31. Dezember 2016 | St. Marien zu Lübeck

Momente mit Pauken und Trompeten

31. Dezember 2016 von Kirsten Fehrs

Silvestergottesdienst mit Pauken und Trompeten, Predigt zu Matthäus 13, 24-30

Liebe Silvestergemeinde zu St. Marien!

Mit Freude bin ich hier und finde es schön, wie viele gekommen sind – zu einer gemeinsamen Stunde Zeit, in der wir alle nichts mehr erreichen müssen außer uns selbst. Kostbare Zeit, weil wir dankbar auf glückliche Momente zurückschauen können. Auf Liebe, glückliche Geburt, Freundschaft. Aber auch das macht diese Stunde kostbar, dass man würdigt, was einen traurig macht und was man persönlich an Verlorenem zu betrauern hat.  

So viel ist im vergangenen Jahr passiert. Und besonders der Anschlag in Berlin beschäftigt die Menschen. Voller Mitgefühl für die Opfer und Angehörigen, zugleich erschüttert durch die Terrorgewalt hält alles inne, so kommt es mir vor. Und es ist zu merken, wie die Sehnsucht immer stärker wird nach mehr Zusammenhalt in dieser Gesellschaft!

Besonnen und nachdenklich also mag‘s heute sein. Aber – auch das ist Silvester – die Pauken und Trompeten gehören ebenfalls gespielt! Silvester umfasst dies alles zugleich, Feierlaune und Melancholie. Erinnerung und Zukunftsmut. Abschiedliches und der Aufbruch ins Neue.

Zugleich. Lasst beides miteinander wachsen zur Ernte  – sagt dazu das Evangelium, das wir eben gehört haben. Nicht zu früh trennen, was vermeintlich nicht zusammen passt. Nicht zu früh beurteilen, ablehnen, rausreißen, erst einmal wachsen lassen und dann schauen, wieviel geht. Das ist die Quintessenz von Jesu Rede. Ein Plädoyer fürs Zugleich.

Genau verstanden habe ich dieses Gleichnis eigentlich erst, seit ich genau dort war, im Heiligen Land. Gemeinsam mit einer Delegation der katholischen Bischofskonferenz waren wir vom Rat der EKD unterwegs zu den Wurzeln unseres Glaubens. Im Oktober. Bei (hier im Moment wohlig zu erinnernden) 30 Grad im Schatten. Da sind nicht nur die Füße, sondern auch die Herzen warm geworden. Und wir haben viel gelernt vom Zugleich. Wie man verschieden sein und zugleich sich sehr nahe kommen kann. Wie es uns hat wachsen lassen, dass wir gemeinsam unvertraute Wege gegangen sind.

Es gab so viel „zugleich“. Sehr nachdenkliche Momente, schmerzhafte auch, als wir uns gewahr wurden, dass wir als Bischöfe nicht gemeinsam Abendmahl feiern können – gerade an dem Ort, an dem Jesus es feierte mit seinen Jüngerinnen und Jüngern. Und es gab Momente mit Pauken und Trompeten, ansteckendes Lachen am Abend, direkt beschienen vom großen Mond am See Genezareth. So oft wie in den sechs Tagen unserer gemeinsamen Pilgertour, stöhnte ein katholischer Kollege, habe er noch nie „Der Mond ist aufgegangen“ singen müssen. Was tut man nicht alles für die Evangelischen.

Revanchiert haben sie sich mit Witzen. Sich mit geistreichem Witz von der eigenen Bedeutsamkeit zu erholen, das konnten die katholischen Brüder wirklich! Liebevoll lebensnah. So á la Johannes XXIII, der einst das Bonmot prägte: „Giovanni, nimmt dich nicht so wichtig…“ Und sie erzählten den Witz über einen anderen Papst, sicher nicht der aktuelle, der seinen Adlatus bittet mal zu schauen, wo er ungestört in die Sauna gehen könne. Kommt der Adlatus zurück und jammert: „O tempora, o mores, heiliger Vater, es gibt in ganz Rom nur noch gemischte Sauna!“ „Ach, das macht doch nichts“, entgegnet der gelassen, „die paar Evangelischen“...

