Mit Herzensnähe bei den Schwächsten
31. Oktober 2015
Verleihung der Bugenhagenmedaille an Annemarie Rauhe, Predigt zu den Seligpreisungen Matthäus 5, 1-12
Liebe Reformationsgemeinde,
Eröffnungsmusik von Jürgen Pfister – ihre Klänge eröffnen diese Predigt gleich mit. Es geht in eins, Musik und Wort. Jedes eine Kunst für sich. Im Zusammenspiel dazu gedacht, dass wir fröhlich werden und ruhig und zuversichtlich, Gott ein Stückchen näher als sonst.
Luther – er darf nun wahrlich in der Eröffnung nicht fehlen – Martinus sagte das so: „Ich scheue mich nicht zu behaupten, dass es nach der Theologie keine Kunst gibt, die der Musik gleichgestellt werden könnte. Sie allein bringt nach der Theologie das zuwege, nämlich ein ruhiges und fröhliches Herz. Dafür ist ein klarer Beweis, dass der Teufel, der Urheber trauriger Sorgen und beängstigender Unruhen beim Klang der Musik fast genauso wie beim Wort der Theologie flieht... Meine Liebe zur Musik, die mich öfters erquickt und von großer Traurigkeit befreit hat, ist über die Maßen groß.“
Darin wird sie mit Luther zutiefst übereinstimmen, ich bin sicher. Annemarie Rauhe, selbst ja eine Künstlerin in der Verbindung von Wort und Musik, sie liebt die Musik. Als Sprache mit feinem Ton. So wie sie selbst immer ganz feinsinnig und geradlinig und unerschütterlich freundlich jedem Menschen begegnet. Es ist diese Herzlichkeit, mit der sie sich nicht nur jedem und jeder einzelnen zuwendet, sondern mit der sie auch der Musik Raum zu geben versucht, hier im Michel allemal, damit es die Traurigkeit vertreibt. Und um nun einmal in die direkte Anrede überzugehen sage ich vertraut, wie wir uns sind, es gern auch persönlich: Liebe Annemarie, wie gern lasse ich die Bugenhagen-Medaille bei dir! Seit gefühlt 250, nun gut: seit über dreißig Jahren hast du dich hier im Michel bzw. vorher in Harburg für Konzerte eingesetzt, hast Chöre und Orchester dieser Hauptkirche durch deine Impulse bereichert. Musik gibt einem innere Kraft, sagtest du einmal zu mir. Mit Musik kannst du über Mauern springen. Und Grenzen überwinden, auch religiöse, wie ja zuletzt hier in dem beeindruckenden interreligiösen Projekt zu hören und sehen war.
Mit Musik geht es leichter im Leben und leichter zum Sterben. Als Oberalte warst du immer mit Herzensnähe bei den Schwächsten in unserer Stadt, bei den Kranken im Hospital zum Heiligen Geist. Hast tatkräftig auch dort Wort und Klang zusammen gebracht und über viele Jahre Gottesdienste und Weihnachtsfeiern mitorganisiert. Dafür gebührt dir der besondere Dank unserer Kirche! Denn auch das ist ja eine Erkenntnis der Reformation: Unsere Kirche will und braucht Veränderung. Durch Trost ebenso wie durch Frohsinn. Unsere Kirche bleibt nur lebendig, weil immer wieder Menschen nichts weniger als ihr Herz hineingeben. Menschen, die wie du, liebe Annemarie, irgendwie gar nicht anders können als für andere da zu sein.
Selig sind, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. So sagt‘s dazu das Evangelium heute. Heißt: Wir entscheiden uns nicht für die Gerechtigkeit, sondern indem wir glauben, lieben, indem wir hoffen, sind wir ergriffen von ihr! Das ist die reformatorische Erkenntnis – und das ist auch irgendwie Annemarie: Dezent, klug, und getragen von dem tiefen Glauben, dass jeder Mensch bei Gott sein Sehnen stillen kann. Sei es durch Brot und Trost. Durch das Wort. Oder die Musik.
