Von Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn (Schwerin)

Kurzansprache Zarrentin 9. November 2009

09. November 2009 von Andreas von Maltzahn

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Es ist dieselbe beglückende, erschütternde Erfahrung – bei Josua wie in der  friedlichen Revolution: Der Fluss des scheinbar Unabänderlichen kann  angehalten werden. Menschen bleiben nicht länger blockiert. Sie gehen hinüber  in ein neues Land – Land, auf dem Verheißung liegt. Das ist möglich – gegen  alle gängige Erfahrung. 

1989: Ein Volk, das geübt und niedergehalten war in Anpassung – dieses Volk  richtet sich auf und lebt den Traum der Befreiung. Die einen füllen westliche  Botschaften, die anderen die Kirchen. In einem Land, in dem alles „seinen  sozialistischen Gang ging“, in dem das geflügelte Wort galt „Lieber zehn Fehler  mitmachen, als einen allein“  – in diesem Land nahmen Menschen ihr Herz in  beide Hände, übernahmen Verantwortung und zeigten der allmächtigen Partei:  „Wir wollen nicht mehr so weiter leben!“  

Eine Zeit aufblühender Träume war das damals  – zum Beispiel, einen dritten  Weg entwickeln zu können jenseits der ausgetretenen Pfade von Sozialismus  und Kapitalismus. Und es war eine Zeit der Hoffnung auf nicht weniger als die  Verwandlung des Lebens. Zeit der Hoffnung, nicht des Optimismus  –  wie  Vaclav Havel zu recht sagt: „Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht  die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas  Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“

Nein, wir wussten nicht, wie alles ausgehen würde. Der Beifall der  Politbürokraten für das Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“  hallte in uns nach. Und so erinnere ich, als wäre es heute, mein Bangen am  9.Oktober um die Leipziger Demonstranten. Meine Schwester war unter ihnen.  Betriebe in der Innenstadt hatten Order, ihre Angestellten früher nach Haus zu  schicken. Kampfgruppen und Bereitschaftspolizei waren zusammengezogen  worden. Gerüchte machten die Runde von Vorbereitungen in den  Krankenhäusern, den erwarteten Strom der Verwundeten aufzunehmen.  Welch  eine Erleichterung, dann im Radio zu hören: 70.000 Menschen ziehen um den  Ring, und alles ist friedlich!  Gott sei Dank! Was für eine Erfahrung: Der Geist  der Bergpredigt war übergesprungen auf eine Bewegung, die sich selbst und  anderen zurief: „Keine Gewalt!“ Auf alles war der Staatsapparat mit Lagern und  Repressalien vorbereitet gewesen, aber nicht auf Kerzen und Gebete. „Vom  Herrn ist’s geschehen und ein Wunder vor unseren Augen.“ (Ps 118,3)

Und dann fiel die Mauer. Ich entsinne den Morgen danach, im Radio die  überglücklichen Menschen hüben wie drüben, Menschen, die sich zumindest für  eine Nacht als Brüder und Schwestern erlebten. Meine Tränen flossen an diesem  Morgen, denn mir war, als würde ein unsichtbares, bleiernes Kleid von mir  genommen, eine Last, die ich wohl oft nicht bewusst wahrgenommen, aber ein  Leben lang mitgeschleppt hatte. In der Erleichterung dieses Morgens spürte ich: 
• Es würde vorbei sein damit, dass Lehrer Kinder in der 2.Klasse aufstehen  ließen, um sie wegen ihres Glaubens an Gott von den Mitschülern  auslachen zu lassen.
• Es würde ein Ende haben mit der Schizophrenie der Erziehung, dass  Eltern ihren Kindern beibrachten: „Wir denken so, aber in der Schule  musst du so und so sagen.“
• Echte Wehrdienstverweigerung würde möglich werden und nicht länger  mit zwei Jahren Knast bestraft werden. 
• Niemand würde mehr Angst haben müssen, als Flüchtling erschossen zu  werden oder in jahrelanger Haft Schaden an Leib und Seele zu nehmen.
• Es würde vorbei sein mit der Bespitzelung eines ganzen Volkes und dem  Verbiegen von Menschen.
Was für eine Erleichterung, das bleierne Kleid der Unfreiheit nicht mehr tragen  zu müssen!

Schwestern und Brüder, das Psalmwort „Mit meinem Gott kann ich über  Mauern springen“ (Ps 18, 30b) – es hat einen neuen Klang für uns bekommen.  Es ist bleibende Erfahrung unseres Lebens: Der Fluss des scheinbar  Unabänderlichen kann angehalten werden. Ungeahnte Möglichkeiten tun sich  auf. Menschen brechen auf zu neuen Ufern, die unerreichbar waren.

Wir erinnern dies, um lebendig zu bleiben. Wir erinnern uns an diese Erfahrung,  damit nicht wieder einfach „alles seinen Gang geht“. Wir lassen uns die  Gestaltung dieser Gesellschaft nicht aus der Hand nehmen, denn wir sind ihre  Mitgesellschafter. Darum werden wir uns nicht abfinden mit der zunehmenden  Armut. Wir erklären uns nicht einverstanden mit der wachsenden Kluft  zwischen Arm und Reich, mit Klimakatastrophe und Casino-Kapitalismus. Wir  haben es erlebt und halten daran fest: Die Verhältnisse müssen nicht so bleiben,  wie sie sind. Friedliche Revolution ist möglich.

Amen.

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