Lukas 12, 35-40
31. Dezember 2008
Liebe Gemeinde, "Gott behüte deinen Ausgang und Eingang" - dieser Segenswunsch am Schluss des heutigen Psalms beschreibt die Situation an diesem Abend: wir stehen an einer Schwelle, zwischen den Jahren. Zwischen Ausgang und Eingang.
Schwellen haben in unserem Leben eine ganz eigene Faszination. Sie haben etwas Verlockendes, bergen in sich die Chance neuen Anfangs. Aber sie machen auch Angst: was wird aus dem, was wir erlebt haben, was uns geprägt hat? Was wird uns erwarten in dem neuen, noch unbekannten, unentdeckten Land? Was wird das Neue aus uns machen, wie wird es uns verändern? Schwellen haben in unserem Leben immer beides: Faszinierendes und Unheimliches. Etwas, das uns lockt und etwas, das uns zögern lässt. Schwellen im Lebensbogen - wenn ein Lebensabschnitt endet, ein neuer beginnt; wenn ein neuer Mensch geboren wird, ein vertrauter stirbt. Wenn es aus der behüteten Zeit zu Hause ins eigene Haus geht. Wenn, wie in meinem Jahr, das heute zu Ende geht, ein neuer beruflicher Anfang steht: dann spüren wir die Schwelle, über die wir hinweg müssen, irgendwie. Und jeder und jede hat seine oder ihre eigene Art und Weise, an die Schwelle heranzugehen: tastend oder forsch; zweifelnd oder voller Vertrauen.
Ich habe einmal solche Schwellen in der Lebensgeschichte mit Schikanen verglichen. Schikanen, wie wir sie kennen von verkehrsberuhigten Strassen etwa, wenn Blumenkübel oder kleine Erhebungen in der Strasse zum Abbremsen zwingen. So zwingen die Schwellensituationen in unserem Leben uns, innezuhalten, zurückzublicken, vorsichtig heran zu gehen, genau hinzusehen. Natürlich: man kann die Schikanen verleugnen und ungebremst über sie "hinwegbrettern". Dann allerdings wird man zu Schaden kommen, eine Achse wird brechen. Oder man fährt ganz bewusst heran die die Schikanen, sieht sie genau an:
Da ist das alte Jahr, das mit mir kommt an diese Schwelle. Das Jahr mit seinen Höhen und Tiefen. Mit seinen Krisen und Chancen. Und da gibt es so manches, das mag ich nicht loslassen, nicht hergeben. Und da ist manches, das ich nun loslassen darf, befreiend hinter mir lassen, ablegen. Da ist Schweres und Leichtes. Freude und Trauer.
Unwillkürlich tauchen alle diese Dinge wieder auf an so einem Tag wie diesem, am Übergang.
Dies ist ja die Zeit der Rückblicke und Bilanzen - in allen Medien werden wir seit Tagen damit konfrontiert: Finanzkrise und kein Ende. Und jede und jeder von uns hat seine eigene Bilanzkurve, jeder und jede bündelt, ordnet, führt vor Augen und Sinn, was uns geprägt hat, was uns geschenkt gewesen ist oder auch auferlegt. All die genutzten und verstrichenen Chancen. All das, was über uns gekommen ist - persönlich erfahren oder wie als Zuschauer wahrgenommen. Und gerade jetzt, am Ende, bilden die Nachrichten aus Israel-Palästina eine ganz eigene, leider schon viel zu bekannte Schwelle: da wird, so ist zu fürchten, wieder niemand anfangen, aufzuhören mit Krieg und Hass. Da wird wieder niemand recht verstehen, was zum Frieden hilft. Da wird wieder niemand loslassen wollen vom Vergeltungs-Zorn!
All die Fliehenden, Vertriebenen, Hungernden der Welt: sie sind eine schikanöse Schwelle, die kaum zu überwinden ist und die wir doch so gern hinter uns lassen würden! Dem wir Ausgang wünschten und keinen neuen Eingang.
Jede und jeder hat seinen oder ihren eigenen Jahresrückblick: mancher denkt an einen lieben Menschen, den er hat loslassen müssen. Da ist Krankheit, die quält und Angst macht. Da ist Trennung, die Wunden schlug. Da war ein Gespräch plötzlich zu Ende. Da spüren wir noch einmal die Kränkungen, die wir einander zugefügt haben, deren Versöhnung noch aussteht, Eingang sucht und keinen Ausgang gefunden hat. Da sind all die Zweifel und Fragen, die offen geblieben sind. Wir denken an Begegnungen mit Menschen, die uns nahe kamen und doch fremd blieben. An Stunden, die gelungen sind oder leer blieben.