Da nun wiederum hätte Luther der Schwester Rauhe zugestimmt. Gerade in der Eröffnung der Reformation, in der Zeit, als die ganze Welt sich umwälzte, war diese Sehnsucht überlaut. Und so konnte auch der Luther nicht anders, als das Herz sprechen zu lassen – wie wir wissen, oft in derbem Tonfall. Dass er andererseits als musischer Mensch auch zarte und seelsorgerliche Töne kannte, wissen viele gar nicht so genau….
Deshalb – ich schiebe einen kleinen Werbeblock ein – schauen Sie doch einmal herein in die Martinstage vom 10. bis zum 14. November! An zehn ganz besonderen Orten lesen und inszenieren wir mit Theaterleuten, Musikern und Medienmachern Texte auch von diesem anderen Martin. Diskutieren darüber gut protestantisch: Über Musik. Medien. Über Luthers Judenhass und die Macht des Bösen. Über das gelungene Leben und würdiges Sterben. Und in all dem natürlich immer über die Religion.
Bei so viel Martin nun darf gerade heute ja die hanseatische Variante der Reformation nicht fehlen. Denn da lief vor 486 Jahren ja alles ein bisschen anders ab: Pragmatischer, unaufgeregter, friedlicher – und vor allem: op Platt. Denn Luther, der alte Fuchs, hatte nicht nur einen seiner klügsten Leute hier nach Hamburg geschickt, sondern auch einen, der einen unschlagbaren Vorteil gegenüber den altgläubigen Theologen hatte: Er konnte Platt schnacken.
Das verstanden die Leute, und das fanden sie überzeugend. Und so werden wir am 12. November im Ohnsorg-Theater Texte der Reformation in Plattdüütsch hören. In der Vorbereitung darauf, und deswegen erzähle ich das hier so ausführlich, bin ich auf einen schönen Satz von Johannes Bugenhagen gestoßen. Er zielt für mich so wunderbar in unsere Gegenwart hinein, dass man ihn glatt als Leitartikel veröffentlichen könnte. In seinem Vorwort zur Hamburger Kirchenordnung schreibt Bugenhagen: „Wenn een arme Mann oder een arme Frau een Söhn oder mehr hett, de hett de Gaven to leern, se könt aver dat Schoolgeld nich opbringen, denn schall man düsse Kinner to de Diakonen vun’t Karspeel bringen. De schüllt erh denn to den Rektor schicken, de ehr umsünst opnehmen schall, ümdat se in de School jüst so ehr Recht kriegt als de Söhns vun den Allerrieksten.“ Verstanden, liebe Hamburger? Auch die Süddeutschen? Also: Wer arm ist, dem soll das Schulgeld erlassen werden, er soll sein Recht bekommen wie die Kinder von den Allerreichsten. Und jetzt kommt es: „Keen frömde Schöler un keen, de hier wahnen deit, schall bi uns üm brod beddeln gahn.“ Weder der fremde noch einheimische Schüler soll bei uns um Brot betteln müssen. Das soll die Ordnung sein, die bei uns gilt. So schreibt es Bugenhagen, 1529, im Auftrag des Hamburger Rates.
Wie gut, das heute zu erinnern. Uns zu erinnern, wie dankbar wir sein können für gutes Leben - mit Brot, Bildung und Anerkennung in großer Selbstverständlichkeit. Wissen wir doch auch, gerade in diesen Wochen und Monaten, wie wenig selbstverständlich das für Menschen anderer Länder ist.
