückbindung an das Eigentliche –der Re-ligio – erreicht man den tieferen Ernst, mit dem der Mensch sich einsetzt für das Leben und die Würde in der Alltäglichkeit. Werte und Lebensqualität, das ist meine These, sind etwas höchst Persönliches. Sie bestehen eben nicht allein aus einem normativen Wertekanon, den auszurufen die Gesellschaft allerorten immer gern an die Kirche delegiert. Werte und damit verbunden wirkliche Lebensqualität hängen vor allem davon ab, dass jeder Mensch hier sich selbst ein Herz fasst und sich entscheidet. Sich einsetzt. Weil etwas unbedingte Priorität hat. Unantastbar wertvoll ist. Und um dafür eine Sprache zu finden und Verständigung zu erzielen, ist Religion, ist Kirche auch als Institution in unserer Gesellschaft unverzichtbar.
Und also: was ist Ihnen, was ist uns heilig? (Gespräch zu zweit)
Ich vermute: Sie haben zunächst und spontan die Familie genannt, das gerade geborene (Enkel) Kind, die Partnerschaft, die Sinnhaftigkeit im Beruf, Vertrauen, Freundschaft. Ganz wichtig auch die Dankbarkeit. Und dann mögen Sie auf den Mittagsschlaf oder erste Tasse Kaffee am Morgen gekommen sein und zugleich gedacht haben: „Nein, also das ist mir wichtig, aber heilig? Ist das nicht zu profan?“ Mitnichten – denn es sind alles Dinge und Ereignisse, die die Kraft haben, selig zu machen. Ruhe zu geben. Und sei es nur für einen Moment. Glücksmomente eben, die man nicht bestellen, die man nur empfangen kann.
So davon zu reden, was uns heilig ist, halte ich für eine lebenswichtige Übung für eine humane Gesellschaft. Denn wir stellen auf diese Weise eine Verbindung her zu unserem Innersten und damit zurück zu dem, was oft nur verschüttet da ist: dem Vertrauen, dass es gut ausgeht. Dem Vertrauen also, dass es eine Macht gibt außerhalb meiner selbst, die mich schützt - auch vor meinem eigenen Misstrauen. Eine Macht, in deren Wirksamkeit ich eingebunden bin. Auch hier wieder die Rück-bindung, re-ligio: nämlich zu Gott hin, der Glück schenkt, das nicht von dieser Welt ist. Der es mit aushält, dass es gerade in den kritischen Situationen unseres Lebens keine leichten Lösungen gibt.
Szenenwechsel: Ein Mittagsgespräch der ganz anderen Art
„Heilig ist die Liebe“, antwortet mir der Alevit auf meine Frage. „Sie ist größer, als der Mensch denken kann und vermag deshalb seinen Blick auf die anderen zu verändern. Und so ereignet sich Gott in der Mitmenschlichkeit.“ Der Alevit weiß, was ihm heilig ist. Und er redet darüber. Um uns herum klappert Besteck und klirren Gläser. Wir befinden uns in einem Restaurant in Berlin: Frauen und Männer muslimischen, syrisch-orthodoxen, alevitischen, katholischen, gar keines Glaubens. Geschäftsleute meistenteils, Imame darunter, die meisten aus der Türkei – und eine Evangelische, ich. Eingeladen vom Hamburger Senat waren wir auf den Weg geschickt, europäische Politik in direkter Anschauung kennenzulernen. Heraus kam eine Weggemeinschaft, die viel mehr teilte als eine Strecke: wir erzählten von uns. Davon, was wir glauben. Was wir nicht glauben. Was uns trägt und was uns verzweifeln lässt. Was uns wert, heilig ist.
Und mir wird bewusst, wie selten solch (inter)religiöse Gespräche gelingen. Denn unglücklicherweise fehlen nicht nur uns Christen zunächst die Worte. Wir wissen gar nicht mehr, was wir sagen können. Das hat zum einen mit dem Traditionsabbruch zu tun. Doch ich glaube, es geht noch darüber hinaus. Letztlich spüren wir in unserem Innersten, dass das Heilige mehr ist als die Formulierung von Werten; es ist etwas an die Grenze reichendes, etwas Unfassbares, Unverfügbares, Vollkommenes, dem man sich rational wie sprachlich nur unvollkommen nähern kann. Das liegt daran, dass das Heilige von seinem Ursprung her Gott selbst ist. Und so erlebt der Mensch seit Urzeiten, so erleben wir, wenn wir dem Heiligen beispielsweise in einer Kirche nahe kommen, dass wir verstummen, mag sein vor Ehrfurcht. Automatisch wird man still, wenn man in einen Kirchraum kommt. Und wenn es solch ein schöner wie St. Michaelis ist, empfindet man neben dieser stillen Ehrfurcht auch dankbares aufgenommen sein. Geborgenheit. Zugehörigkeit. Allemal Lebensqualität.
