„Lebensgeister - die Rolle von Spiritualität und Religion im Quartier"
07. Februar 2012
Liebe Schwestern und Brüder, sehr geehrte Damen und Herren, ich bin – wie eben Pastor Ellendorf für sich schon gesagt hat, ebenfalls ein „Newcomer“ in Sachen „Q8“. Ich habe sogar vielleicht nicht die richtigen Vorstellungen darüber, was eigentlich ein Quartier ist. Ich vermute, das Quartier beschreibt das, was früher einmal die Stadtteile waren? – Wie auch immer: als geborener Hamburger, der im Stadtteil (oder Quartier) Hamburg- Rahlstedt aufgewachsen ist, weiß ich aus eigener Erfahrung: Keine Metropole ist derart dörflich organisiert, wie die Metropole Hamburg! Hier finden sich Stadtteile mit starkem Selbstbewusstsein. Als ich klein war, fuhren meine Schwester und ich häufig mit der Bahn von Rahlstedt aus zum Hauptbahnhof. Dann verabschiedeten wir uns zu Hause: „Wir fahren in die Stadt!“
Ich höre noch heute meine Großmutter energisch widersprechen: „Ihr fahrt nicht in die Stadt, sondern nach Hamburg!“
Ja, man ließ sich nicht einfach vereinnahmen, auch nicht durch eine Gesetzgebung, die Jahre zuvor dafür gesorgt hatte, dass Rahlstedt nicht mehr zu Stormarn, sondern zu Hamburg gehören musste. Man war etwas Eigenes, hatte den eigenen Wert.
Das ist, liebe Schwestern und Brüder, alles andere als provinziell, wie man vorschnell urteilen könnte. Dieses Selbstbewusstsein hat etwas durchaus Liebenswertes, Vitales vor allem. Man weiß voneinander, man weiß etwas über den Wert von Nachbarschaftlichkeit, Kenntlichkeit, Beheimatung. Man weiß etwas von dem Wert der Überschaubarkeit, der Kenntnis von den sozialen Vorgängen umeinander.
Um nichts anderes geht es doch bei der Entwicklung der Quartiere. Und um nichts anderes geht es auch den Kirchengemeinden: um Beheimatung, Vergewisserung – um Identität.
I
Eine Erlebnisgeschichte aus dem Quartier, in dem ich lebe: Es ist die Zeit der Punschstände auf den Straßen – zur Weihnachtszeit. Ich gehe dort hin, um Menschen zu treffen, um zu hören, was geschieht in meiner Umgebung.
Aus dem reichhaltigen Angebot wähle ich Punsch „mit Schuss“. Als ich das der Verkäuferin so sage, kommentiert sie zustimmend: Ja, mit Schuss! Ganz recht, Herr Bischof – das weckt die Lebensgeister! Etwas Warmes braucht der Mensch…“
Es ist nur wenig Platz an den aufgestellten Stehtischen. Also stelle ich mich zu fremden Menschen dazu, frage höflich, ob ich mich da neben sie stellen darf. „Natürlich, kein Problem, kommen Sie.“ Der Mann neben mir schlürft an seinem Pusch und seufzt: Das tut gut! Das weckt die Lebensgeister… Wir quatschen ein wenig, schnell sind wir beim Beruf. Ach, Pastor sind sie? Is´ ja interessant – und dann gibt es bei dem Herrn kein Halten mehr. Wir reden über Glauben und Zweifel, über Erwartungen und Enttäuschungen, über Sehnsüchte.
Oder: ich habe zu wenig Bewegung. Also besuche ich seit einiger Zeit ein kleines Fitness-Studio. Schwitzend bearbeite ich eines der Geräte, da kommt von dem Nebengerät: „Na, müssen Bischöfe das auch tun…? – Es entspannt sich ein Gespräch über Gott und die Welt, von Versagen und Erwarten, vom Leben in Schleswig; von sozialer Gemeinschaft, von Träumen und Zugehörigkeiten.
