Mitmenschlichkeit hat keine Obergrenze
29. November 2015
Gottesdienst mit Abendmahl am 1. Advent, Predigt zu Matthäus 21, 1-9
Kanzelgruß
Einen gesegneten 1. Advent wünsche ich Ihnen von Herzen, geliebte Gemeinde im Dom zu Lübeck!
Wie soll ich dich empfangen und wie begegn‘ ich dir… Für mich ist es das Adventslied überhaupt. Mit seinem geliebten Lieben für die ganze Welt in der 5. Strophe. Wie könnte man schöner diesen Warteraum der Zukunft beschreiben, der Advent heißt. Warten auf einen, der die Welt liebt.
Wie soll ich ihn empfangen – vor einigen Tagen saß ich in der Empfangshalle des Flughafens und wartete. Das Flugzeug hatte Verspätung. Und so guckte ich in die Welt. Was bleibt einem auch anderes übrig. Und plötzlich, liebe Schwestern und Brüder, werde ich gewahr, wie unübertrefflich das ist, was ich da sehe: Unzählige Momente, in denen die Liebe Geschichte schreibt. Ich sehe zwei Männer, alte Freunde offenbar, die sich nach einem kurzen Innehalten ganz still umarmen, still inmitten all der Turbulenz. Unmittelbar daneben schließt eine türkische Familie laut lachend die Heimgekehrte in mindestens dreißig Arme gleichzeitig. Zwei Liebende sehe ich, die mit einem Seufzer regelrecht ineinander fallen und sich – ungeachtet der amüsierten Zuschauer - sehnsüchtig küssen. Ich sehe syrische Kinder mit Blumen in der Hand, um sie der Großmutter in den Schoss zu legen, die im Rollstuhl in die Halle gefahren wird. Ein kleines dunkelhäutiges Mädchen sehe ich in einem fein gebügelten Kleid, das auf ihren Großvater zuläuft und ihm selig die Ärmchen um den Hals schlingt. Ich sehe Menschen über Menschen, die in diesen Momenten des Ankommens nur dies eine wollen: ihre Liebe zeigen. Ich habe so viel Freude, gelöste Gesichter, erfüllte Sehnsucht und anrührende Zärtlichkeit gesehen wie selten zuvor in einer Stunde meines Lebens. Wir müssen manchmal warten, um zu sehen, was wirklich im Leben zählt.
Als am 13. November in Paris die Lebensfreude mit Kalaschnikows und Sprengstoffattentaten in Einzelteile zerrissen wurde, ins Herz getroffen nicht allein unzählige Angehörige von 130 Opfern, sondern auch unsere Demokratie und Freiheitsliebe – da gab es neben all der Kriegsrhetorik unüberhörbar auch die anderen Stimmen. Um sie geht es mir in diesem Advent! Menschen, die ausdrücklich nicht einsteigen wollen in den Teufelskreis der Gewalt. Eindrücklich dazu ein Facebook–Eintrag von Antoine Leiris, dessen Frau Helene beim Konzert in Bataclan erschossen wurde. Er schreibt den IS-Mördern: "Am Freitagabend habt ihr mir … die Liebe meines Lebens geraubt, aber meinen Hass, den bekommt ihr nicht. … Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit Argwohn betrachte und meine Freiheit für meine Sicherheit opfere. Vergesst es. Ich bin und bleibe der, der ich war. Natürlich bin ich vor Kummer fast am Ende, diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu, aber es wird nicht lange dauern. Ich weiß, Helene wird mich jeden Tag begleiten …Wir sind nun zu zweit, mein kleiner Sohn und ich. Aber wird sind stärker als alle Armeen der Welt. Er wird jetzt gleich eine Kleinigkeit essen, wie jeden Nachmittag, und dann werden wir miteinander spielen, auch wie jeden Tag, und dieser kleine Junge wird für euch sein Leben lang ein Affront sein, weil er glücklich sein wird und frei. Denn auch seinen Hass werdet ihr nie bekommen.“
Hunderttausende haben binnen weniger Stunden per facebook diesen Brief geteilt. Und verteilt. So berührend war, glaube ich, die Botschaft, welche Kraft die Liebe hat, die niemals aufhört. Nicht der Schrecken, nicht die Angst, nicht der Hass auf die Gewalttäter – das letzte Wort im Tod hat die Liebe behalten. Das erlebte Glück. Und das kommende. So dicht liegt es hier beieinander. Und es wird so klar: Die Liebe ist das Erste beim Ankommen und das Letzte beim Abschied von dieser Welt. Sie ist das A und O. Sie ist – auch davon spricht der Brief – ist letztlich die einzige Botschaft, die Kraft und Lebensmut in tief erschütterte Seelen zu tragen vermag.
Im Advent warten wir auf diese Liebe, die die Kraft hat, Zerbrochenes zu heilen. Jedes Jahr wieder. Jedes Jahr warten wir auf den Heiland, der das Dunkel kennt und es erhellt, wir warten auf den, der uns liebt, inmitten unserer Welt.
Ob die vielen tausend Menschen in Jerusalem damals, die - Palmzweige in der Hand und Hosianna singend – erwartungsfroh die Straße säumten, ob sie wussten, dass der Erlöser gleich an ihnen vorbei ziehen würde, direkt vor ihren Augen? Ob sie ahnten, dass ihnen in dieser Stunde noch die Liebeserklärung Gottes auf einem Esel begegnen würde?
Vermutlich nicht. Wer, liebe Gemeinde, weiß schon so genau, was er sich wünscht? Oder worauf er oder sie wartet? Oder wann sich die Erwartung erfüllt hat? Wer ist der? Heißt es denn auch im Evangelium. Als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der? Die Menschen waren unsicher durch unsichere Zeiten. Aufgeregt, hochemotional, schnell aus der Bahn zu werfen. Kein Wunder. Die römische Besatzung zeigte sich ungehindert willkürlich, es herrschten blühende Korruption statt blühender Landschaften, Gewalt, Terror und eine tiefgreifende Armut.