Seit diesem Mittagslunch in Berlin habe ich Menschen begonnen zu fragen, was ihnen heilig ist. So wie Sie jetzt. Und ich bin beeindruckt, was sie mir nach anfänglichem Zögern erzählen. Ich höre, dass wir wieder Mitgefühl einüben, mit Schuld offen umgehen sollten. Ich höre, dass Nächstenliebe das Wichtigste ist und dass wir etwas tun sollten gegen Armut und Bildungsnot. Ich höre von der Suche nach Gemeinschaft und Wahrhaftigkeit. Ich höre die bange Frage nach den ersten und den letzten Dingen, danach, wie es denn ist beim und nach dem Sterben. Und ich höre ganz oft, gerade von manch ehrbarem Kaufmann die pragmatische Ansage: Was brauchen Sie? Welche Arbeit in Ihrer Kirche kann ich unterstützen?
Ich als Christin höre in all dem die Sprache Jesu, der gesagt hat, dass unser Leben eine Freude sein möge – wie die Hochzeit zu Kana. Ich höre Jesus, der gezeigt hat, dass es zur menschlichen Würde gehört, Schuld und Scheitern zuzugeben. Der gefragt hat, was willst du, dass ich dir tu und der die Menschen erreicht hat - nicht mit heiligen Worten, sondern mit der Sprache des Herzens.
Eine Sprache, die berührt.
Deshalb, meine Damen und Herren, braucht die Gesellschaft Religion: Dass wir berührbar bleiben für das wirklich Wertvolle. Dass wir die Sprache des Herzens wieder üben. Eine Sprache, die uns deuten kann, was wir erleben, mitunter erleben müssen, und allzu oft nicht verstehen. Dazu müssten wir wieder mehr, ohne Scham, „un-verschämt“ davon reden, woran wir glauben. Was uns tröstet. Und ebenso, was nicht mit der christlichen Botschaft vereinbar ist. Selbstkritisch möchte ich dazu sagen: Wir in der Kirche haben aus Furcht, den Zeitgeist samt seiner Anhänger zu verpassen, zu oft die bekömmlichen Seiten christlicher Botschaft herausgestellt und die schwierigen, anstößigen versteckt. Wir wollten modern sein und waren stattdessen still oder opportunistisch. Wie Christen einst Waffen segneten, so neigen wir heute bisweilen dazu, dem allseits Üblichen unter der Hand unseren Segen zu erteilen. U-Bahnen, alles was recht ist, kommen sicherlich auch ohne Weihwasser und Segnung auf die Spur.
Nicht unbedingt aber all die Menschen unterschiedlichster Couleur, die in dieser U-Bahn unterwegs sind. Und die vielfach ein gebrochenes Verhältnis zur Religion – oder besser: zur Institution Kirche - haben. Und so komme ich zum 2. Abschnitt:
2. Religion und Institution – Religion und Kirche
In Dithmarschen, woher ich stamme, ist sie ein Muss. Unbedingt muss die Kirche im Dorf sein – und bleiben. Man erachtet sie sogar als so wichtig, dass man sie intensiv schont.
Sie muss da sein, aber gleichzeitig bleibt man zu ihr in Distanz. Sie muss da sein, um vor allem in Notzeiten auf sie zurückgreifen zu können. Um Halt zu bekommen und Segen. Sie muss auch da sein, um die Schwellensituationen im Leben, die ja immer auch kleine Krisen in einer Familie sind, zu begleiten: bei der Geburt, in der Pubertät, der Partnerschaft, beim Altwerden, beim Sterben.
Kurz: Sie muss an solchen Momenten da sein, wo der Mensch Segen braucht. Zuversicht. Oder mit einem anderen Wort: Kraft, die nicht aus einem selbst heraus kommen kann.
Sie muss da sein, aber man möchte sie nicht brauchen müssen.
Diese Ambivalenz prägt das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Denn religiöse Fragen sind immer existentielle Fragen. Kritische Fragen. Gleich ob sie einen in der persönlichen Biographie betreffen oder gesellschaftlich relevant sind. Sie haben immer etwas zutiefst Ernsthaftes, ja manchmal auch Belastetes. Es geht darum, Grenzsituationen zu überstehen, zu verstehen. Wenn man jung ist und erwachsen wird. Oder wenn man alt wird und sich auseinandersetzen muss mit den Grenzen des Körpers. Wenn man Abschied nehmen muss und der Neubeginn noch nicht in Sicht ist. Religion scheint allemal etwas für die Mühselig und Beladenen. Und dazu mag man nicht gern gehören. Darüber redet man nicht gern. Schon gar nicht im Dorf, in der Gesellschaft.
