25. Januar 2015 | Kirche zu Reinfeld

Ode an das Kleine und Schutzbedürftige

25. Januar 2015 von Gothart Magaard

Letzter Sonntag nach Epiphanias, Festgottesdienst zur Eröffnung des Matthias-Claudius-Gedenkjahres mit einem Predigttext zu Rut 1, 1-22

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch!

Liebe Schwestern und Brüder,
ein Gedenktag, sagt das Lexikon, vergegenwärtigt einen bedeutsamen Tatbestand und seine bleibende Wirkung.

Den ersten Gedenktag, den 200. Todestag von Matthias Claudius, haben wir schon im Rücken. Das Jubiläumsjahr liegt vor uns und wird heute eröffnet: Ein Matthias-Claudius-Jahr hier in seiner Heimatstadt Reinfeld in Holstein. Auf Vieles können wir uns freuen: Gedenkmedaille, Vorträge, Ausstellungen, Konzerte, Gottesdienste, Picknick usw. usw. Sicher hätte der so Geehrte seine stille Freude an der merkwürdigen Verkehrung der Tage gehabt, die uns der Kalender beschert. Er hätte sich wohl auch gefragt: Was will das bedeuten, dass dieses Matthias-Claudius-Jahr mit dem Todestag beginnt und im Sommer der Geburtstag folgt?

Aber geht es bei dem Gedenken an Matthias Claudius tatsächlich um einen bedeutsamen Tat-Bestand? Tatenreich kann man das Leben des „Wandsbecker Boten“ nicht nennen. Mancher Zeitgenosse hielt ihn eher für antriebsschwach. Nicht Taten waren sein Reich, sondern Worte. Die bedeutsamen Wort-Bestände.

Matthias Claudius liebte alte Wortbestände. Sie galt es zu käuen und wiederzukäuen, um ihren verborgenen Sinn zu ergründen. Aber er blieb in den alten heiligen Schriften nicht stecken. Genauso intensiv suchte er nach den echten Worten für die Gegenwart, suchte und fand die eigenen Wortbestände und Wortfügungen. Und was er dabei zu Papier brachte, das ist so schön, so zu Herzen gehend und gültig, dass wir diese Worte nach 200 Jahren immer noch lieben, sie gerne singen und weitersagen.

Wer mit dabei sein konnte, als sich an einem Maiabend vor zwei Jahren unzählige Menschen beim Hamburger Kirchentag mit Kerzen in den Händen um die Binnenalster drängten und alle, Jung und Alt, Hamburger und Fremde, Einheimische und Zugereiste, Kirchenchristen und Skeptiker wie aus einem Munde einträchtig „Der Mond ist aufgegangen“ sagen  - ich bin sicher: wer an diesem Abend mitgesungen oder nur zugehört hat, der wird diesen besonderen Augenblick nicht vergessen.

Claudius hat der deutschen Sprache wunderbare Gedichte geschenkt. Selten geht es dabei um Staatsaktionen auf der großen Weltbühne. Da hielt er Distanz und war grundsätzlich misstrauisch. Denn er sah, dass am Ende den kleinen Leuten die Rechnung präsentiert werden würde.

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Auch die Dramen des Alltags in Haus und Familie waren sein Lieblingsthema – und warum sollte der erste Zahn nicht sein Lobgedicht bekommen und mit einem Augenzwinkern nach dem großen Alexander benannt werden?

Motetto, als der erste Zahn durch war
Victoria! Victoria!
Der kleine weiße Zahn ist da.
Du Mutter! komm, und groß und klein
Im Hause! kommt, und kuckt hinein,
Und seht den hellen weißen Schein.

Der Zahn soll Alexander heißen.
Du liebes Kind! Gott halt ihn Dir gesund,
Und geb Dir Zähne mehr in Deinen kleinen Mund,
Und immer was dafür zu beißen!