Und dann sind da Momente des Glücks und der Freude, die wir einfach nicht loslassen mögen, die wir mitnehmen wollen über die Schwelle. Erlebtes Vertrauen, Glück der Liebe. Neue Anfänge, die uns stark gemacht haben. Dankbarkeit bewegt mich an diesem Abend: Dank für alles, was uns geschenkt und gegeben ist. Dank für Bewahrung und Führung: für Liebe.
Und in alledem, vor jeder Schwelle wissen wir: wir können allein nicht hinüber. Wir brauchen einen, der hinüber hilft. Einen, der Ausgang und Eingang segnet.
"Lasst eure Lenden umgürtet sein und euer Licht brennen…" -
"Vom Warten auf das Kommen Christi" ist dieser Abschnitt im Lukas-Evangelium überschrieben. Der Evangelist erinnert die Christen, die sehnlich auf die Erlösung warten, an Jesu Worte an seine Jünger: "Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint."
Lange hatten sie schon gewartet, viel zu lange. Ermüdet waren Hoffnung und Glaube. Wie lange wollt ihr noch warten? Worauf wollt ihr warten? Da könnt ihr lange warten!
Aber Jesus stellt klar: die Wachsamkeit, mit der wir rechnen, dass Gott kommt, eingreift, führt und leitet, dass er sich sehen lässt wieder neu; dass er ein Ende macht mit Gewalt und Hass, Elend und Ungerechtigkeit: diese Wachsamkeit ist die Haltung des Glaubens. Und sie wird sich erfüllen: Gott wird kommen, er wird nicht richten oder urteilen. Er wird sich zu Tisch setzen mit denen, die ihm leuchten und ihn erwarten, wird teilen die Gemeinschaft mit ihnen.
Worauf warten wir? Worauf setzen wir unsere Hoffnung? Haben wir Geduld?
"2009 wird ein Jahr der schlechten Nachrichten", hat die Kanzlerin gesagt. Und das hasserfüllte Morden im Gaza-Streifen zum Ende dieses Jahres lässt nichts Gutes vermuten. Wer macht dem ein Ende? Worauf wollen und können wir noch warten?
Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch geworden ist. Dass er herunter gekommen ist; dass er Licht in die Finsternis gebracht hat; dass er Menschen auf die Beine gebracht hat, deren Geduld längst am Ende gewesen war. Wir begrüßen mit unseren Liedern den, der den Himmel aufreißt, der nicht bleibt im höchsten Thron. Den, der die Hungernden speisen und die Niedrigen erhöhen will.
Diese Verheißung, die sich an Weihnachten erfüllt, gilt ja nicht nur für ein paar schöne festliche Tage. Sie soll nicht mit dem Weihnachtsschmuck für ein Jahr auf den Dachböden verschwinden. Diese Verheißung will uns erinnern an Gottes Plan mit der Welt. Sie will unser Warten und unsere Wachsamkeit für Gottes Spuren bei uns stärken. Und sie will uns auf die Beine bringen, gegen allen Schein, gegen alles Dunkle in uns und um uns herum aufzustehen. All die Sorgen, all das Schwere des zu Ende gehenden Jahres; alle Befürchtungen, mit denen wir auf das Neue zugehen mögen: sie sollen uns nicht trennen von dem, der gekommen ist, aufzurichten.
"Seid auch ihr bereit!..." - bereit, mehr zu erwarten von dem neuen Jahr, als die Prognosen verheißen; mehr zu erwarten, als wir zu träumen wagen. Wir dürfen das Neue Jahr nicht den Prognosen überlassen, den Kassandra-Rufen. Das Neue Jahr ist nicht nur eines der schlechten Nachrichten, sondern es wird auch eines der guten Nachricht: "Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich." - So heißt es in der Losung für das neue Jahr, die uns über die eigene Grenze hinaus führt, unseren Blick hebt über das, was wir sehen und verstehen.
Wir wissen: wir müssen mit Gott rechnen. Wir müssen damit rechnen, dass da eine Kraft am Werke ist, die mehr ist als unsere Kraft. Wir müssen damit rechnen, dass wir nicht unseres eigenen Glückes Schmied sind und nicht unsere eigene Versicherung vor Schaden und Leid. Wir wissen gerade an so einem Tag: die Zeit liegt nicht in unserer Hand. Bin ich glücklich, kann ich das Glück nicht selber absichern. Treiben mich Sorgen um, kann ich sie allein nicht ent-sorgen. Wo ich Fehler, Ängste, Scheitern sehe, werde ich mich nicht selber davon befreien können: ich bin angewiesen darauf, dass Gott mich hält und trägt - in diesem Lebensabschnitt und darüber hinaus!