Doch – so meine These, auf die der Vortrag hinzielt – genau in diesem Sinne gehört Kirche ins Dorf, gehört Religion in die Gesellschaft: Dass sie einen Raum bietet für all das Nichtsagbare, das Tabuisierte, das, was Mühsal macht und Bedrängnis. Es braucht dringend einen Raum für die Warum-Fragen, die nirgends eine Antwort finden. Einen Raum zum Seufzen, zur Klage, zur Anklage. Wo sonst findet man ihn? Religion bietet Raum zum Gespräch, das dankenswerterweise viel mehr kennt als Worte. Sie kennt das Gebet, das Ritual, das Licht, die Musik. Ich habe es in der Seelsorge häufig erlebt, und davon lebt auch mein Glaube: Erst wenn ich die Mühseligkeit, wenn ich (christlich eben!) das Kreuz nicht umgehe, sondern anschaue, erst dann steht auch wieder vor Augen, was davor oder dahinter stets gestanden hat bzw. was einen (wieder) aufstehen lässt: die Heiterkeit und die Kraft und die fraglose Hingabe, die Erleichterung.
So ist Religion ein wichtiger Sprachraum für das, was einen existentiell angeht. Als Jugendliche war das für mich elementar. Kirche war für mich der einzige Raum, der Identität ermöglichte. Weil gerade die protestantische Kirche Freiheit atmete. Sie verlieh der Individualität ebenso Wichtigkeit wie der Toleranz. In der Kirche habe ich gelernt, was ein Diskurs ist, wie man also miteinander sprechen kann und sich tatsächlich einigermaßen verstehen. Wie Unterschiede interessant werden und nicht abgewertet werden müssen. Dass man den Mund aufmacht, wenn etwas nicht stimmt oder jemand ungerecht behandelt wird. Dass Pluralismus nicht Beliebigkeit bedeutet. Dass man der Wahrheit nur mit Ehrlichkeit nahe kommt. Und damit bin ich beim 3. Abschnitt:
3. Religionen als Sprachschule der Gesellschaft
Es braucht dringend Räume für den ehrlichen Diskurs in einer Gesellschaft, die angesichts der Kulturen- und Religionsvielfalt um Identität ringt. Zur Identität einer Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt, dass sie sich mit ihnen befasst. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen faktisch nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir mehr verstehen von uns selbst, der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen.
Dabei ist entscheidend, dass nicht nur geredet wird – interreligiöser Dialog braucht nicht nur gesetzte Grußworte. Sondern identitätsstiftend ist mindestens ebenso das gemeinsame Essen wie eben beschrieben, die gemeinsame Erfahrung und die Begegnung im Alltag. Eine, die die sinnstiftende und tröstliche Kraft der Religion in das hinein trägt, was die Menschen unmittelbar angeht.
Ein Beispiel dazu. In Hamburg haben wir inzwischen schon das zweite Mal eingeladen zu einem Gedenkgottesdienst für Suizidgestorbene. Die Angehörigen sind in einer besonders tragischen Trauer – kreisend um ein Warum, das keine Antwort kennt. Letztes Jahr gelang es, dieses Gedenken in unserer Kirche interreligiös zu gestalten, Nicht nur der Gottesdienst, auch die Vorbereitung dessen war so unerhört eindrücklich, weil eben nicht die Religionen thematisiert waren (warum wir dies tun und jenes lassen), sondern weil Vertreter aller Religionen gemeinsam eines wollten: Den Menschen Trost spenden. Hoffnung geben. Der Klage und der Trauer Raum geben. Und so wurde die arabische Klageflöte umrahmt vom hebräischen Psalm, der Imam zitierte die Sure in einer evangelischen Kirche, der Buddhist leitete die Lichterprozession ein, der Rabbi „von guten Mächten wunderbar geborgen und wir Christen hielten den Rahmen.