Vor ein paar Tagen war ich an einem solchen Ort, wo viele Menschen hungern und dürsten. Gar nicht zuerst nach Gerechtigkeit, sondern zunächst einmal ganz buchstäblich. Ich habe das Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien besucht, das unmittelbar an der Grenze zu Syrien liegt. 78.000 Menschen leben dort in Zelten und Containern, die Hälfte sind Kinder. Es ist das größte Lager in Jordanien, aber beileibe nicht das einzige. Inzwischen geht den UN-Organisationen, die diese Lager in großer Menschenfreundlichkeit hochprofessionell betreiben, das Geld aus. Denn die Zahlungen der internationalen Gemeinschaft lassen nach. Man ist säumig geworden (auch innerhalb der EU), zugesagte Gelder in Milliardenhöhe auch wirklich zu zahlen. Das ist ein Skandal, finde ich. Die Folge ist nämlich: Es bleibt dem World-Food-Programme gar nichts anderes übrig, als für die syrischen Flüchtlinge Lebensmittelrationen und sogar das Wichtigste: Wasserzuteilungen drastisch zu kürzen. Auch Schulen werden geschlossen, weil kein Geld da ist. Was den Menschen dann notgedrungen nur bleibt, ist die erneute Flucht (obwohl sie gern in ihrem vertrauten Kulturkreis bleiben würden!) – Flucht entweder zu uns nach Europa oder im Extremfall zurück nach Syrien in den beinahe sicheren Tod. Ich habe Familien getroffen, die mir grauenhafte Geschichten von Flucht und Vertreibung erzählten. Christinnen, die in die Gewalt von ISIS gerieten. Erlebnisse, die nicht nur die Seele, sondern auch den Glauben aufs tiefste erschüttert haben.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Utopische Rede angesichts solcher Not?
Für mich nicht. Für mich ist jene Predigt Jesu auf dem Berg die schönste Hoffnungsansprache der Welt. Eine Ansprache, die alte und mag sein verschüttete Hoffnungen immer wieder wachruft. Damit wir sie „tun“! Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Und dankbar sehe ich, wie der Hoffnung hier im Michel Taten gefolgt sind, weil seit Monaten für die Flüchtlinge in Jordanien gesammelt wird. Danke dafür. Es ist so bitter nötig!
Dazu eine letzte Impression aus Jordanien. In Ost-Amman, in dem allein 170.000 Flüchtlinge außerhalb der Camps irgendwie existieren, besuchen wir eine muslimische Frau, die mit sechs Kindern in einem Keller in Amman lebte. Genauer: Ein Kellerloch, absolut erschütternd. Sie könnten nicht überleben ohne die Unterstützung jordanischer Christen. „Meine Kinder sollen zur Schule gehen“, sagt sie. „Sie sollen keine Analphabeten bleiben wie ich.“ Kein einziges Spielzeug habe ich in diesem beengten Raum gesehen. Als in Syrien die Bomben fielen, wenige Meter vor den Füßen der Kinder, waren sie einfach nur gerannt, retteten gerade das, was sie am Leibe trugen. Was tun mit dieser Trostlosigkeit, fragte ich mich? Da fiel mir ein, dass ich in meiner Tasche eher zufällig etwas dabei hatte – Sie wissen: Reformationsjubiläum! - es war diese Playmobil-Figur, Martin Luther. Wohl selten ist Luther irgendwo so begeistert empfangen worden wie von jenen muslimischen Kindern in Amman. Ein Lichtblick von Leichtigkeit im dunklen Keller. Ein bisschen Seligkeit - auch für uns. Natürlich hat keines der Kinder gewusst, wen diese Figur darstellt. Was macht´s? Das ist ja auch eine Aussage: Jenseits aller religiösen und kulturellen Unterschiede ist es gleich, wer da wem mit was hilft: Hauptsache, man wendet einander zu. Pragmatisch, barmherzig, gut.
Uns so verbindet sich‘s doch alles heute in eins und gibt den Schlussakkord: Luther und Bugenhagen, die Medaille und die Annemarie Rauhe, die übergroße Not der Welt und die schönste Hoffnungspredigt der Welt. Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Nehmen wir diese Hoffnung in unser Herz, liebe Gemeinde, heute am Reformationstag. Damit wir fest bleiben im Glauben daran, was wir noch nicht sehen. Wir haben die Kraft, daran zu arbeiten, dass die Gegenwelt Jesu Gestalt gewinnt. Jetzt schon hier leben, als seien wir selig, darum geht es. Jetzt denjenigen, die aus Angst vor Bomben oder bitterer Armut flüchten, die Hand reichen, darum geht es. Und das bedeutet zugleich: Mit ihnen, die hier in unserem Land Ängste haben, freundlich reden, sie halten und sagen: Selig sind die Friedfertigen, die sie werden Gottes Kinder heißen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre dazu unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.