21. Februar 2016 | Dom zu Lübeck

Nächstenliebe ist universal

21. Februar 2016 von Kirsten Fehrs

Reminiscere, Predigt zu Römer 5, 1-5

Predigttext: Röm 5,1-5

1Da wir nungerecht geworden sind durch den Glauben, haben wirFrieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus;2durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird. 3Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4Geduld aberBewährung, Bewährung aber Hoffnung, 5Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.

 

Liebe Gemeinde,

„My Hope never ends!“, und dann: „Hoffnung bleiben bei mir“, so sagt es der junge Syrer neben mir mit seinen ersten deutschen Worten. Es ist Weihnachten 2015, seit zehn Tagen ist er in Deutschland. Im Arm hält er seinen kleinen Sohn. Er, der Sohn!, hat einen feinen Anzug aus Samt an und eine klitzekleine Fliege um. Mit großen Augen verfolgt er das Geschehen um sich herum – Hunderte von Menschen, die stehend singen und beten und den Weihrauchschwaden trotzen; rechter Hand die Frauen samt Mädchenchor und linker Hand die Männer mit sonoren Gesängen. Als Ehrengast auf ebendieser linken Seite feiere ich Gottesdienst mit der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Hamburg, die angesichts all der Geflüchteten aus allen Nähten platzt. Große Freundlichkeit füllt den Raum und lautes, großartiges Gotteslob – orthodox eben: Rühmen, Preisen, Halleluja, sogar tanzen tun die Männer, manche in ärmlichen Sandalen, was macht‘s. Mir zuliebe haben sie die kurze Liturgie gewählt, die dann auch wirklich nur dreieinhalb Stunden dauert…

Ich fühle mich schon irgendwie fremd – aber keineswegs unwohl – und in dieser Fremdheitserfahrung beobachte ich fasziniert, wie all die Fremden hier Heimat finden. In der Gemeinschaft, aber auch in den Melodien und vertrauten Worten des Ursprungs. Bibelwort und Gebete erklingen nämlich in aramäisch, in Jesu Sprache. Reminszere - Erinnerung des Glaubens. Sie gebiert tatsächlich, vor meinen Augen, immer wieder den Traum vom Frieden und die Hoffnung, die bleiben wird. Und ich sehe, wie der junge Syrer glücklich seinen kleinen Sohn an sich drückt.

Durch ihn, Gottes Sohn, haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,Geduld aberBewährung, Bewährung aber Hoffnung…“

Ich höre diese großen und schönen und zunächst ein wenig abgehobenen Worte des Römerbriefs – und fast wie eine Fortsetzung der Reihung wirken die ersten deutschen Worte des Syrers: Hoffnung bleiben bei mir. Sie lässt uns nicht zuschanden werden. Was mögen er und sein Sohn hinter sich haben an Bedrängnis? Verfolgung. Todesangst? Als Christen? Und inmitten dieser bunten ökumenischen Feier da am ersten Weihnachtstag wird auf einmal glasklar, wie viele dort genau wissen, was es bedeutet, verfolgt zu sein und gebrochen zu werden, weil man Christus glaubt und bekennt.

Aus Verfolgung wächst Hoffnung – Hoffnung, die hält. Auch, was sie verspricht. Das sind Durchhalte-Worte. Trostworte. Sie sind stark. Vor allem deshalb, weil sie Not und Schmerz genau kennen.

Denn Paulus kennt Rom. An die Christen dort hat er um 56 nach Christus diese Zeilen geschrieben. Er sieht Rom vor sich, diese umtriebige, laszive Stadt, die sich gern ihres Kolosseums rühmt. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal da waren, in dieser Arena der Superlative, in der unvorstellbar viel Blut geflossen ist. In den 400 Jahren, in denen regelmäßig Schaukämpfe stattfanden, starben dort schätzungsweise mehr als 100.000 Menschen, die Zahl der getöteten Tiere geht in die Millionen. Es ist einer der blutigsten Orte der Welt, gilt als Ort des Leidens und des Martyriums, an dem auch zahllose Christinnen und Christen von wilden Tieren zerfleischt oder vom Schwert hingerichtet wurden.

