19. Juni 2016 | Ökumenisches Forum Hamburg

Ordination ist Innehalten und Weitergehen

19. Juni 2016 von Kirsten Fehrs

4. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Lukas 6, 36-42, Ordination im Ökumenischen Forum Hafencity

Liebe Ordinationsgemeinde, lieber Herr Turetschek,

achje, das geht ja gut los, habe ich gedacht. Gleich zu Anfang des Dienstes Gericht und Mahnung: Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Kaum ist man gestartet, stehen da schon Warnschilder: Vorsicht vor pastoralem Hochmut, vor Moralpredigt und vor kleinlichem Amtsdünkel!

Achje, das geht ja gut los, sage ich bei unserem Vorbereitungstreffen mit Ihnen, lieber Herr Turetschek, worauf Sie unvergleichlich munter, wie Sie so sind, konterten: Och, so ein bisschen Gericht schadet nie….

Nun denn, Sie werden Recht haben. Denn was uns das Evangelium widerspiegelt, ist ja durchaus realitätsnah. Diese Haltung: Leider ändern sich die anderen nicht so, wie ich es gern hätte. Denn – so lautet schon eine vergnügte Einsingübung für Chöre – „die Menschen sind schlecht, sie denken an sich, nur ich denk an mich….“

Scherz beiseite: Es ist gar nicht so leicht, eine andere oder ein anderer zu werden. Dabei haben wir – sagt das Evangelium – ein Recht dazu! Wir haben das Recht, ein anderer, eine andere zu werden. Ehrlich! Ohne die kleinen oder größeren Selbstverleugnungen. Das Evangelium setzt ein ganz eigenes Maß und Ziel: es geht darum, einen unverstellten Blick zu gewinnen. Auf sich selbst. Und dann erst auf die anderen. Am besten sieht man nämlich ohne Balken. Und Splitter. Und auch nicht nur mit dem einem Auge. Am besten sieht man mit beiden Augen – erst dann stellt sich das räumliche Sehen ein. Der unverstellte Blick erst öffnet Welten. Er ermöglicht, dass ich nicht richten muss, sondern mich neu aus-richten kann. Und zwar auf Christus hin. Und also zum Nächsten hin und zur Mitmenschlichkeit. 

Deshalb ist der allererste Satz, der allem voran steht: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“  Barmherzig – das ist, finde ich, ein wunderschönes altes Wort. Eigentlich müsste man das „b“ weglassen, denn gemeint ist „armherzig“, „miseri-cordias“, ein Herz haben für die, die arm sind und wenig vermögen. Für die, die in der Misere sitzen, die ihnen ein anderer eingebrockt hat oder sie sich selbst. Und denen wir ganz aktuell begegnen in den Straßen unserer Stadt, hier in der Hafencity mit ihren gläsernen Fassaden in ganz anderer Weise als in der Innenstadt mit zahllosen Obdachlosen. Oder ihnen, denen wir begegnen in vielen Flüchtlingsunterkünften in Hamburg und anderswo, und ganz sicher auch in Tangstedt.

Der unverstellte Blick auch auf sie öffnet Welten. Verstehenswelten. Barmherzigkeit heißt eben auch, mit dem Herzen zu verstehen, was man nicht kennt. So sagt es unser Evangelium und so beschreibt es die Charta Oecumenica, die hier in etlichen Sprachen an der Tür zur Ökumenischen Kapelle steht. Dazu passt, dass die katholische Kirche ihr „Jahr der Barmherzigkeit“ im vergangenen November begonnen hat, indem Papst Franziskus tatsächlich die Heilige Pforte in der Peterskirche geöffnet hat. Und fortan öffnete man in den Bistümern Tausende von Türen in der Welt. Türen in der Welt, die sich öffnen – welch schönes Bild in diesen Zeiten und für den heutigen Tag! Es ist immer wieder neu möglich, zu Christus zu kommen, sagen sie. Es ist immer neu möglich, sich die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit zu erschließen; es gibt immer wieder neue Möglichkeiten, als Christ barmherzig zu sein.

Es ist immer wieder neu möglich, eine Tür zu öffnen zum anderen. Also doch ein schöner Text für eine Ordination, Herr Turetschek. Denn die Ordination ist ja ein Innehalten und Weitergehen zugleich, ein besonders feierlicher Moment an der Schwelle von Gestern zu Morgen. Sie ist Wegstation und öffnet zugleich die Tür zum Amt der Kirche, zum Dienst als Pastor.

In Ihrer Biographie, das habe ich ja eingangs schon angedeutet, haben sich bis zu diesem Moment etliche Türen geöffnet. Überraschende Türen,  Türen, die längst offen standen, und auch manche Hintertür war dazwischen. Und ich habe den Eindruck in unserem Gespräch gewonnen, dass Sie genau diese wichtige Eigenschaft mitbringen, die es in unserem Beruf besonders braucht und die im Adventslied des Neubeginns heißt: Herr Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist! Offen –herzlich, so habe ich Sie erlebt, mit dem Herzen dabei. Ob auf der Kanzel, am Krankenbett oder an der Breifront, wie Sie so schön sagen. Sie sind ganz da, mit Geist und Sinn. Denn der Glaube, sagen Sie, lässt immer etwas offen. Er ist ein offenbarender Glaube. Und so haben Sie sich immer auf Neues einlassen können –  auf neue Länder und Sprachen, aufs laute Predigen auf Marktplätzen und auf leise Zeichen hinter Gefängnismauern, in Uganda, Südsudan, Verkündigung auf afrikanisch. Sie  haben die Erfahrung gemacht, wie das Evangelium frei machen kann - und wie wichtig deshalb die Bibel in richtiger, nein: gerechter Sprache ist. Und in Pommern – mit den vielen Kirchen und den wenigen Gläubigen – haben Sie auch schon an der Entkirchlichung gelitten, zugleich aber erlebt, dass die Mühen der Ebenen auch zu bestehen sind.  Nun freuen Sie und Ihre Familie sich von Herzen auf Tangstedt, mit nur einer (!!!) Predigtstätte. Da kommt es sogar vor, sagten Sie, dass in einem Gottesdienst drei (!!) Kinder getauft werden… Der unverstellte Blick – er möge Ihnen erhalten bleiben! So zugewandt, aufmerksam, einfühlsam.