Das klingt nach harmloser Idylle. Aber dann ist da der letzte Vers, der den Horizont aufreißt und die prekäre Verfassung allen Menschendaseins anspricht: „Und immer was dafür zu beißen!“

Der Welt- und Existenzbezug ist bei Claudius immer mitgedacht. Aber er setzte auf emotionale Intelligenz. Er wusste, dass alles Belehren wertlos bleibt, wenn es nicht auf die Person und das Einzelschicksal bezogen wird. Wenige Jahre, nachdem Johann Wolfgang Goethe die These vertreten hatte, Sklaverei sei als Element des Naturrechtes nicht zu beanstanden, veröffentlicht der „Wandsbecker Bote“ das Gedicht „Der Schwarze in der Zuckerplantage“. Es gilt als das erste deutsche Gedicht gegen die Sklaverei auf den Plantagen Westindiens. In jenen dänischen Kolonien, denen auch Wandsbeker Bürger ihren Reichtum verdankten.

Der Schwarze in der Zuckerplantage
Weit von meinem Vaterlande
Muß ich hier verschmachten und vergehn,
Ohne Trost, in Müh' und Schande;
Ohhh die weißen Männer!! klug und schön!
Und ich hab' den Männern ohn' Erbarmen
Nichts getan.
Du im Himmel! hilf mir armen
Schwarzen Mann!

Das ist nicht der hohe Ton einer allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wie man sie in Paris verkündete. Claudius argumentiert nicht. Er appelliert an unser Rechtsempfinden und Mitgefühl. Wer hatte mehr Erfolg, Paris oder Wandsbek? Dänemark schaffte als erstes europäisches Land die Sklaverei ab. Napoleon führte sie in den Kolonien wieder ein.

Schauen wir nun auf den Predigttext für heute. Auch da geht es nicht um Haupt- und Staatsaktionen. Das Schicksal der kleinen Leute steht im Mittelpunkt. Wir hörten eine Geschichte von Not und Hunger und Migration. Von der Integration in der Fremde wird erzählt, von erneuten Schicksalsschlägen, und von der großen Ratlosigkeit.

Wie geht es mit uns jetzt weiter? Wo finden wir ein Dach über dem Kopf, Schutz und Sicherheit? Jenseits der Grenze, so hört man, ist der Wirtschaftsaufschwung da. Sollen wir es versuchen? Aber wie wird man uns aufnehmen? Wäre es nicht besser, im Schutz der Sippe und des eigenen Volkes zu bleiben?

So wird hin und her geredet und geweint und geklagt. Und dann fallen Worte Ruths, die wir alle kennen:
Wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Das ist der Klassiker unter den Trausprüchen. Der Inbegriff des Treueschwurs. Ein Versprechen unbedingter Solidarität, in guten wie in bösen Tagen. „Wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“

In der Lesung haben wir gehört, dass es sind nicht zwei Menschen gleichen Alters sind, mit gleichen Lebenschancen, demselben Hintergrund, derselben Sprache und demselben Glauben, die sich das sagen. Ganz im Gegenteil. Rut ist Moabiterin, Noomi stammt aus Israel. Beide Völker hatten Kriege gegeneinander geführt. Man pflegte seine Vorurteile hüben wie drüben. Für die Moabiter waren die Israeliten Besatzer und Landräuber (4. Mose 24). In Israel erzählte man, die Moabiter würden barbarische Götzen anbeten und ihre Kinder dem Moloch vorwerfen (2. Kön 3,27).

Dazu kommt die Ungleichheit in den Lebenschancen. Ruth ist als eine junge Frau und hat die Aussicht, erneut in einen Sippenverband einzuheiraten – was sie bekanntlich tun wird. Noomi ist alt und abgearbeitet und ohne solche Hoffnung. Deshalb ruft sie ihren beiden verwitweten Schwiegertöchtern zu: „Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einen Mann zu nehmen.“

Vor diesem Hintergrund wird die Pointe, vielleicht sogar Provokation, dieser Geschichte deutlich: Das elementare Gebot der Menschlichkeit ist nicht gebunden an Sippe, Volk, Sprache und Religionszugehörigkeit. Es liegt allen diesen Spaltungen voraus und gilt gegenüber jedem und jeder, die ein Menschenantlitz tragen. Gerade in der Schwächeren oder in dem Schwächeren tritt uns das Bild Gottes entgegen. Es ist an uns, das zu sehen.