Das ist die erste Überzeugung, die ich nenne: Gemeinde ist nicht zuerst da, wo ihre Gebäude stehen und ist auch nicht nur, wenn sonntags die Glocken läuten. Gemeinde ist da, wo wir uns dazustellen, zeigen, wer wir sind, was uns trägt, was wir glauben. Gemeinde ist da, wo wir uns öffnen für das Quartier und wissen: wir gehören dazu – mit unserer Identität, mit dem ganz Eigenen, für andere vielleicht Fremden.
Gewiss, Religion ist Privatsache. Aber eben auch: Wer einer Religion angehört und diese Zugehörigkeit lebt, der wird erkennbar und ansprechbar auf das, was ihn so umtreibt. Das ist dann Religion am Punschstand, Religion auf dem Marktplatz oder eben im Fitness-Studio. Religion ist da, wo wir stehen zu dem, was wir glauben und eben nicht schweigen. Und da ich mich als „professionell“ religiöser Mann, ja Kirchenmann erkennbar mache, vollzieht sich ein Teil dessen, was „Volkskirche“ ausmacht. Nämlich Kirche – evangelische Kirche – verstanden von ihrer Botschaft her, die auszurichten ist an alles Volk, die also sich richtet an alle Menschen.
Kirche ist mehr, als die sichtbare Organisation. Martin Luther spricht zusätzlich von der „unsichtbaren Kirche“, die lebt, wo geglaubt und verkündigt wird. Und so ist „Gemeinde“ eben auch nicht nur die Ortsgemeinde, mit der Kirche mittendrin. Gemeinde ist da, so sagt es unser Bekenntnis, „wo das Wort verkündigt und die Sakramente recht verwaltet werden“ (Confessio Augustana, Art. VII). Das Wort macht Gemeinde. Wo es verkündigt, weitergegeben wird in Wort und Tat, da ist Gemeinde. Also auch in den Diensten und Werken; auch in der Diakonie; auch in der „Alsterdorfer Assistenz“; auch in den Bürgerplattformen; auch in den KiTas usw.
Jesus Christus ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments nicht nur irgendwie „Herr der Kirche“ oder „Heiland“ für die, die sich zu ihm zählen. Nein, er ist Herr der Welt und Heiland aller Menschen! Die Weihnachtsbotschaft der Engel „Und siehe, ich verkündige euch große Freude …, denn euch ist heute der Retter geboren“ ist eine gute Botschaft für alle!
Ich will das genauer ausführen:
II
„Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller.“
Dieser eine kurze Satz zeigt an, um was es geht – und was zugleich auf dem Spiel steht. Es geht immer wieder um das eine Grundbekenntnis der weltweiten Christenheit, das der Apostel Paulus im Epheserbrief formuliert hat. Es geht um unser gemeinsames Fundament, auf dem die eine heilige apostolische Kirche weltweit steht. Das ist der Fels, auf dem das Kirchen-Haus zu bauen ist, damit es fest steht. Ein Fundament braucht jede Gemeinschaft, braucht jedes Haus – damit sich entwickeln kann der Raum der Verschiedenen, damit Unterschiede nicht trennen, sondern als Reichtum verstanden werden können.
Das Grundlegende, das Fundamentale, das Selbstverständliche, es versteht sich eben keineswegs immer von selbst. Im Gegenteil: Wie oft braucht gerade das Selbstverständliche die Einübung und die Pflege, damit es tatsächlich im alltäglichen Getümmel des Lebens da ist, präsent ist, vor unser aller Augen ist. Das ist umso wichtiger in einer Gesellschaft, in der es verschiedene kulturelle Räume, Gebäude und Glaubensfundamente gibt.
III
Ich erinnere an das große Gebet Jesu, wie es der Evangelist Johannes aufgeschrieben hat. Im Kapitel 10 des Johannesevangeliums: „Ich bitte für die, die an mich glauben werden, damit sie alle eins seien – wie du, Vater, in mir bist und ich in dir.“
Jesus – so heißt es da – hob seine Augen auf zum Himmel, und betete für seine Jünger um Einheit und Frieden untereinander. Ein Inklusionsgebet. Auch dieses Gebet ist universal zu verstehen – die Bitte schließt ein alle Menschen!