Und das bedeutet: Nicht den Blick abgewandt, gar auf den eigenen Nabel gerichtet. Das macht ja den Rücken krumm und die Haltung ungerade. Nein: Den Anderen offen anschauen, darum geht’s. Und zwar nicht mit dem perfektionierten Blick auf den Mangel, der gesellschaftlich so en vogue ist. Nein, das Evangelium lockt uns in die Gegenbewegung.  Die Kritiker, Mauler und Mäkler  - denen wird genug stattgegeben. Wir haben die Botschaft der Liebe. Ein gerüttelt und überfließendes Maß an Achtung. Trost. Jeder Mensch ist würdig angesehen. Kurz: Wir haben einen anschaulichen Glauben.

Blicke, die sich treffen und Türen, die sich öffnen – das ist Gottes Dienst in dieser Welt. So dass wir Sicht bekommen, Zu-versicht. Dabei geht der unverstellte Blick über das Jetzt und das Selbst hinaus. Und darin liegt enorme Kraft: Die Kraft der Barmherzigkeit. So z.B. geschehen, als in Hamburg 2013 in der St. Pauli Kirche 80 Lampedusa Flüchtlinge Obdach gefunden haben, einfach weil es die Gemeinde nicht aushielt, sie draußen im Regen stehen zu lassen. Binnen kürzester Zeit haben sich über 100 Menschen gefunden, die sie versorgt haben. Die etwas geben wollten, vielleicht haben sie schon lange auf so eine Gelegenheit gewartet. Mit Hingabe haben sie sie versorgt mit Zahnbürsten, Frühstück, gutem Rat und Freundschaft. Am Schluss sagte die Dolmetscherin, sie war fast ein Jahr lang Tag für Tag in dieser Kirche, ohne je viel für diese übrig gehabt zu haben: Sie sei so dankbar für das, was sie bekommen hat. Es sei mit Abstand das anstrengendste, wertvollste und sinngebenste Jahr ihres Lebens gewesen.

Geben und Nehmen – es ist eigentlich so einfach. Was du willst das man dir tu – das tue du ihnen. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Eine goldene Regel. Denn es geht um Ausgleich. Du sollst nicht das letzte Hemd geben. Sondern nur das Brot brechen, also teilen. Das geben, was der andere braucht und annehmen kann. Einheimische den Fremden – und umgekehrt! Wobei Hilfe anzunehmen manchmal ja viel schwieriger ist als sie zu geben. Diese Regel des Ausgleichens ist universal. Findet sich als Sure im Koran und als Haltung im Buddhismus. Und sie ist unerhört aktuell, weil sie nämlich zeigt: Erst in der Gegenseitigkeit entsteht Freiheit. Sinn. Rede und Antwort. Ich und Du. Diese Gegenseitigkeit und diese einfache Regel - ist das entscheidende Momentum für Integration…

… und ist mein Momentum heute: Los, Türen öffnen statt schließen! Gerade – ausdrücklich heute gesagt - in Europa. Denn hier stehen wir definitiv an einem Scheideweg. Vier Tage vor einem unsinnigen Brexit-Entscheid! Ich bin so froh, dass wir hier heute gemeinsam beten und feiern, liebe Cathy Rowling, und schon damit deutlich machen: Europa und Großbritannien, das gehört doch zusammen! Kein europäisches Land kann heute mehr allein die Aufgaben bewältigen, um die es geht. Flüchtlinge aufnehmen, die Armut bekämpfen, unsere Werte gegen Diktatur und Terror verteidigen – das kann nur gemeinsam gelingen! Es geht darum, die Grundwerte einer demokratischen Gemeinschaft zu bewahren, ja den europäischen Traum von der Freiheit der Grenzen und der Vielsprachigkeit wach zu halten. Entgegen all der nationalen und rechtspopulistischen Irrungen, die derzeit unseren Kontinent heimsuchen.

Europa braucht neue Gemeinschaft und neuen Zusammenhalt – um all dies zu halten, was uns Christenmenschen wert ist und gefestigt in langer Tradition: Humanität. Freiheit. Frieden. Nächstenliebe.  - Und deshalb, lieber Pastor Turetschek, liebe Gemeinde, dürfen wir uns nicht zurückhalten, als Kirchen in ökumenischer Gemeinschaft nicht, und als dialogfähige Religionsgemeinschaften auch nicht: Es gilt Zeugen zu sein der Barmherzigkeit, die das Band des Friedens stiftet. In der Welt, in Europa, in dieser Stadt und in Tangstedt auch. Dazu segne uns Gott. Und er segne Sie, lieber Herr Turetschek, mit Kraft und Aussicht – denn das neue Land hinter dem Tor ist hell und weit:  Es ist ein wunderschönes Amt, das auf Sie wartet.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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