Ökumenischer Gottesdienst anlässlich 375 Jahre Westfälischer Friede
25. Oktober 2023
Predigt zu Philipper 2, 1-5
Gnade und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Dona nobis pacem. Amen.
Liebe Friedensgemeinde,
die Welt ist aus den Fugen. So fühlt es sich an angesichts all dessen, was wir in den vergangenen Wochen und Monaten gesehen haben und an unsere Seele haben herankommen lassen. All dies Leid in der Ukraine, so lange schon, in Syrien auch, in Jemen, im Sudan, in Bergkarabach. Tag für Tag Krieg. Flucht. Vertreibung. Nacht für Nacht diese tobende Angst. Wir wissen genau um unzählige getötete Menschen, unversöhnliche Feinde, verwüstete Länder, zerstörte Kultur – Hunderttausende, die das Schwarz der Trauer tragen, weil die eigene Welt im Dunklen untergegangen ist. Und natürlich – wie erst steht der entsetzliche Terror in Israel uns vor Augen. Kinder, Frauen und Alte, die beim Feiern niedergemetzelt werden. Was für ein abgrundtiefer Hass hat sich da Bahn gebrochen! Und gleich wie man zu dem Nahost-Konflikt mit all seinen vergebenen Friedenschancen stehen mag, hier wurde nicht allein Völkerrecht eklatant gebrochen, sondern eine zivilisatorische Grenze überschritten. So viel Gewalt und sinnloser Tod zieht dieser Terror nach sich, so viele unschuldige Opfer – auf allen Seiten. Die Welt ist aus den Fugen, so verwundet und geschwächt, dass kaum noch etwas sie zusammenzuhalten scheint.
Wenn es also ein historisches Datum gegeben hat, das kaum treffender und tröstlicher in diese Zeit sprechen könnte, dann ist es das heutige. Die Errungenschaft – genau dies, errungen – der Westfälische Frieden von 1648! So berührend war es für mich vorhin, als ich in diese singende Friedensstadt hineinkam. Und mir dankbar bewusst wurde, dass ich stets im Frieden leben durfte. Ich fühle mich aufrichtig geehrt, diesen Tag mit Ihnen gemeinsam an diesem Ort – allemal als predigende Evangelische in diesem Dom - vor und mit Gott begehen zu dürfen. Ein Jubiläum, das dem Weltwunder des Friedens in der damaligen Zeit Jubel entgegenbringt und das zugleich stets mahnendes Gedenken bleibt. 375 Jahre ist es her, dass hier nach unendlich zähen Verhandlungen aus Feinden – wenn schon nicht Freunde – so zumindest Gegner, versöhnte Gegner wurden. Mit unterschiedlichen Interessen und Glaubensüberzeugungen, aber geeint in dem einen Ziel: dass das Töten, Brennen und Morden endlich ein Ende finden möge.
Keiner hatte damals noch an Frieden geglaubt. So sehr war die Welt aus den Fugen! Dreißig Jahre Krieg! Brandschatzende Soldaten, verwüstete Landstriche, Hunger und Seuchen, tausendfacher Tod. Allein in der Stadt Magdeburg wurden im Jahr 1631 zwanzigtausend Menschen getötet, für die grauenhafte Verwüstung der Stadt hat man gar den Begriff „magdeburgisieren“ geprägt. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, nach geschätzten dreieinhalb bis sechseinhalb Millionen zivilen Opfern und knapp einer halben Million getöteter Soldaten, reifte die Einsicht, dass keine der beteiligten Mächte in diesem Krieg je siegen würde.
Und so verhandelte man. Erschöpft von all der Gewalt. Erschöpft von dem, was Menschen einander antun können. Man verhandelte über vier, fast fünf Jahre, fünf Jahre Pumpernickel für einen westfälischen, schwer erarbeiteten Schwarzbrotfrieden. Delegationen aus ganz Europa trafen sich in Münster und Osnabrück. Man kam sich buchstäblich näher, in diesen damals kleinen Orten, die mitsamt ihrer Verbindungswege entmilitarisiert wurden. Immerhin, ein erster kleiner Friedensanfang. Und so sprachen einerseits die Gesandten des Kaisers mit denen Schwedens und den protestantischen Reichsständen in Osnabrück. Andererseits die Gesandten des Kaisers mit denen Frankreichs und den katholischen Reichsständen in Münster. Die Krisenherde und Konflikte waren komplex wie ein gordischer Knoten. Verwoben zudem mit dem irrsinnigen Kampf um Glaubenswahrheiten, ein dunkles Kapitel auch europäischer Religionsgeschichte.