Gott wird kommen, sagt das Evangelium. Aber er bestimmt selbst Tag und Stunde. Dass er kommt wie ein Dieb, ist ein überraschendes Bild. Aber die Menschen verstehen: ein Dieb weiß, wie er reinkommt in das Haus, er kennt Zeit und Gelegenheiten; denkt, wie wir nicht denken und versetzt sich in uns hinein.
Jesus weiß, wie er hinein kommt in unser Leben; er kennt Zeit und Gelegenheit. Er weiß, was wir tun und denken, planen.
Wir müssen mit Gott rechnen, liebe Gemeinde. Aber: wir dürfen auch mit ihm rechnen!
Da ist nicht nur Krise und schlechte Nachricht. Da ist auch gute Nachricht: Gott wird sich zeigen. Es kommt darauf an, dass wir hinsehen, wenn wir die Schwelle zum Neuen Jahr überschreiten, hinsehen auf die Spuren seiner Gegenwart bei uns. Dass wir rechnen mit der Gnade Gottes, was immer auch geschieht. Der da kommet, ist anders als erwartet: er fordert nicht, er prüft nicht. Er bittet zu Tisch! Er dient! Er macht uns zu seinen Gästen - in seinem Jahr, in seiner Zeit.
Nein, nicht in die Rolle der Niedrigen sollen wir uns finden, nicht in der der Opfer. Gott kommt, uns zu bewahren mit unseren Sorgen und Ängsten. Mit unseren Schwächen und Stärken. Er nimmt uns ernst - auch mit unserem Gepäck der Schuld und der Sünde, der Fragwürdigkeit unseres Tuns und Lassens. Er weiß, wie es um uns steht und was wir fürchten und ersehnen. Und dennoch: er sucht uns, gibt uns nicht verloren, hält zu uns. Davon leben wir im neuen Jahr, das Licht der Welt muss Konjunktur haben.
Worauf also wollen wir warten: auf den Aufschwung? Auf das Krisenmanagement? Auf Konjunkturpakete und Europäische Erklärungen? Auf "Yes, we can"? - Oder warten wir auf den, der gekommen ist, Liebe zu bringen? Entdecken wir neu den, der die Friedfertigen liebt und die Schwachen in sein Herz schließt; auf den, der alles kann durch den, der die Welt ins Sein rief? Sind wir gefasst auf Visionen über die Nachrichten hinaus, dass das Reich Gottes angebrochen ist und dass Gottes Verheißung uns trägt und unsere Zeit?
Lauschen wir den Reden der Mächtigen oder hören wir das Wort Gottes in Gebot und Verheißung, das aufhelfende, das weisende Wort - und reden wir selbst, wie der Glaube uns eingibt, geben wir weiter, was wir empfangen haben? Gehorchen wir Gott mehr als den Menschen!? "Seid auch ihr bereit!..." - Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich - Dieser Glaube bleibt nicht für sich. Dieser Glaube setzt Kräfte frei, das unmöglich Scheinende zu wollen, über die eigenen Grenzen, über Sachzwänge hinaus zu sehen und zu handeln, zu lieben, wo man sich hasst, zu vergeben, wo Vergeltung verlangt wird; einzuschreiten, wo Fremde verjagt und wo andere Religionen verdammt werden. Dieser Glaube vertraut darauf, dass diese Welt Kraft finden wird, dass die Verantwortlichen dem Morden in Nahost und in anderen Kriegsgebieten der Welt ein Ende machen können, weil einer den Mut hat, anzufangen, aufzuhören!
Dieser Glaube vertraut darauf, dass alle Wirtschaft dem Menschen dient und nicht umgekehrt und dass alle Anteil gewinnen an Reichtum und Wachstum, an Bildung und Arbeit.
"Seid auch ihr bereit!": wir müssen mit Gott rechnen und wir dürfen mit ihm rechnen. Denn, so sagt es der Psalm dieses Tages: Er schläft nicht und schlummert nicht. Lässt nicht wanken unsere Füße. Hat Atem noch, wo uns die Luft auszugehen droht. Auf ihn ist Verlass. Mit ihm können wir gehen von Ausgang zu Eingang: da ist einer, der uns sucht und findet, wenn wir verloren zu gehen drohen. Der uns vergibt, wenn wir schuldig geworden sind. Der uns tröstet, wenn wir traurig sind. Der mit uns durch Täler und Wüsten des Lebens schreitet, der Nächste, der Fremde, der Bruder, der Herr. Der mit uns zu Tische sitzen wird, weil er uns wach findet, wach für ihn! Amen.
Bischof Gerhard Ulrich, Schleswig