Damit in diesem Sinne interreligiöse Begegnung lebt, sich ereignet, ja alltagstauglich wird - was ich als die gesellschaftliche Herausforderung der Zeit erlebe – gehört eines unbedingt dazu: Nämlich dass man die mitunter schwere Aufgabe hat, im eigenen Haus aufzuräumen, heißt: den fundamentalistischen Ausartungen aller Couleur und dem gewaltverherrlichenden Religionsmissbrauch entschieden entgegenzutreten. Und dazu braucht es viel. Guten Religionsunterricht etwa. Oder Schulen unterm Kirchturm, in dem schon das Kind die Herzenssprache übt und lernt, was dem anderen heilig ist. So wie es folgende kleine Begebenheit auf den Punkt bringt: Freunde von mir haben vor einigen Jahren in Simbabwe gearbeitet. Ihr kleiner Sohn, damals 4 Jahre alt, hatte es anfangs schwer, sich einzugewöhnen: Im Kindergarten schaute er verblüfft auf die vielen weißen wie schwarzen Kinder, die immer etwas sagten, was er nicht verstand. Und umgekehrt schauten die anderen ihn erstaunt bis feindselig an, wenn er sich verständlich zu machen versuchte. Nichts wünschte er sich sehnsüchtiger als einen Freund. Eines Mittags kommt er aufgeregt nach Hause und erzählt seinen Eltern, dass er nun endlich einen Freund gefunden habe. Ob er denn genauso alt sei und was die Eltern machten, erkundigten sich unsere Freunde einfühlsam. So nach und nach – schließlich ist man progressiv und frei von Vorurteilen – fragten sie dann auch, ob sein Freund denn weiß sei oder schwarz? „Woher soll ich denn das wissen?“, fragt ihr Sohn empört zurück. „Er ist doch mein Freund!“
4. Die Seligpreisungen als Leitfaden christlichen Handelns in der Gesellschaft
Zunächst: Unser christlicher Glaube konstituiert sich in einem besonderen, komplizierten und für viele schwer verständlichen Gottesbild. Er steht und fällt mit dem Christusbekenntnis. Damit, dass wir Christus, gekreuzigt und auferstanden, als Gottessohn bekennen und glauben. Wir bekennen, dass er eben nicht allein ein guter Mensch und Prophet war. Sondern dass Gott selbst in ihm gelitten hat. Im Reich des Todes war. Den Tod überwunden hat. Und uns ausgesandt hat, davon zu erzählen. Wir bekennen damit einen mitfühlenden, einen mitleidenden – sympathischen Gott in Christus. Und das heißt logischerweise: es lässt uns nicht ohne ethische Aufgabe in der Welt. In klaren Sätzen der Seligpreisungen bringt Jesus auf den Punkt, was die Gesellschaft unbedingt braucht. Damals wie heute.
Die Seligpreisungen stellen auf den Kopf, was wir in der eingangs beschriebenen Gesellschaft der Quantität denken. Das Glück ist eben nicht allein mit den Tüchtigen. Mit den Erfolgreichen. Denen, die viel geschafft, die sich Meriten verdient haben. Und Titel.
Nein, selig, glücklich sollen auch die anderen sein, die nicht Gesehenen, die Ausgegrenzten, Verarmten, die ungerecht Behandelten, die, die nichts leisten können. Ihnen gehört das Himmelreich.
- „Glücklich die Trauernden, denn sie werden getröstet“ heißt es – und wir hören dabei, dass wir etwas tun sollen gegen die Verdrängung von Tod und Leiden, gegen die Tabuisierung von Depression, Burn-out und Suizid.
- „Glücklich sind die Sanftmütigen (Freundlichen), denn sie werden die Erde erben“, heißt es und es bedeutet, dass wir etwas sagen müssen gegen die Ellbogenmentalität und Ich-Bezogenheit.
- Glücklich die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden, heißt es. Und es bedeutet, dass wir mit Herz gegen halten gegen soziale Kälte und Selbstgerechtigkeit. Und dass wir uns bewusst werden, wie oft man auf die herabsieht, die viel zu viel Kilos, zu viel Pech, zu viel Verlust hatten. Denn selig sind die Barmherzigen.
- Und schließlich: Gegen rechthaberischen Parteienstreit und unglückselige Hetzreden heißt es: Glücklich die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Sicher nicht Sie als Johanniter, doch andere entgegnen mir oft, dass die Seligpreisungen zwar ein wunderschöner Text seien, aber leider eine Utopie und darum unbrauchbar für unsere harte Wirklichkeit. Und ich entgegne dann: Ja, es ist eine Vision, dass Frieden gestiftet werden kann und andauern …Doch eine, die wir brauchen. Weil sie immer damit rechnet, dass sich real etwas ändert. Dass die Welt besser wird. Was täten wir ohne die Erinnerung an die Zukunft? Die Seligpreisungen sind für Christinnen und Christen die Herausforderung, die uns herausreißt aus der Versuchung, die Hände im Schoß und die Herzen lau zu lassen, weil sich eh nichts ausrichten lässt. Sie, die Johanniter, sind dafür doch das beste Beispiel!
Glücklich also die Gesellschaft, die ihre Religion braucht. Denn sie ist die Verheißung von Zukunft und sie ist Vergewisserung des Lebens. Die Religionen sind vereint darin, dass sie sagen, wir eben mit den Seligpreisungen: Gott ist Urgrund der Existenz – glücklich der Mensch, der dazu eine Beziehung findet. Und so braucht unsere Gesellschaft mit so vielen Sprachen, Kulturen, Religionen, Konfessionen vor allem dies: eine Gemeinschaft der Religionen gegen die Gottvergessenheit.
Ich wünsche Ihnen ein gnadenreiches neues Jahr.