Doch sie verhandelten – mit zäher Geduld. Klugheit. Bisweilen gedämpftem Zorn. Tricks. Sagenhaft komplizierten Details. Wie gelingt es, von alten Positionen Abstand zu gewinnen? Was braucht es, um Ausgleiche zu schaffen? Am 24. Oktober 1648 dann konnte der Vertrag tatsächlich von allen Seiten in Münster unterschrieben und tags darauf hier in Osnabrück verkündet werden. Ein kleines Weltwunder. Denn alles, was den Menschen damals wert war, wurde geregelt: Recht auf Land, politische Mitbestimmung, Glaubensfreiheit, ja, der Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde bestätigt. Die großen Konfessionen wollten friedlich nebeneinander leben, nun sogar ohne dass die Untertanen die Konfession wechseln mussten, wenn der Landesherr konvertierte. Hat funktioniert, sieht man doch heute, allein hier im Altarraum, wie nicht nur die großen, sondern alle Konfessionen gemeinsam für den Frieden singen, leben, einstehen. Summa: Den Hut muss man ziehen vor diesen Verhandlern des Westfälischen Friedens, den Königen der Kompromisse. Sie wurden zur Grundlage einer Friedensordnung, die für die kommenden über 150 Jahre tragen sollte.
Soweit die Historie. Doch, liebe Geschwister, wie ist das emotional gegangen? Angesichts der Unversöhnlichkeiten, des Hasses, der Machtexzesse auch, denen wir in den Diktatoren unserer Zeit auch wieder gegenüberstehen, wie ist das gegangen mit dem Verhandeln, mit dem Versöhnen? Wie ging es aus der Feindschaft heraus in diese Einsicht, dass auf Gewalt niemals Gerechtigkeit und Friede aufbauen können? Dass es etwas Gemeinsames geben muss, das die Welt zusammenhält?
Dona nobis pacem – als vor kurzem in Hamburg der weltbekannte Ballettmeister John Neumeier sein fünfzigjähriges Bühnenjubiläum beging, gab er zum Erstaunen der Stadtgesellschaft gerade nichts Leichtes, kein Dornröschen oder Schwanensee. Er tanzte mit seinem Ensemble die h-Moll-Messe von Bach. Als herzzerreißendes Friedenszeichen. Und als ökumenischen Brückenschlag, sozusagen ökumenepreisverdächtig. Er widmete sich als Katholik mit seiner Choreographie der Messe eines evangelischen Komponisten, die wie die katholische Messe auch mit dem Erbarmen ansetzt, um mit der Friedensbitte zu enden. Fast dreißig Jahre verdichtete Kompositionserfahrung von Johann Sebastian Bach begegnete den Jahrzehnten tänzerischer Verdichtung eines John Neumeier. Und, liebe Geschwister, zu sehen, wie sich auf dieser Bühne über die Zeitläufte hinweg, über die Weltkriege, aber auch den Krieg in der Ukraine, damals und heute sich verschränkend, die Bitte um Frieden und die Sehnsucht nach Versöhnung den tausendfachen sinnlosen Tod besiegt, nein: überwindet!, machte alle atemlos. Die Welt ist aus den Fugen – das konnte man sehen bei den bis in die Sehnen sich sehnenden Kindersoldaten mit ihrem marschierenden Schrittfolgen! Bis dann – beim Gloria in excelsis – die Engel sich ihrer erbarmen. Indem sie sich in die zackigen Bewegungen der Kinder hineinschmiegen, sich einfühlen, ja, sie tragen. Trotzig lebensbejahend mit ihrem engellauten Gloria in excelsis Deo – den Menschen Frieden und ein Wohlgefallen! – tragen sie die Kleinen in ihre Rettung hinein, heraus aus der mörderischen Not, manchmal auch von dieser in jene Welt. Ein einziges Ringen des Guten mit dem Bösen, bei dem die Engel die Ferse vorn haben. Selten ist für mich so eindrucksvoll deutlich geworden, dass es heute mehr denn je dieser flehentlichen Bitte bedarf: Dona nobis pacem. Herr, gib Frieden – mit allen Sinnen.