Diese kleine Bewegung des bittenden Christus, dieses Aufheben der Augen zum Himmel, das ist es, was mir, liebe Schwestern und Brüder diesen kleinen Text schon so lieb macht. Auf dieser kleinen Bewegung liegt genau so viel Segen wie auf den Worten, die dann folgen. Oder besser: Die Wahrheit und der Trost, die liegen in den Worten, die Jesus zu Gott hin fürbittend spricht, haben ihren Grund in dieser Bewegung hin zum Himmel. Da streckt sich einer – in vorbildlicher Weise – zu Gott hin aus! Da erwartet einer – in vorbildlicher Weise – etwas Gutes von Gott, dem Vater im Himmel. Da hebt einer – in vorbildlicher Weise – die Augen auf zum Himmel und bringt sich selbst in die Haltung des Bittenden. In die Haltung dessen, der eben nicht alles aus sich selbst heraus kann. Sondern in die Haltung dessen, der sich selbst als hilfsbedürftig versteht und der es wagt, sich selbst als der Hilfe bedürftig vor die anderen Menschen hinzustellen. Ja, gewiss, Jesus Christus, der eine Herr! Aber eben – auf eine sehr besondere Weise: stark und mächtig und vorbildlich in seiner Geste der Hilfsbedürftigkeit; stark und mächtig und vorbildlich in seiner Geste der Schwäche. Jesus Christus – der Herr – gerade in der Haltung der Demut, mit leeren Händen vor Gott stehend – voller Zuversicht, dass Gott selbst sie füllen wird mit seinem Segen.
Spiritualität im Quartier, evangelische Spiritualität im Quartier, meine Damen und Herren, das ist für mich zu allererst: Einübung in diese Haltung der Demut.
Und das ist ein entscheidender Beitrag für das Zusammenleben im Quartier: die Orientierung an einem Bild vom Menschen, der nicht perfekt, fehlerfrei funktioniert; der die Grundlagen, von denen er lebt, sich nicht selber schafft. Der weiß, dass er abhängig ist, lebt aus der Zuwendung anderer. Der Mensch hat seinen „Wert“ nicht nur nicht aus sich allein, sondern darüber hinaus auch nicht aus dem, was er leistet, was er bringt, was er kann. Er ist, was er ist, weil er so gewollt ist – von Gott, durch die Liebe, durch die Annahme. Oder, theologisch ausgedrückt: aus Gnade leben wir, nicht aus eigener Macht.
Das ist eine wichtige Botschaft für das Zusammenleben in einer Gesellschaft, die auf Stärke setzt, auf Erfolg, auf Leistung. In der der Mensch zusammenschnurrt zu einem „homo oeconomicus“ oder in der der schwache Mensch zunächst ein Kostenfaktor ist.
Der Mensch ist ein Wesen in Beziehung – und darin, nach unserem Glauben, ein Ebenbild Gottes. Gottes, der ein Gott in Beziehung ist, der herunter kommt, die fehlerhaften Menschen annimmt, sie besucht, aufrichtet, stärkt. Der sagt: liebe deinen Nächsten wie dich selbst – und darin Gott!
Dieses Menschenbild bleibt nicht bei sich, auch nicht in der christlichen Gemeinschaft, sondern drängt darüber hinaus: es kommt aus dem Glauben, geht aber in die Zuwendung zu den Menschen unabhängig von ihrer Kultur, ihrem Milieu, ihrer Religion. Christen, die „aus der Taufe gekrochen“ sind, fragen nicht zuerst nach Taufscheinen. Sie fragen neugierig nach dem Menschen, seinen Sehnsüchten, seiner Hoffnung, seiner Geschichte. Grundlage aller Diakonie z. B. ist dieses Menschenbild: fehlerfreundlich!
IV
„Ich bitte für die, die an mich glauben werden, damit sie alle eins seien – wie du, Vater, in mir bist und ich in dir.“
Als Christenmensch glauben, liebe Schwestern und Brüder, heißt in Christus sein und bleiben, heißt mit ihm selbst untrennbar verbunden sein, zu vertrauen auf seine unverbrüchliche Treue und Nähe. Und darin ist gelegt der Grund für unsere Einheit auch miteinander als Brüder und Schwestern.