Dies alles hat Paulus vor Augen, wenn er sagt: „Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse.“ Sie gehören zum Alltag der Christen, damals. Todeskämpfe in Arenen, aber auch Spott und Demütigung, Schläge und Benachteiligungen. Paulus kennt das gut, und zwar von beiden Seiten: als Täter und Opfer.

War er doch zunächst selbst ein grausamer Verfolger, bis er buchstäblich vom Saulus zum Paulus wurde, auf diesem Weg nach Damaskus, ausgerechnet Damaskus. Dort, unweit von Aleppo, hat er der Gewalt abgeschworen. Sein Leben ganz und gar in den Dienst Christi gestellt. Und gerät von da an selbst in Bedrängnis: „Ich habe Geißelhiebe erhalten, bin mit Stöcken geschlagen, bin gesteinigt worden“, so schreibt er von sich im zweiten Korintherbrief.

Schläge, Vergewaltigung, Vertreibung: So ist es. Auch heute. Solche Verfolgung um des eigenen Glaubens willen haben viele der Flüchtlinge erlebt, die heute zu uns kommen. Wer mit ihnen redet, merkt schnell: Sie tragen die Narben dieser Bedrängnisse an Leib und Seele. Natürlich sind es nicht allein Christen, die im Nahen Osten leiden. Aber sie gehören mit zu der größten Gruppe. Weil sie kein geschlossenes Siedlungsgebiet haben, in das sie sich zurückziehen könnten. Weil sie als westliche Agenten gelten. Weil sie oft vergleichsweise gebildet und wohlhabend sind.

Als ich vor einigen Monaten in Jordanien in den Flüchtlingslagern war, traf ich auch armenische Christinnen, die mehrere Wochen mit ihren Kindern in die Gewalt der barbarischen IS-Terroristen geraten waren. Weniger was sie sagten, als vielmehr das, was sie nicht sagten (oder sagen konnten), zeugte von den Erlebnissen, die ihre Seele und ihren Glauben auf‘s Tiefste erschüttert haben. Auch sie trugen ihre Kinder auf dem Arm, die ganze Zeit. Sobald die Mütter nämlich Anstalten machten, sich - und sei es für Sekunden - von ihnen zu trennen und sie auf den Boden zu setzen, fingen die Kinder sofort an zu schreien. Erschütternd, dass da nichts sie zu halten schien, dass kein Ort der Hoffnung war, innerlich nicht und äußerlich auch nicht.

Etliche haben sich mitsamt ihrer Not hierher nach Norddeutschland aufgemacht, wo Freunde und Verwandte leben. Denn so ist es ja längst: Das orientalische Christentum ist durch die vielen, die schon seit Jahren vor Verfolgung fliehen müssen, längst zu einer internationalen Gemeinschaft geworden. Sie leben in Europa, in den USA, in Australien. Und eben auch in Hamburg oder Lübeck.

Ihnen gilt heute am Sonntag Reminszere besondere Aufmerksamkeit. Und am liebsten nicht nur an diesem Sonntag. Mich beschäftigt nämlich schon länger, ob und wie wir als Kirchen viel aktiver auf unsere Glaubensgeschwister zugehen könnten und sie willkommen heißen. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass wir Flüchtlinge anhand ihrer Religionszugehörigkeit sortieren. Jeder Mensch, der bei uns Asyl findet oder als Kriegsflüchtling aufgenommen wird, hat das gleiche Recht auf Unterbringung, Verpflegung, Bildung. Ob er nun Christ oder Muslim oder Jezide ist. Es ist doch klar: Nächstenliebe ist universal! Und genau sie stellt uns in die nächste große Aufgabe der Integration. Und hier haben wir die großartige Chance, als Kirche unseren Glaubensgeschwistern gegenüber (mehr) Offenheit und Gastfreundschaft signalisieren. Die kleinen christlichen Migrationsgemeinden jedenfalls dürfen wir mit dieser großen Herausforderung nicht alleine lassen. Auch sie brauchen unsere Solidarität.

