8. Mai 2016 | Dom zu Lübeck

Liebe bindet – auch das Getrennte

08. Mai 2016 von Kirsten Fehrs

Exaudi, Predigt zu Epheser 3, 14-21

Liebe Gemeinde!

Ach ja, Exaudi! Dieser Sonntag dazwischen. Zwischen den Höhepunkten Himmelfahrt  - womöglich im Freien unter blauestem Himmel, in den der Auferstandene gefahren -  und Pfingsten, dem geistvoll- rauschenden Geburtstagsfest der Kirche. Und nun dieses „Dazwischen“. In den Tiefen der Ebene...

Doch da gibt´s heute keinen Grund fürs Lamento, warum es an Exaudi so traurig sei! Denn glücklicherweise werden wir hier im Dom ja reich beschenkt. Zu Beginn schon von dieser musikalisch so virtuosen „Boygroup“ – die heute ihre Generalprobe hat für „Jugend musiziert“. Glück und Segen dafür! Und dann ist ja auch der Predigttext aus dem Epheserbrief so ganz und gar nicht müde oder traurig und „dazwischen“. Sondern zum Niederknien stark und klar und schön in der Sprache, mit Worten – buchstäblich ohne Punkt und Komma -, die von der Fülle sprechen.  Und der Grenzenlosigkeit, mit der der Vater im Himmel uns in der ganzen Breite, Länge, Höhe und Tiefe des Universums liebt. So sehr, - hören wir noch einmal hinein…

…dass er euch Kraft gebe, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr … die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.

Es ist ein wunderschönes Gebet – als Brief für uns immer wieder nachlesbar vermutlich von einem Schüler des Apostels Paulus aufgeschrieben. Stark sollen wir werden. Aufrecht. Inwendig von der Liebe Christi  durchdrungen, ja in Liebe gegründet, eingewurzelt. Weise ist das gebetet. Denn so ist doch genau? Wir vergehen ohne Liebe, ohne das zärtliche Gefühl. Wir sind wehrlos vor Liebe, wenn ein Kind geboren wird, und wünschen nichts sehnlicher als mit dem Blick eines Liebenden die Erde wieder zu verlassen. Liebe hat die Kraft, die Ungeduldigen sanftmütig, die Verbissenen gelöst, die Beschämten mutig zu machen. Liebe bindet – auch das Getrennte. Sie vermag zu heilen, was einen innerlich zerreißt. Liebe ist letztlich die einzige Botschaft, die Trost und Licht in aufgescheuchte Seelen zu tragen vermag. Und deshalb steht sie in der Mitte, nicht nur des Predigttextes.

Liebe ist die Antwort - an Exaudi. Was ja übersetzt heißt: Höre! Herr, höre meine Stimme, wenn ich dich rufe! Liebe, die den anderen sieht, ist die Antwort auch heute. In einer Zeit, die wohl wie selten zuvor so von Zertrennung geprägt ist. Eine Zeit, in der alte Gewissheiten zu zerfallen drohen, so dass sie einem vorkommt wie ein Dazwischen. In bitterer Tiefe der Ebene. Besonders besorgniserregend und gefährdet – das ist mir heute am 8. Mai nach 71 dankbaren Friedensjahren ganz nah! – ist aktuell Europa. Zertrennt durch nationale Egoismen verliert es mit jedem Stacheldrahtzaun den Traum von der Freiheit der Grenzen!

Kürzlich auf einer Reise nach Brüssel begegnete ich Frans Timmermans, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Europäischen Kommission. Beeindruckend, wie er als gläubiger Katholik immer wieder die Grenzenlosigkeit der Gnade als sein inwendiges Credo für diesen europäischen Traum beschreiben konnte. Und er erzählte von seiner kleinen siebenjährigen Tochter, wie er jüngst mit ihr per Fahrrad über die holländische Grenze fuhr und ihr die Historie erklärte. Dass hier einmal die Grenze war, die man Siegfriedlinie genannt hatte usf. Prompte Frage seiner Tochter: „Papa, was ist eine Grenze?“ - Diese Frage, so Timmermans, sei die schönste Antwort seines Lebens gewesen. „Dass Kinder nicht mehr wissen, was eine Grenze ist – dafür lebe ich diesen Traum“, sagte er. „Und das muss so bleiben!“

Sehr beeindruckt hat mich, wie klar er gesagt und gezeigt hat, dass er dabei von seinem Glauben getragen ist. Mit wahrlich langem Atem für die Hoffnung der Liebenden, über Grenzen hinweg. Eindringlich hat er uns denn auch als christliche Kirchen aufgefordert, nicht so zurückhaltend zu sein. Sondern unser Eigentliches einzusetzen. Und er hat Recht, liebe Gemeinde! Wir brauchen einen Glauben, der in unseren Herzen wohnt. Und wir brauchen in all den verschiedenen Gesellschaften eine Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, in der Menschen – wie es im Epheserbrief so altertümlich heißt – „ihre Knie beugen“. Dieser so devot klingende Begriff ist im Gegenteil Ausdruck für die Haltung der Geradlinigkeit. Eine Haltung, in der man innehält, ja buchstäblich immobil ist. Wer die Knie beugt, ist ge-halten, ehrlich mit sich selbst zu sein. Der weiß sich zutiefst angewiesen, weiß, dass man allein einsam werden kann und dass es Grenzen des eigenen Wollens und Könnens gibt. Die Knie zu beugen heißt: beten zu können. Für andere und für sich selbst. Es gehört zum Christsein wie die Luft zum Atmen.