Und zugleich gilt: Das, was vor Gott und in unserem gemeinsamen Bekenntnis wahr und wirklich ist, das soll und muss für uns selbst immer wieder neu wahr und wirklich werden. Und es wird wahr und wirklich nicht in erster Linie dadurch, dass es als unser gemeinsames Bekenntnis aufgeschrieben steht und Platz in unserem Kopf hat. Sondern, in erster Line wird es für uns wahr und wirklich dadurch, dass wir selbst die Einheit leben und die Ökumene aktiv gestalten. Ökumene, gelebte Einheit, ereignet sich immer dann, wenn sie aktuell bekannt wird und wenn sie gelebt wird im geschwisterlichen Miteinander. Wenn wir bezeugen das Evangelium von Jesus Christus in Wort und Tat.
Mit den Worten meiner Tradition kann ich es auch so sagen: In der Confessio Augustana von 1530, lese ich den mir lieben Artikel, der da heißt: „Es wird gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss und bleiben wird...“ (CA, Art. 7).
Gott selbst ist der Garant dieser Bekenntnissätze und er selbst wird sorgen für seine Kirche und immer wieder Wehen lassen den Heiligen Geist, wo er es und wann er es will.
Aber zugleich und damit verbunden ist entscheidend, dass dieses Bekenntnis immer wieder neu sich ereignet und Wirklichkeit wird dadurch, dass ich selbst es mir zu eigen mache, dass ich selbst es mir zu einer Wahrheit mache, die mich trägt und der ich mich verpflichtet fühle in meinem Tun. Also: Ich bekenne ... darum geht es!
Und es geht um Toleranz. Duldung heißt das, steht im Lexikon. Den anderen dulden, aushalten. Klar. „Wir sind tolerant“. Das klingt oft nach Selbstgerechtigkeit, Selbstgenügsamkeit. Natürlich geht es auch um Grenzen, die jeder von uns hat und braucht; geht es um die Wahrheit, die wir erkannt haben und bekennen. Und ohne die ich mich nicht öffnen kann dem anderen, dem Fremden. Inklusion heißt nicht: gleich machen alle. Sondern: Raum erkennen und schaffen für die Verschiedenen, die Fremden. Aber es gibt noch eine andere Seite der Toleranz: sie ist eine Haltung, die rechnet mit der Ergänzungsbedürftigkeit, rechnet mit der eigenen Unfertigkeit; sie rechnet damit, dass in dem Anderen, dem Fremden, die eigene notwendige Ergänzung zu finden sein könnte.
Solche Toleranz rechnet damit, dass Gottes Spielräume allemal größer sind als meine Möglichkeiten zu denken und zu handeln.
Dazu gehört auch dies: wir haben uns sehr gut darin trainiert (auch in der Kirche), einander und unsere Umgebung danach zu beurteilen, was alles fehlt, was besser sein könnte, was wir nicht gesagt, getan, gekonnt haben. Wir beurteilen uns und andere gern nach den Defizit-Befunden!Toleranz aber führt in eine andere Haltung: sie fragt nach dem, was gelingt, was ist, was gesagt, gefragt, gekonnt ist; fragt nicht zuerst nach dem, was uns trennt, sondern benennt, was uns gemeinsam ist oder werden könnte.
Dann, liebe Schwestern und Brüder, wenn wir so herangehen an unser Leben und unser Quartier, werden wir einen guten, konstruktiven Umgang finden mit dem, was noch nicht so gut, verbesserungsfähig sein könnte.
Also: erst die Wertschätzung, dann die Hinterfragung. Auch das steckt in der Geste Jesu zum Himmel!
Für mich ist dabei immer wieder neu wichtig, dass wir teilen und erzählen einander die Erlebnisse, die wir in uns tragen von gelebten ökumenischen Begegnungen. Wir sind auch als ökumenische Menschen verstrickt in Geschichten, verstrickt in Geschichten gelingender oder auch mühsamer Ökumene. Verstrickt in Geschichten in unserem Quartier – nämlich mit den Menschen anderer Glaubensgemeinschaften und auch anderer Religionen.