Und wir paar Evangelischen haben es unbeschadet überstanden, dass man die Religion von allzu gestrenger Gesetzlichkeit erleichtert. Und haben gelernt, wie Humor hilft, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen.

Und das Wichtige waren diese Stunden der Entdeckung. Zu sehen, welche Schönheit in der Kargheit des heiligen Landes liegt, das zugleich so heillos zerstritten scheint und wo ungezähmte und eifernde Religion die Politik zum Glühen bringt. Das Wichtige war der Frieden, der es zugleich so schwer hat, in der Geburtsstätte unseres Glaubens auf die Welt zu kommen. Und wichtig war, an den Quellen des Glaubens das lebendige Wasser zu trinken, evangelische und Katholische zugleich. Erfrischt zu werden von Jesu Worten und Gleichnissen. Genau dort, wo sie gesprochen wurden.

Genau dort ist es schon erstaunlich für eine Norddeutsche wie mich, wie dünn die Ackerkrume ist, die die steinigen Hügel bedeckt.  Weizen und Unkraut – ich bin bei unserem Evangelium - wachsen tatsächlich dicht nebeneinander, auf den kargen Feldern Galiläas. Natürlich stört das Unkraut den Weizen in seinem Wachstum. Aber man lässt ihn stehen. Weil man nämlich sonst Gefahr läuft, den Weizen mit herauszureißen. Und gerade, wenn beide noch klein und grün sind, dann lassen sie sich kaum unterscheiden. Das Schlechte erstmal lassen, um das Gute nicht zu gefährden: Eine Abwägungsfrage, über die ein erfahrener Hausvater hier entscheiden muss. Ein kluger Mann offenbar, der aus Erfahrung erst einmal besonnen bleibt und beides wachsen lässt.

In diesen Wochen, in denen unsere Welt so dermaßen bewegt wird von Terror, Hass und Angst, ist das klug auch für uns. Geht uns doch derzeit zugleich zu viel durch Kopf und Herz. Widerstreitendes. Dieser furchtbare Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin hat die Menschen eigentümlich still und zugleich sehr wach gemacht. Und (fast) alle haben gespürt: Es muss eine Zeit der Trauer geben, Ruhe auch, um zu unterscheiden, was passiert ist und was dann daraus folgt.  Natürlich müssen Anschläge unbedingt verhindert werden. Zugleich aber leben wir glücklicherweise in einer demokratischen Gesellschaft mit ihren Grenzen und Grundsätzen. Zum Beispiel diesen: Im Zweifel für den Angeklagten. Das unterscheidet unser Land von einer Diktatur. Also: Wer das Schlechte schnell und gewaltsam herausreißen will, wird auch das Gute beschädigen.

Gar nicht so einfach auszuhalten. Widerstreitendes – wir erleben es ja auch in uns selbst. Dieses Zugleich widersprüchlicher Empfindungen und Haltungen. Mal kämpferisch, mal zu zurückhaltend, mal klar und mutig, dann wieder so furchtbar verzagt und diffus. Wer ist schon nur eins, und dann auch noch eins mit sich. Widersprüche trägt jede und jeder in sich. Und das kostet Kraft, allzumal wenn man merkt, dass man eigentlich das Gute will, es aber leider nicht tut…

 „Simul (zugleich) justus et peccator“ – zugleich Gerechter und Sünder - so beschrieb Martin Luther das, der im Blick aufs kommende Jahr natürlich in dieser Predigt nicht fehlen darf. – Simul – das kleine Wort hat es in sich. Genau genommen baut darauf die gar die ganze reformatorische Theologie auf. Denn das war´s, was Luther zu einem freien Christenmenschen machte: die Erkenntnis, dass wir in Gnade gesehen und „gerecht“ gesprochen sind – und zugleich sündig.