Ruth sieht es so und lebt diese Solidarität und sagt: Bedränge mich doch nicht, dich zu verlassen, mich von dir abzuwenden. Denn wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Denn ich weiß von Dir Noomi: Du bist schwächer, verletzlicher, schutzbedürftiger. Deshalb bleibe ich an deiner Seite.

Liegt uns Heutigen diese „heilige Parabel und Hieroglyphe“, um mit Claudius zu reden, so gänzlich fern? Viele von uns erleben, dass der Tod Menschen aus nächster Nähe reißt und nichts mehr ist wie vorher. Und dass das eigene Leben Stück für Stück neu bedacht und eine neue Perspektive braucht. Und dann ist es gut, wenn aufmerksame Menschen da sind, die Halt geben und freilassen und mitgehen.

Andere erleben, dass sie sich entscheiden müssen, wenn sie zwischen verschiedenen Welten leben. Und dann ist es gut, wenn sie sich auf Freunde und Netzwerke verlassen können, auch die Kirchengemeinde kann ein solches Netzwerk sein.
 
Und unzählige kleine Leute sind wie die Ruth und Noomi auf der Flucht aus den Krisengebieten der Gegenwart. Nur mit dem Allernötigsten unterwegs, ohne Schutz und Obdach. "Willkommenskultur" ist ein wichtiges, gutes Wort. Was müssen wir tun, um es mit Leben zu füllen? Es ist eine zentrale Aufgabe für uns alle, für eine Kultur der Menschlichkeit in unserem Land einzutreten.

Noch einmal zurück zu Matthias Claudius: Als Europa verwirrt und erschöpft am Boden lag, als die Rede vom „Untergang des Abendlandes“ zum Bestseller wurde und im Krieg verrohte junge Männer schwarz oder braun anzogen, um nach Rom und zur Feldherrnhalle zu marschieren – in diesen wirren und gefährlichen Jahren hat Hugo von Hofmannsthal 1922 Matthias Claudius höchstes Lob gespendet:

„Wir haben zwei Schriftsteller, denen man den Ehrennamen Volksschriftsteller mit Recht geben darf: Claudius und Hebel. Was sie in ihren Zeitschriften - die von beiden alleine ohne Mitarbeiter geschrieben wurden - den Zeitgenossen darboten, ist wahrhaftig, rechtlich, witzig, sinnig und gemüthaft, und darum heute so lebendig, gültig und wahr wie damals. Im Fortleben eines so bescheiden-gehaltvollen Menschenwerkes liegt das Zeugnis, wie beständig die Mitte der Nation sich im Geistigen und Sittlichen hält.“

Hofmannsthals Hoffnung, dass die Mitte der Gesellschaft sich auch zukünftig im Geistigen und Sittlichen halten möge, wurde leider enttäuscht. Wir sollten versuchen, es besser zu machen. Matthias Claudius‘ Wort-Bestände und Wort-Fügungen atmen einen Geist christlicher Humanität, der nie das Kleine und Schutzbedürftige vergisst – nicht den Schmerz des ersten Zahns, nicht die Tränen des Sklaven, nicht „den kranken Nachbarn auch“. Wer sich für diesen gläubigen Christen, diesen Überlebenskünstler interessiert, sollte sich mit ihm beschäftigen. Das Jubiläumsjahr wird vielfältige Gelegenheiten dafür eröffnen.

Er hat uns etwas zu sagen, auch nach 200 Jahren.

Lieber Johannes!
Die Zeit kömmt heran, dass ich den Weg gehen muss, den man nicht wieder kömmt. Ich kann dich nicht mitnehmen und lasse dich in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist. Halte dich für zu gut, Böses zu tun. Hänge dein Herz an kein vergänglich Ding.

Was du sehen kannst, das siehe, und brauche deine Augen, und über das Unsichtbare und Ewige halte dich an Gottes Wort. Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint, und du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könne.

Lehre nicht andre, bis du selbst gelehrt bist. Nimm dich der Wahrheit an, wenn du kannst und lass dich gerne ihretwegen hassen; doch wisse, dass deine Sache nicht die Sache der Wahrheit ist, und hüte, dass sie nicht ineinander fließen, sonst hast du deinen Lohn dahin. Tue das Gute vor dich hin, und bekümmre dich nicht, was daraus werden wird.

Amen

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