Modellprojekt in Kiel bildet Behinderte zu Lehrenden aus
21. Februar 2014
Kiel. Es wird viel über Inklusion geredet. Doch diejenigen, die am meisten zu sagen hätten zur Einbeziehung von Behinderten in die Gesellschaft, werden selten gehört. Das will ein Hochschulprojekt ändern: Behinderte halten an Unis Vorlesungen zum Thema.
Eigentlich liegt es auf der Hand: Wer im Berufsleben mit behinderten Menschen zu tun haben wird, sollte ihnen vorher schon einmal begegnet sein - und zwar nicht nur auf der Straße. Doch die Realität hierzulande sieht meist anders aus. Obwohl sich Bund und Länder zum großen Ziel Inklusion bekennen, können Lehramtsanwärter ihren Uni-Abschluss erreichen, Erzieherinnen ihre Ausbildung absolvieren, ohne je die Perspektive eines Menschen mit Behinderung kennengelernt zu haben.
Dies zu ändern, hat sich das Projekt "Inklusive Bildung" der Stiftung Drachensee in Kiel zum Ziel gesetzt: Mit der Unterstützung der Aktion Mensch will sie Männer und Frauen mit geistiger oder psychischer Behinderung systematisch darauf vorbereiten, Studenten an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten ihre Perspektive auf das Leben zu vermitteln.
Projekt "Inklusive Bildung" bildet Menschen mit Behinderung zu Lehrern aus
Es ist fünf Jahre her, dass die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Sie verpflichtet die Bundesländer zum Handeln: Im Sinne gesamtgesellschaftlicher Teilhabe fordert die Konvention unter anderem ein inklusives Schulsystem, das allen Kindern offenstehen soll. Kein Kind soll also wegen einer Behinderung von der Regelschule ausgeschlossen werden.
Nach und nach haben die Länder ihre Schul- und Unterrichtsgesetze novelliert. Doch an den Schulen, wo das Ganze umgesetzt werden soll, gibt es immer wieder Schwierigkeiten. Das liegt nicht allein an fehlenden Mitteln, um zusätzliches Personal zu bezahlen. Oft sind Lehrer und Schulleiter einfach überfordert, weil sie nie gelernt haben, die Welt aus der Sicht eines behinderten Menschen zu sehen.
Die Welt aus der Sicht eines behinderten Menschen
Wer die deutsche Bildungslandschaft unter dem Aspekt der Inklusion betrachtet, sieht ein heterogenes Bild. Laut einer Bertelsmann-Studie gelingt es im Kindergartenalter noch einigermaßen gut, wenn Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit allen anderen Kindern eine Einrichtung besuchen. An der Grundschule werden die Inklusionsquoten schon geringer, um dann im Sekundarbereich I rapide nach unten zu gehen. Vor allem aber macht sich der Bildungsföderalismus bemerkbar. Laut Bertelsmann-Studie liegt der Inklusionsanteil in Schleswig-Holstein bei 41,9 Prozent, im benachbarten Niedersachsen hingegen bei 6,6 Prozent.
"In Schleswig-Holstein wurden die Förderschulen sehr stark zurückgefahren", sagt Jan Wulf-Schnabel von der Stiftung Drachensee. Die Folge sei, dass das Kind den sonderpädagogischen Schutzraum verliere. Viele Lehrer an Regelschulen seien überfordert. Schließlich gibt es im Schulalltag viele Belastungen. "Sie haben nicht gelernt, mit Menschen mit Behinderung umzugehen", sagt Wulf-Schnabel. Das sei die Schattenseite der jüngeren Entwicklungen.
Lehrer haben oft nicht gelernt, mit Menschen mit Behinderung umzugehen
Dass es hilfreich wäre, die Perspektive behinderter Menschen in die Ausbildung einzubinden, das ist nicht nur der Stiftung Drachensee bewusst, die als Anbieter von Wohnplätzen und Werkstätten für Behinderte jahrzehntelange Erfahrung in diesem Bereich hat: Seit dem Studienjahr 2011/12 bietet die Leibniz-Universität Hannover gemeinsame Seminare für Studierende der Sonderpädagogik und berufstätige behinderte Menschen an. Die Teilnehmer sollen so gemeinsames Lernen erfahren. Der Ansatz in Kiel, Menschen mit Behinderung für den Einsatz an Unis und Fachhochschulen auszubilden, ist aber offenbar einzigartig.