Ökumenische Gespräche, Dialoge mit den Konfessionen und Religionen sind für mich eine Quelle der Vergewisserung meines Glaubens und auch meines Bekenntnisses. Ich denke z. B. an die Begegnungen in den Diözesen Ely und Durham in England, unseren Partnern der Anglikanischen Kirche. Wie sehr wissen wir, dass wir einander brauchen mit unseren unterschiedlichen Geschichten, der unterschiedlichen Geschichte auch – um zu lernen immer neu, wie wir uns an Gott wenden können. Wir sind doch als Leib Christi angewiesen auf die anderen Glieder, auf ihre ganz besondere Funktion am Leib, auf ihre Muskeln oder Nerven. Und es ist ein Geschenk, dass die geschwisterlichen Gespräche über alle konfessionellen Grenzen hinweg uns nicht nur mit dem bekannt gemacht haben, was nach wie vor trennt und schmerzlich zwischen uns steht. Es ist ein Geschenk, dass wir Schritte tun können, um Trennendes zu überwinden und Gemeinsames stark zu machen, dass wir Ängste verlieren vor dem Anderen.Ich denke an meinen Besuch beim Lutherischen Weltbund in Genf. Da ist nicht nur der Streit um die Ordination der Frauen ins priesterliche Amt – den gibt es auch. Oder auch den Streit um die Ordination von Männern oder Frauen, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben. Da ist vor allem die gemeinsame Verantwortung für das Zeugnis in der Welt und die gemeinsame Verantwortung für die Schwachen und Elenden, für Frieden und die Schöpfung Gottes. Das große Flüchtlingslager in Dadaab, in Kenia, wird z. B. geleitet und organisiert von Mitarbeitenden des Lutherischen Weltbundes.
Das ist eine Kernüberzeugung für uns Christenmenschen: der Friede mit Gott führt in den Unfrieden mit der Welt. Wer sich bekennt zu dem Gott, der sich den Armen zuwendet, der kann nicht sich zufrieden geben mit dem, was ist, der kann nicht schweigen, wenn Diktatoren ihre eigenen Völker verfolgen; der kann nicht zusehen, wenn Kinder vergessen sterben in einer reichen Gesellschaft. Der wird den Mund auftun und widerstehen – und da schon entsteht Gemeinschaft, entsteht Gemeinde.
Ich habe im Oktober die Jeypore-Kirche in Indien besucht, unsere Partnerkirche dort. Diese Kirche versucht seit vielen Jahrzehnten, das alte Kastensystem zu überwinden, Adiwasi- und Dalit-People miteinander in Gemeinden zusammen zu bringen, alte Fronten aufzubrechen. Dabei geht es nicht um die Forderung, die alten Kulturen abzustreifen, sondern mit dem Reichtum der je eigenen Kultur Beiträge zu leisten für das gemeinsame Fundament.
Im 2. Buch der Chronik im Alten Testament wird von der Einweihung des ersten Salomonischen Tempels berichtet. Viele kommen, um zu feiern. Alle reden, singen, spielen, wie sie können und wie es ihnen eingegeben ist. Und dann sagt der Chronist, dass in all dem Stimmgewirr es klingt, als würde mit einer Stimme gelobt: der Barmherzige, der Gnädige. Und es wird erzählt, wie die Wolke des Geistes den Tempel füllt, so dass die Priester nicht zu ihrem Dienst herzutreten können. – Das ist ein wunderbares Beispiel für das, was Martin Luther später das „Priestertum aller Glaubenden“ genannt hat. Es kommt auf jede Stimme an. Und nur, wenn jede einzelne, verschiedene Stimme Raum greifen darf, kann ein Gemeinsames daraus werden! Jeder, der im Chor singt, kennt das. Du musst jede Stimme trainieren, vor allem aber: hören, damit daraus ein Chor werden kann.
Nur so kann ein Quartier sich entwickeln – wenn alle mit einstimmen, aufeinander hören und einander gewähren lassen!