Unsichere Zeiten – so empfinden es heute viele. Die Trauer über den Terror, der uns so nahe gerückt ist, steckt uns noch in den Gliedern. Voller Entsetzen sehen wir die wahnhafte Gewalt, die im Missbrauch von Religion so viele Menschenleben zerstört auch in Syrien, Afghanistan, in Nigeria durch Boko Haram, guter Gott, an so vielen Orten dieser Wahn. Dann hier: Freundschaftsspiele, die abgesagt werden – will man eigentlich wirklich wissen warum??! – und schließlich all die Pegidas und nun auch MVgidas und die total Verirrten, die Brandbomben auf Flüchtlingsheime werfen. Beängstigend das alles für viele.
Nun komm der Heiden Heiland, komm! Sie, die damals an den Straßen in Jerusalem standen, kannten solch Angst. Aber sie lebten auch in Hoffnung. Schauten voller Sehnsucht aus nach dem einen Messias, der den Teufelskreis der Gewalt durchschlägt, der aufräumt, durchgreift, der für Gerechtigkeit sorgt und Frieden. Sie warten dort in Jerusalem, so lange schon, und fragen als er da einzieht: Wer ist der? Oder: Ist er das? Sag, ist er das endlich?
Die Frage bleibt offen. Jesus sagt nicht: Ich bin es. Er sagt auch nicht, ich bin es nicht. Er verweist auf das, was geschieht. Nämlich dass er auf einem Eselskind nach Jerusalem einzieht, dem Symbol seiner Demut. Zugleich aber ist gerade dies unausgesprochen ansprüchlich, heißt es doch im Prophetenwort des Sacharja: „Siehe, Tochter Zion, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen.“
So wie einst die Mutter Maria auf dem Esel nach Bethlehem kam, in guter Hoffnung, kommt nun er, der König. In aller Bescheidenheit. Sanftmütig. Sanft und mit Mut zieht die Liebe ein. Es wird sich viel ändern. Das spüren die Menschen. Freude bricht sich Bahn. Und Erleichterung. Die Welt atmet auf. Hosianna, er ist da!
Wir wissen, wenige Tage später rufen die gleichen Menschen das vernichtende „Kreuzige ihn“. Denn nichts löst mehr Bestürzung aus als beharrliche Sanftmut und unbeirrbare Liebe. Und dass wir heute, zum 1. Advent, diese Palmsonntaggeschichte hören, hat eben diesen tiefen Sinn, in einem einzigen Augenblick, einer einzigen Szene zu verdichten, dass der so sehnsüchtig Erwartete eine schwere Passion erleiden wird. Er ist‘s, sagt die Geschichte, er ist der Messias, der Christus, der in Armut Geborene, in Schande Gekreuzigte und in Hoffnung Auferstandene. Er ist das A und O, Anfang und Ende. Er ist die Liebe, auf die die Welt wartet, weil sie seiner bedarf. Bis heute.
Wer ist der? Was sagt er uns heute, wenn er einzieht mit seiner Sanftmut und Demut, seiner Liebe gar? Er sagt uns Elementares für unser Leben. Übe dich in Selbstbegrenzung – das ist das eine. Eine wichtige Botschaft jetzt, in einer Gesellschaft, die zuweilen völlig entgrenzt ist in ihrer Gier nach Geld, Macht und Einfluss. Zu beobachten in diesen Wochen bei der Aufdeckung der Korruption in der Welt des Fußballs. Entgrenzt und darin irgendwie auch so würdelos, die einstigen Ikonen des Sports.
Und dann, das ist neben der Demut das andere, schaue ich mit unserem Evangelium just auf die Grenzen, die man allerorten ziehen will in Europa, um die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegung zu bewältigen. Denke an die Frauen, Männer und sechs Kinder die vorgestern vor der Küste Europas ertrunken sind. Und ich höre: Er zieht mit Sanftmut ein. Also mit dem Mut der Barmherzigen, die sagen: Mitmenschlichkeit hat keine Obergrenze. Und mehr noch, sie hat konkret zu werden. Denn der Heiden Heiland legt behutsam die Hände auf Wunden. Er heilt. Er betet. Er tröstet. Er vergibt. Er liebt. Selbst als sie ihn töten, ist die Liebe sein letztes Wort.
Und ich denke an Antoine Leiris. Menschen, die auf ihre eigene Weise diese Botschaft Christi verstehen, die heißt: Habt keine Angst in der Welt. Ihr, die ihr das geliebte Lieben dem Hass entgegenstellen wollt, habt keine Angst. So viele, liebe Gemeinde, gibt es, die sich gerade jetzt nicht einschüchtern lassen, auch nicht in ihrem Flüchtlingsengagement, die täglich zur Walli hier in Lübeck gehen und Benefizkonzerte organisieren, die sich lauter positive Gedanken machen, wie es gehen kann mit einer Integration junger Menschen, die wir dringend brauchen in unserem Land. So viele, ja auch unter uns, die nicht nachlassen Türen und Tore zu öffnen. Damit die Liebe einziehen kann. Und die Sanftmut. Und der Lebensmut sowieso!
So soll ich ihn also empfangen. Vielleicht steigt er aus einem Flugzeug oder einem überfüllten Zug. Vielleicht kenne ich ihn schon, vielleicht sehe ich ihn zum ersten Mal. Warten wir auf ihn, der uns liebt – unbeirrbar. Er wird kommen und gibt uns Frieden, höher als alle Vernunft und bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.