Auch wenn dies erst einmal so altertümlich fern klingt, da steckt viel Verständnis dahinter für das, was wir sind. Auch heute. Weil es genau dies ausdrückt: Dass man sich manchmal so entfernt fühlt von sich selbst. Von dem, was man gut fand oder auch, was in einem mal war an Idee, Kreativität und Schaffenskraft. Nicht die zu sein oder zu werden, die man sein könnte – so wie Gott es in dich hinein gelegt hat – das bezeichnen wir in der Theologie als Sünde. Wenn man sich also Gott in den Weg stellt, und nicht sieht, was er in dich hinein gelegt hat an Möglichkeiten.

Denn zugleich simul – du bist begnadet. In Gnade angeschaut. Die Gnade ist immer schon da. Und sie bleibt. Nicht nacheinander – erst die gute Tat, dann hat man sich Gnade verdient. Damit hat Luther ja gerade gründlich aufgeräumt. Nein, du bist begnadet. So viel ist in dir! Es bleibt dabei. Und keiner darf dir das absprechen!

Dieses „Zugleich“ ist ein aufregendes Denkmodell für unsere Gesellschaft. Denn es hilft uns, in unserer Welt, die dermaßen von Spaltung bedroht ist, das Widersprüchliche, Spannungsreiche zusammen zu denken und zusammen zu halten. Das ist die Aufgabe von uns Protestanten in einer Welt der einfachen Parolen – Sie wissen alle, was ich meine. Parolen, die sagen: Entweder du oder ich. Alles oder nichts. Alle Flüchtlinge gut – alle Flüchtlinge schlecht. Nein, beides. Simul. Beide Denkrichtungen sind zusammen zu halten! Damit Menschenrecht und Liebeswort wachsen. Darum geht es!

Und dazu gehört dann auch zu sagen, was nicht geht. Und zwar klar und deutlich. Unser Glaube wurzelt in der Wahrhaftigkeit. Und die ist heutzutage so wichtig laut zu sagen, weil über die sozialen Medien oft das Gegenteil passiert: Falschmeldungen und Hasspostings gewinnen eine immer größere Reichweite. Wir können und dürfen uns hier nicht heraushalten, liebe Gemeinde. Es ist keine gute Zeit sich zurückzuziehen ins Private. Wir müssen gegenhalten, aktiv das Gespräch suchen. Mit denen, die uns fremd sind oder geworden sind. In der Politik und Wirtschaft,  in Betrieben, Tennisvereinen, Kirchengemeinden. Von Angesicht zu Angesicht. Es ist dran, herausfinden, was den anderen umtreibt. Nicht alle, die sagen, „Das wird man doch mal sagen dürfen“ sind unerreichbare Ideologen. Reden wir mit ihnen, in der Hoffnung, dass das Argument wirkt, nicht zuerst das Urteil.

Wachsen lassen, klar sein und besonnen bleiben, all dies zugleich – und eben nicht sofort mit Stumpf und Stiel ausreißen: Es gilt, die  Wurzeln zu stärken für das Gute, damit sie uns zusammen halten. Ich bin überzeugt: Die Rückbesinnung an dieser Schwelle zum Neuen, die Rückbesinnung auf unsere Wurzeln gibt uns Halt! Das gibt uns die Kraft, in einer unübersichtlichen Welt zu bestehen und  Ängste auch zu überstehen.

Und so schauen wir heute gut geerdet das Himmelreich. Als eine Gemeinschaft, die das Wesentliche miteinander teilt, alles zugleich: Essen und Gebete, die Liebe und die Tat. Die Kranke besucht, Flüchtlinge aufnimmt und Obdachlose versorgt. Das ist Kirche, auch der Zukunft. Fest verwurzelt in guten Traditionen wachsen wir dem Licht entgegen. Als Graswurzelbewegung seit ehedem. Geboren aus einer Wurzel zart.

Ach ja:  "Wurzel" heißt auf Lateinisch "Radix". Unser Handeln darf also gern „radikal“ von der Liebe getrieben sein, guter Same auf dem Acker, tief verwurzelt, nicht leicht herauszureißen von den Stürmen dieser Zeit. Ich wünsche Ihnen von Herzen ein gesegnetes und frohes neues Jahr 2017. –  Gott segne Sie mit Kraft, Liebe und Besonnenheit. So dass er wachse, der Friede Gottes, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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