Denn es braucht mehr als gute Worte. Es braucht die Haltung der Einfühlsamkeit, um inmitten all der Weltverwundungen an Frieden zu glauben, für ihn zu beten, ja, ihn erringen zu können. Eine Haltung, die uns zum Menschen macht – der Philipperbrief des Paulus fasst das in denkbar klare Worte. Demut heißt eines davon. Achtung das andere. Und dem anderen dienen, damit es ihm oder ihr gut gehe. Es ist eine Haltung, die wir von allem Anfang an als Kinder in uns tragen. Jedenfalls solange es uns nicht ausgetrieben wird. Eine soziale Haltung, mit der schon der kleine Mensch hofft, selbst achtsam behandelt zu werden. „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Übrigens eine Haltung, die sich auch im Hebräischen Testament und im Koran finden lässt, und bei den Bahais und im Buddhismus, dies sei angesichts des Runden Tisches der Religionen in Deutschland, der morgen hier tagt, ausdrücklich betont.
Oder in den Worten des Westfälischen Friedens: „Es soll dieser [Friede] aufrichtig und ernstlich eingehalten und beachtet werden, auf daß jeder Teil Nutzen, Ehre und Vorteil des anderen fördere und daß treue Nachbarschaft, wahrer Friede und echte Freundschaft neu erwachsen und erblühen möge.“
Dona nobis pacem.
Und es wurde Friede.
Fast fünf Jahre hat es gedauert, bis die Bitte die Herzen nicht nur der Verhandler, sondern auch der Mächtigen erreicht hat. Von 1643/44 bis Oktober 1648! Mit brennender Geduld – dona nobis pacem! Und ich blicke auf all unsere Weltverwundungen heute und denke: So lange darf es nicht dauern. In Israel nicht. In der Ukraine nicht. So wichtig es ist, dass ein völkerrechtswidrig angegriffenes Land sich verteidigen muss – menschliches Leben ist doch so viel mehr als bloßes Dasein, es verlangt nach Freiheit und nach Sinn – so wichtig ist es deshalb zugleich, dass das Ende von Kampfhandlungen ernsthaft eine Möglichkeit bleibt. Es darf nicht die gesamte Ukraine zugrunde gehen. Auf gar keinen Fall darf es zu einer atomaren Eskalation kommen, zu einem territorialen Flächenbrand. Wann endlich ist die Kriegsermüdung so groß, dass aus den Schwertern der brutalen Feindschaft Pflugscharen der Verhandlungsbereitschaft werden? Denn bis es zu so etwas wie einem tragfähigen, nachhaltigen Frieden kommen kann, bis alle strittigen Fragen verhandelt sein werden, könnten Jahre ins Land gehen, womöglich dreißig Jahre....
Dona nobis pacem. In Demut und Achtung vor dem Leben. Gebe Gott, dass die Friedensfindigen den Mut haben sich aufzumachen, um zueinander zu kommen. Von allen Seiten. An kleinen Orten mit kleinen Anfängen. Sehnsüchtige, die es trotz allem Schmerz und bleibender Verletzung der Kriege schaffen, der Vernunft die Tür zu öffnen. Der Einsicht, dass die Gewalt ein Ende haben muss. So dass aus Feinden vielleicht nicht Freunde, doch wenigstens Gegner werden, mit denen man reden, die man hören, ja vielleicht sogar verstehen kann. Die Kompromisse für einen Gewinn halten und nicht für eine Niederlage.
Dona nobis pacem. Der Friede, den wir in Europa so lange erleben durften, braucht uns alle mit aufrichtiger Haltung als Christenmenschen. Hier und heute, in unserer Gesellschaft, in unseren Städten und Dörfern. Gott schenke uns deshalb diesen vom Philipperbrief ans Herz gelegte, diesen uneigennützigen Blick darauf, was dem anderen zum Guten dient: Dem Kind, den Alten und dem geflüchteten Menschen in der Nachbarschaft auch. Dass wir ihnen, die bei uns ankommen, nicht mit Ablehnung begegnen, sondern mit Achtung vor der Würde eines jedes Menschen. Entgegen jedem völkisch-nationalen Egoismus, der derzeit so erschreckend um sich greift.
Dona nobis pacem – wir haben heute allen Grund, den westfälischen Friedensstiftern Achtung entgegen zu bringen und ihnen nachzufolgen. Ihrem Mut, mit dem Frieden anzufangen und nicht aufzugeben, dem Wunder die Hand zu reichen. Und so mag es geschehen, Gloria in excelsis Deo, dass die Engel im Pas de deux des Lebens deinen Fuß auf den Weg des Friedens richten. Und uns gewiss sein lassen: Gott fügt, was die Welt zusammenhält.
Mit seinem Frieden, höher als alle Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.