Denn – so der Epheserbrief - das Beten schafft die Verbindung der Herzen. Das Gebet führt die zusammen, die in ihren Gedanken einander nahe sind. Darum steht in der Mitte des Textes immer und immer die Liebe. In der Gemeinschaft des Gebets ereignet sich die Liebe Christi, heißt das. Wer betet, liebt. Und für wen gebetet wird, wird geliebt.

Tief berührt habe ich in Brüssel vor dem Kerzen- und Blumenmeer gestanden, mit dem die Menschen der Opfer der Attentate im März gedacht haben. Das war wie ein einziges Gebet. So viele Fotos der Ermordeten und Liebeserklärungen, aber auch Bekenntnisse zur Freundschaft der Kulturen. Und zur Freundschaft der Religionen! Immer wieder waren Herzen zu sehen - „Europa getroffen ins Herz“, stand da auf einem. „Aber glaubt nicht, dass unsere Herzen kalt werden!“ Daneben ein Bild von einem weinenden Kind an diesem furchtbaren Grenzzaun von Idomeni; mit den kleinen Fäusten panisch dabei, sich das Tränengas aus den Augen zu wischen...

Beten wir mit den Menschen in Brüssel, liebe Gemeinde! Denn Europa steht an einem Scheideweg. Das ist mir schlagartig klar geworden. Dabei geht es eben nicht allein darum, ob es einen unsinnigen Brexit gibt oder nicht. Es geht darum, die Grundwerte einer demokratischen Gemeinschaft zu verteidigen, ja den europäischen Traum von der Freiheit der Grenzen und der Vielsprachigkeit wach zu halten. Entgegen all der nationalen und rechtspopulistischen Irrungen, die doch tatsächlich meinen und sagen!, dass man sich von Kinderaugen nicht erpressen lassen soll.

Europa braucht neue Gemeinschaft und neuen Zusammenhalt – um all dies zu halten, was uns Christenmenschen wert ist und gefestigt in langer Tradition: Humanität. Herz. Freiheit. Frieden. Nächstenliebe. Nicht allein der gemeinsame Markt, diese gemeinsamen Werte sind es doch, die es durchzutragen gilt!

Dabei ist für mich als Christin mit diesem Predigttext im Ohr eines entscheidend. Gott kann überschwänglich tun über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen. Und er tut's mit der Kraft, die in UNS wirkt.

Heißt doch: Wir sind zuallererst Empfangende. Die wirklich wesentlichen Werte, all die Dinge, die uns Kraft geben und Sinn, können wir nur empfangen: Die Liebe, das Kind, Glück, Freundschaft, das gemeinsame Spiel, diese Gemeinschaft hier, Würde im Leben und Würde im Sterben. All das können wir nicht mit eigener Kraft schaffen oder erzwingen. Wir können es uns nur schenken lassen. Können mit Demut dafür danken. Und wir können darum bitten. Für die, die wir lieben. Für uns. Und für die, die jetzt in diesem Moment aus ihrer Heimat fliehen müssen und vor den Grenzen Europas um ihr Leben fürchten. Wir können bitten für die, die in fürchterlicher Kriegsangst leben, gerade jetzt in Syrien und in der Ukraine und an so vielen Orten der Welt.

Höre meine Stimme, Gott!  Und? Ob´s wohl wirklich hilft, das Beten? - Ich bin zutiefst überzeugt, dass Beten verändernde Kraft hat. Denn wer betet, findet sich nicht ab mit dem, was nicht stimmt. Wer betet, denkt nach, wie das zu ändern ist. Und ich bin sicher: Gott hört. Er hört uns, damit wir unser Leben lang nicht müde werden. Dass wir nie müde werden, den Frieden zu ersehnen. Und der Gerechtigkeit aufzuhelfen. Er ist doch der rechte Vater über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden.

Von Kindern können wir da übrigens eine Menge lernen. Sie können beten, wenn man sie lässt. Sie bitten, danken und teilen ihre Nöte mit Gott. Sie fragen ihn, ganz direkt, warum er Waffen erfunden hat und den Tod und warum so viel Ungerechtigkeit in der Welt ist. Für Kristina mit ihren 8 Jahren zum Beispiel ist diese Frage wichtig: „Lieber Gott, sind Jungen besser als Mädchen? Ich weiß, du bist ein Junge, also sei fair.“  Oder der zehnjährige Johannes: „Ich bete zu dir, weil mir langweilig ist. Du kennst das wohl nicht, weil du dauernd für uns hier arbeiten musst. Na dann, man hört von einander!“

Ja, klar hört er. Auf unser Bitten und Beten. Und ganz sicher auf Kinder wie Artur: „Ich muss schon sagen, lieber Gott, du hast die Schöpfung und die Menschen so schön gemacht. Aber ich habe trotzdem ein paar Verbesserungsvorschläge. Zum Beispiel sollten die Blumen das ganze Jahr blühen. Und die Menschen sollten gesund sein. Und jedes Kind sollte täglich Frühstück, Mittagessen und Abendbrot bekommen. Darum bitt´ ich dich und das war´s auch schon. Amen.“

Da gibt‘s nichts hinzuzufügen, liebe Gemeinde, nur gerade heute innig den Segen:

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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