L‘esperance, die Hoffnung, wird das letzte Wort haben
16. April 2019
Jesaja 40,1, Andacht anlässlich der Zerstörung von Notre Dame in Paris
Liebe Gemeinde,
es ist einer dieser Momente, an die sich viele Menschen noch Jahre später erinnern werden, wir hier, bestimmt aber jede und jeder in Frankreich: Wo warst du, als Notre Dame brannte? Ich konnte es erst gar nicht glauben, als ich es gestern auf dem Empfang der Landespressekonferenz hörte. Und wie das so ist in Zeiten des Internets: Alle um mich herum, Politiker wie Journalistinnen, waren schon im Bilde, buchstäblich. Sie sahen, was wir eben so eindrucksvoll in der Orgelimprovisation von Manuel Gera hörten. Wir sahen mit Erschütterung in unseren Displays, wie meterhohe Flammen furchterregend schnell den Turm von Notre Dame zum Einsturz brachten. Wir sahen weinende Menschen, sprachlos vor Entsetzen, fassungslos, was da vor ihren Augen geschah.
Menschen rund um den Erdball nehmen Anteil. Politikerinnen, Bischöfe, aber auch viele wie wir hier, die wir als Touristen Paris besucht und dieses Wunderwerk Notre Dame bestaunt haben. 12 Millionen Menschen sind es jedes Jahr. Selbst den Nachrichtensprechern versagte bisweilen die Stimme, wie es sonst nur bei tragischen Todesnachrichten geschieht.
Tröstet, tröstet mein Volk – diese Worte des Propheten Jesaja sind jahrtausendealt, doch sie verstehen genau, wie tief Trauer die Seele ergreifen kann. Ja, wie eine große Traurigkeit ganze Nationen erfasst. Wir trauern mit Frankreich um diesen großen Verlust, lieber Generalkonsul Laurent Toulouse, wie gut, dass Sie heute bei uns sind. Frankreich ist ins Herz getroffen. Denn Notre Dame ist ja viel mehr als eine Kirche. Notre Dame de Paris ist Paris. Es ist ein riesenhaftes Meisterwerk der frühen Gotik, ein Kunstwerk, an dem Generationen gebaut haben. Notre Dame, das sind Glasrosetten in sagenhaftem Farbenglanz. Notre Dame, das ist französische Geschichte, ist die französische Revolution, in der die Kirche von Revolutionären gestürmt und in den „Tempel der Vernunft“ umgewidmet wurde, einige Jahre später krönte Napoleon sich hier selbst zum Kaiser. Notre Dame, das ist das Herz Frankreichs, sein kulturelles Gedächtnis, das ist steingewordene Geschichte und lebendiger Glaube zugleich.
Auch im Bewusstsein einer unkirchlich gewordenen Gesellschaft steht ein solches Gebäude für tiefe Gefühle von Heimat, von Zuflucht, von Geborgenheit. Wie erschütternd, das zu verlieren! Wenn so ein uralter Kulturort zerstört wird, ist es, als würde die Wirklichkeit wanken. Dann steht mit einem Mal all das infrage, was Menschen gebaut und errichtet haben. Brüsk werden wir mit der Vergänglichkeit konfrontiert.
Tröstet, tröstet mein Volk. Dieses Jesajawort am Anfang der Karwoche weist in aller Trauer über den großen Verlust auch in die Zukunft. Denn die Geschichte, unser Glaube gehen ja weiter! Ich habe eben bewusst nicht in der Vergangenheitsform von Notre Dame gesprochen. Was diese Kirche so groß gemacht hat, sind ja nicht allein die äußeren Dinge, die Säulen und die Dachreiter, sondern das ist in besonderer Intensität das Innere, der Glaube. Die Kirche ist eine ergreifend schöne und wunderbare Kunst, zugleich trägt sie die Narben der Geschichte, das, was sie und uns zerstören kann, an sich. Und so ist diese Kirche auch Ausdruck einer Geschichte unseres Glaubens, der bleibt. Durch alle Verwundungen hindurch. Glaube, Hoffnung, Liebe, sie bleiben. Tragen. So tröstlich für das Volk, jetzt und in Zukunft.
Auch in Hamburg wissen wir, dass die Zerstörung von Kirchen nicht das Ende war, sondern ein neuer Anfang geworden ist. So stürzte vor 113 Jahren, am 3. Juli 1906, der brennende Michelturm hier auf das Kirchenschiff und zertrümmerte es vollständig. Lötarbeiten an der Kupferhaut des Turmes hatten ihn in Brand gesetzt. Zwei Menschen starben dabei – was für ein Segen, dass in Paris niemand ums Leben gekommen ist! Der Brand damals war eine Katastrophe für Hamburg, die wir vielleicht deswegen nicht mehr so im Gedächtnis haben, weil später im Krieg auch die meisten anderen Kirchen zerstört oder beschädigt wurden. Sie, lieber Generalkonsul Toulouse, haben erst vorhin gesagt, wie sehr der Verlust von Notre Dame Sie schmerzt und wie Sie zugleich sofort an unsere Kirchen hier in Deutschland während des 2. Weltkrieges gedacht haben.
Viele von ihnen und auch damals der Michel wurden wieder aufgebaut. Sechs Jahre nach dem Brand, 1912, wurde er wieder eingeweiht. Und schauen wir uns um: Der Michel ist heute wie eh und je Gebetsstätte und Geschichtsort, mit seinen Schönheiten und seinen Blessuren. In beidem ist er Wahrzeichen dieser Stadt und Wegweiser für Schiffe und Menschen, für Glaubende und Suchende. Getröstet, getröstet, das Volk.
Auch Notre Dame wird wieder aufgebaut werden. L‘esperance, die Hoffnung, wird das letzte Wort haben. Heute. Am Ende dieser stillen Karwoche. Und in Zukunft.
Amen.