Wie also wäre es, (wenn Sie es nicht längst tun), wenn wir in die Flüchtlingsunterkünfte gingen und die Christen dort zu unseren Gottesdiensten einladen? Mit allem Respekt, versteht sich. Oder wenn wir einmal im Monat einen speziellen Gottesdienst für Flüchtlinge anbieten. Ich weiß, in Lübeck geschieht schon vieles. Ebenso stellen viele Hamburger Gemeinden ihre Kirchen für Gottesdienste afrikanischer oder nahöstlicher Christen zur Verfügung. Und ohnehin diskutieren wir, wie wir uns als evangelische Kirche Menschen aus anderen Kulturkreisen stärker öffnen können. Aber dennoch – es gibt noch so viel zu tun!

Es fängt genau genommen jetzt richtig an: wir leben in dieser Zeit der Veränderung. Veränderung, die viele ihrerseits weniger als Bereicherung denn als Bedrängnis erleben, als Enge, als Angst. Wie ist das, fragen sie, wenn demnächst 200 oder 500 oder gar 1.000 Flüchtlinge in meiner Nachbarschaft wohnen? Wie wirkt sich das auf das Klima des Stadtteils aus, welche Konsequenzen hat das für die Schulen? Ich verstehe diese Ängste, sie sind menschlich. Und Fragen sind dazu da, gestellt zu werden. Und vielleicht braucht‘s im Moment genau dies, was Paulus versucht: Er beschreibt die Veränderung als einen Prozess von Bedrängnis hin zur Hoffnung. Heißt für uns: Auf den ersten Blick ist die Zahl der Geflüchteten, die bleiben werden, groß - aber schafft uns das? Wirklich? Ist die Einengung tatsächlich so massiv? Wirklich? Für Sie persönlich? Wir sollten mit Paulus den Mut haben, das scheinbar Bedrohliche anders zu bewerten und zu sagen: Bedrängnis ist Zeit der Bewährung. Eine Aussicht, kein Schreckgespenst. Ja, sogar eine Gnade. Also ein Geschenk der Erneuerung. Gar nicht leicht, aber enorm hoffnungsfroh. Auch wenn das Leben noch so kompliziert scheint, die gesellschaftliche Lage trübe ist (was sie ja derzeit gar nicht ist!) und die Zukunft unklar – Hoffnung bleiben bei mir, sage ich mit dem Syrer. Oder mit Paulus gesprochen:Hoffnung aber lässt dich nicht zuschanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Und zwar längst. Und nicht nur im alten Rom. Sondern hier. Heute und jetzt.

Welch‘ guter Predigttext in dieser Zeit. In der manche Sorge und Angst, aber auch unverantwortliche Angstmacher uns derzeit an Grenzen bringen. Buchstäblich. In unserem Land und in Europa. Paulus dagegen schreibt uns die Weite ins Herz und den Mut und die Besonnenheit. Geduldig und hoffend. Klug genug, Spott nicht mit Spott und Hass nicht Hass zu beantworten. Vielmehr aufmerksam dafür, welche Grenzen wir akzeptieren und welche wir überwinden müssen. Und zu letzteren gehören die Grenzen der Humanität, denen wir europaweit begegnen, zuallererst. Mit Herzensweite, sagt Paulus, und auf einmal werden wir gewahr, wieviel wir zu verschenken haben!

Es war dann am Schluss des Gottesdienstes, nach den dreieinhalb Stunden orthodoxen Rühmens, Singens und Tanzens – da winkt der im Gegensatz zu mir noch völlig unerschöpft wirkende Priester den kleinen Sohn meines syrischen Nachbarn zu sich. Der springt vom Arm, wippende dunkle Locken, die Fliege dreht sich fast mit seiner Geschwindigkeit und er holt ein Geschenk. Für mich. Für den Ehrengast. Eine Ikone, wunderschön. Weihnachten schenkt man sich was, sagt Priester Dan. In der Tat, denke ich und bedanke mich für den Reichtum dieses Vormittags. Für das Miteinander. Die neuen, auch fremden Erfahrungen. Und den Segen. Den reichen Segen, füge ich hinzu, als ich sehe, dass Leute aus der Gemeinde einen Präsentkorb in Lastwagengröße vor mir abstellen. Als kleine Gabe der Gastfreundschaft, sagen sie.

Mich haben diese Menschen wochenlang begleitet, was sage ich: genährt  – und meine Gäste auch. Mit Keksen, Tomatencreme und Früchtebrot. Und mit der Hoffnung, die immer bei mir bleiben wird.

Wie der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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