„Die Kirche der Zukunft ist eine ökumenische Kirche oder sie ist überhaupt nicht Kirche“, hat einst der evangelische Theologe Ernst Lange gesagt. So ist es – und so haben wir Kirche zu leben hier und in der Welt.
„Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller.“ – Ein paar Kapitel vorher beschreibt Paulus, wie Christus seine Gemeinde baut. Er fängt damit an, dass er die Zäune abreißt, die dazwischen sind, die Zäune der Feindschaft nämlich.
„Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.
Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater. So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.“
Das ist ein wunderbares Bild der in der Verkündigung des Evangeliums gelebten Einheit der Verschiedenen. Auf dem Grund der Apostel gebaut mit dem Eckstein Jesus Christus. Und da werden wir eingefügt, wir Verschiedenen, „ineinander gefügt“, sagt Paulus, nicht einfach aneinander gelegt, das hält nicht lange.
Ein solches Bauen, ein solches Ineinanderfügen sind wir schuldig uns selbst und der Welt: dass wir ein Beispiel geben zur Überwindung der Trennung und des Hasses, des Misstrauens und der Gewalt. Diese Welt sehnt sich danach, dass wir Zäune abreißen und ablegen alle Furcht vor der Vielfalt und dem Fremden – das ist nicht nur wichtig für die Einheit der Kirche, das ist wichtig für den Frieden der Welt!
- Christliche Gemeinden haben genau diesen Auftrag: die Zäune wegbrechen, die dazwischen sind; Milieus einladen in die Häuser, ins Gespräch bringen die Verschiedenen – ohne Angst, überfremdet zu werden oder nicht mehr kenntlich zu sein.
- Daraus ergibt sich der Auftrag für das öffentliche Leben der Polis: nicht für sich bleiben, hinaus gehen an die Zäune und Hecken, zu den Elenden und Schwachen, sie hinein holen in die Lebensgemeinschaft des Quartiers, ohne Bedingungen zu stellen.
- Beispiel: Kirchspiele in Schleswig-Holstein. Sehr alte Formen des Zusammenlebens. Am Kirchturm orientiert (Kirche im Dorf lassen). Die Lebenslinien ernstnehmen: Schule, KiTa, Einkaufen, Begegnungsstätten. Die Gemeinde übernimmt wichtige Dienste im Bereich der Daseinsfürsorge: Ambulante Dienste, Ganztagsschule, Beratungen; sie versammelt die Menschen im Haus der Gemeinde, um zu erforschen: wie lebt ihr hier, was braucht ihr…
- Die Spiritualität gehört in die Mitte: die Ausrichtung nämlich des Lebens auf eine Kraft, die höher ist als unsere.
- Eine Gesellschaft ohne Religion ist seelenlos und vergisst, dass sie von Voraussetzungen lebt, die sie nicht selbst schaffen kann.
- Klar definierte Räume sind wichtig –nur so können die unklaren begehbar werden, ent-ängstigt sozusagen.
Für die christliche Gemeinde vor Ort heißt das alles auch: Global denken – und lokal handeln! Also insgesamt Leben teilen mit den Menschen, die im Stadtteil leben. Sehen die Reichtümer der kulturellen Vielfalt und sehen die Probleme, die damit auch verbunden sind. Konkret sich engagieren dafür, dass die Lebenstemperatur im Stadtteil „stimmt“, dass die Leute vor Ort also nicht zu erfrieren drohen in sozialer Kälte.
Integration und Inklusion sind niemals Einbahnstraßen: inkludiere dich gefälligst; integriere dich gefälligst! Sondern es sind Bewegungen des Geistes auf die Menschen zu. Der Glaube kann helfen, die Ängste abzulegen vor dem Fremden. Das Bekenntnis bietet den sicheren Sockel, auf dem ich stehe und von dem aus ich mich ausstrecke.
Integration fördern – gegen die starren Grenzen zwischen Milieus und Schichten. Also weiter erzählen und weiter geben den Traum von einer „verbesserlichen Welt“ (Ernst Lange).