2. April 2021 | Dom zu Schwerin

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

02. April 2021 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Karfreitag, Predigt zu Matthäus 27, 33-56

I

Karfreitag - ein karger und stiller Tag. Zum zweiten Mal in Folge gehen wir auf ein Osterfest zu, das viele von uns erneut sehr zurückhaltend begehen werden. Und dabei deutlich erschöpfter, fragender, und noch nachdenklicher sind als noch vor einem Jahr. Denn weiterhin erkranken und sterben Menschen an und mit dem Corona-Virus und dessen neuen Mutationen, erneut steigen die Inzidenzzahlen stark an und wieder fürchten Krankenhäuser, all dem nicht standhalten zu können.

Viele beschreiben ihren Zustand in diesen Tagen als „mütend“ oder „wüde“ - eine Mischung aus Ermüdung und Wut, verbunden mit Ohnmacht und Ratlosigkeit. Ich verstehe diese Gefühle : denn während die einen eindringlich warnen und zu mehr Einschränkungen raten, wollen andere sich partout nicht mehr beschränken und fordern Lockerungen - und der Versuch, es allen irgendwie ein bisschen recht zu machen, führt offensichtlich in eine Sackgasse, so dass einzig das Versprechen auf mehr und schnellere Impfungen als Lichtblick erscheint. Eine Gefühls- und Stimmungslage, die viele nicht mehr zur Ruhe kommen lässt - auch nicht in dieser stillen Woche, auch nicht an diesem stillen und kargen Karfreitag. Gedanken kreisen, Sorgen quälen und Ängste zermürben. Und auch die erregten öffentlichen Diskussionen gehen weiter.

II

Inmitten dieses sich immer weiter drehenden Karussells aus Gedanken, Sorgen und Ängsten hören wir heute den biblischen Bericht über das Sterben Jesu am Kreuz. Auch darin überschlagen sich die Ereignisse dramatisch - wir hören von Verrat und Gefangennahme, von Folter und Spott, von Gewalt und Schmerzensschreien. Ein Mensch wird zu Tode gebracht und viele sehen dabei zu - als tatenlose und billigende Mitläufer und Mittäter oder als starr und ohnmächtig kapitulierende Zuschauer angesichts des sich abspielenden Grauens.

Mitten in diesem Geschehen, dem Gewirr aus Stimmen, Personen und Ereignissen, mitten in diesem Geschehen kommt es zu einer bemerkenswerten Zäsur. Und dann, so erzählt der biblische Bericht, zur sechsten Stunde, kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Drei Stunden lang herrscht Finsternis. Drei endlose Stunden geschieht nichts. Keine Worte. Kein Erbarmen. Kein Mitgefühl. Das ist Verlassenheit. Das Gefühl, abgrundtief verloren und vergessen zu sein.

Dann ein Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?Dieser Schrei hallt wider durch die Geschichte bis in die Gegenwart: „Wer wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ wird Jahrhunderte später der Dichter Rainer Maria Rilke verzweifelt fragen. Dieser Schrei kommt aus Folterkellern und Bombennächten, aus menschenunwürdigen Flüchtlingslagern, und aus einsamen Sterbezimmern. Er kommt aus dem Kampf ums bloße Überleben, um einen Schluck Wasser und ein Stück Brot in den Elendsvierteln der Erde. Er wird verursacht von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch, von wirtschaftlicher Ausbeutung und Abhängigkeit, von erzwungener Prostitution, von schlagenden Vätern und Müttern, und und und… - „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?Noch einmal ein Schrei. Dann stirbt Jesus. Ohnmächtig, leidvoll. Sein Tod über alle Grenzen hinaus schmerzlich. Und seine letzten Worte dröhnen in den Ohren.

Doch der Bericht über sein Sterben ist noch nicht zu Ende Die Evangelien beschreiben es so: Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.  

Der Vorhang im Tempel in Jerusalem, er trennte das Allerheiligste, den Ort, an dem man Gottes Gegenwart glaubte, von dem Teil des Tempels, in dem sich die Glaubenden aufhielten. Dieser Gott und die Menschen trennende Vorhang zerreißt - von oben an bis unten aus.

Ich verstehe das so: Mit dem Geschehen am Kreuz wird deutlich, dass alles, was uns Menschen widerfährt, was wir einander antun, in Christus auch Gott widerfährt. Gott hält sich selbst und uns nicht auf Abstand. Sondern leidet mit uns, nimmt unseren Platz ein, tritt für uns ein. Nichts trennt uns Menschen und alles, was unser Leben ausmacht von Gottes Gegenwart.

III

Inmitten des sich immer schneller drehenden Karussells aus endlosen Gedankenschleifen und erhitzten Diskussionen sorgt der der Karfreitag für eine heilsame Unterbrechung. Der Karfreitag gibt Raum für unsere Ängste und Sorgen. Er lässt Zeit, sie auszusprechen sie wiederzufinden in den biblischen Texten und gibt ihnen so einen Ort. Er fasst Leid, Schmerz und Trauer in Worte und Bilder und macht sie sagbar, besprechbar. Im Gewirr der so vielen Stimmen, Personen und Ereignisse konzentriert er unseren Blick auf den, um den es doch eigentlich geht: den leidenden, seine Verlassenheit herausschreienden Christus am Kreuz. Der Karfreitag hilft, Mitleid und Mitgefühl zu spüren und Barmherzigkeit herbeizusehnen.

Deshalb ruft er heute auch nach unserem Mitgefühl, unserer Verantwortung und unserer Barmherzigkeit: Sorge mit dafür, Leid zu verhindern und zu beenden. Nimm deine Verantwortung wahr. Und richte deinen Blick und deine Hilfe dabei zuerst auf die, deren Angst, deren Leid und deren Verzweiflung überhört und übersehen werden, die keine laute und mächtige Lobby haben. Der Karfreitag sorgt so dafür, dass wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf das richten, was jetzt unsere gemeinsame Aufgabe ist: Leid und Tod zu verhindern, solidarisch und barmherzig füreinander einzustehen, und dabei das Leben nicht preis- und unser Miteinander nicht aufzugeben. Wo eine solche Haltung Raum greift, wächst neues Vertrauen, dass wir als Gemeinschaft auch und gerade in Krisenzeiten niemand verloren geben.

IV

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Der Schrei Jesu am Kreuz ist nicht ohne Antwort geblieben. Worin diese Antwort besteht, erfahren zuerst die Frauen, die Jesus bis zuletzt begleitet  haben. Das Geschehen am Kreuz haben sie  mitangesehen. Und sie sind die ersten, die verstehen, bekennen und glauben: Gott lässt Gewalt und Leid, lässt unser Sterben und unseren Tod nicht unbeantwortet. Sondern beantwortet sie mit seiner alles - selbst den Tod - in neues Leben verwandelnden Liebe.

V

Über dem kargen und stillen Karfreitag steht auch in diesem Jahr ein ungeheurer Trost: Gerade angesichts unserer eigenen menschlichen Grenzen, der Grenzen unserer eigenen Lebenszeit wie der Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten, können wir darauf vertrauen, dass Gott alles, wirklich alles Böse, selbst den Tod, mit neuen Leben überwindet. Seine Liebe ist im wahrsten Sinne nicht totzukriegen. Und wenn uns -  - wie Paul Gerhard dichtet -  „am allerbängsten wird um das Herze sein“, dann führt uns Gott durch seine unbeirrbare Liebe zu uns durch alle Ängste hindurch. Amen.

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