14. Juli 2024 | St. Jakobi in Stralsund

„Pilgern als heilsame Unterbrechung des Alltags“

12. August 2024 von Tilman Jeremias

Predigt im Pilgergottesdienst

Liebe Pilgersleut, liebe Gemeinde,

ich freue mich sehr, heute hier sein zu können bei diesem ökumenischen Pilgergottesdienst. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten ist Pilgern zu einer Massenbewegung geworden. Wir Evangelischen haben alle reformatorischen Bedenken gegen das Pilgern als ein frommes Werk, um Gott zu gefallen, über Bord geworfen und die Segnungen des Pilgerns entdeckt. Aber auch Menschen weit weg von der Kirche erobern sich das Pilgern als heilsame Unterbrechung des Alltags und machen sich auf vielfältige Pilgerwege- nicht wenige immer noch motiviert von Hape Kerkeling.

Unübersehbar entfaltet das Pilgern seine Anziehungskraft als Gegenbewegung zu einer immer dichter getakteten, sich dauernd beschleunigenden Leistungsgesellschaft, die Konsum und ständige digitale Erreichbarkeit als Maximen transportiert.

Frei werden vom Gedankenkarussel

Pilgern geht nur schlicht, mit leichtem Gepäck, langsam und bewusst, die Erde unter den Füßen, den Himmel über mir, frei werden vom rasenden Gedankenkarussell, sich erden, den Lebensweg und den zu gehenden Weg verbinden.

Hier bei uns sind jetzt die alten Pilgerrouten neu gekennzeichnet, die Jakobswege, die Via Baltica, der Birgittenweg. Pilgerherbergen am Weg warten als einfache Unterkünfte auf Gäste. Die äußeren Bedingungen sind da, um einfach loszugehen, allein oder als Gruppe.

Ich bin sehr dankbar, dass die Ökumenische Pilgerinitiative Vorpommern sich engagiert dieses großen Themas annimmt, viele Pilgerinnen und Pilger motiviert, informiert und begleitet. Mit dieser ökumenischen Pilgerkapelle hat sie einen Ort, genau dort, wo es passt, in der Kirche, die dem Patron der Pilger geweiht ist, dem heiligen Jakobus dem Älteren.

Buch Exodus, die wichtigste Weggeschichte der Bibel

Der Herrgott hat es so gefügt, dass für den heutigen Gottesdienst ein Predigttext in der evangelischen Leseordnung vorgesehen ist, der Teil der wichtigsten Weggeschichte der Bibel ist, der Erzählung des Exodus.

Das Volk Israel ist durch Gottes wunderbares Handeln der Gefangenschaft in Ägypten entronnen. Doch die neu gewonnene Freiheit bringt nicht etwa das Paradies, sondern einen äußerst beschwerlichen Weg durch die Wüste, jahrelang und entbehrungsreich.

So werden schon wenige Wochen nach dem Start kritische Stimmen laut. Wie soll das alles weiter gehen? Die Verpflegung ist knapp, die Füße schmerzen, es ist heiß und, na klar, die Anführer sind an allem schuld, Mose und Aaron. Und es geschieht nur allzu Menschliches: Um nicht die Mühen der Gegenwart ertragen zu müssen, wird die Vergangenheit verklärt. Da wird von den Fleischtöpfen Ägyptens geschwärmt, die so fleischern bestimmt nicht gewesen sind. Fast vergessen sind Zwangsarbeit und Bedrückung als Gefangene.

Diese Konstellation ist eine typische Wegerfahrung, jede Pilgerin kann davon erzählen. Da machst du dich auf den Weg, willst sehr bewusst all das Beschwerliche deines Alltags hinter dir lassen. Du planst alles, packst deine sieben Sachen, gehst los. Doch schon nach einer kurzen Wegstrecke schmerzen die ersten Blasen. Es regnet. Und du fragst: Warum tue ich mir das eigentlich alles an? Zu Hause ist es warm und trocken. Es zwingt mich doch niemand. Ich könnte ja einfach abbrechen.

Kein Weg ohne Krise

Kein Weg also ohne Krise, schon gar kein Pilgerweg. Man kann das Buch Exodus auch als Buch der Krisen des Volkes beim Zug ins Gelobte Land lesen. Ständig murrt jemand. Der Weg geht durch die Wüste. Dort ist es unwirtlich und gefährlich. Aber gerade die Wüste ist in der gesamten Bibel auch bevorzugter Ort der Begegnung mit Gott. Nirgends bist du weniger abgelenkt. Nirgends ist der Sternenhimmel eindrücklicher als in der Wüste. Nirgends spürst du intensiver, dass du angewiesen bist, auf Mitgehende, auf Gottes Geleit.

Und so hören wir in Exodus 16 von einer wiederum wunderbaren Gottesbegegnung, die die Krise überwinden hilft und mitten durch den Magen geht. Anders als an mehreren anderen Stellen wird Gott nicht zornig über das murrende Volk. Er sieht die Not. Und handelt umgehend. Israel findet mitten in der Wüste göttliche Wegzehrung. „Man hu?“, fragen sie. Was ist denn das? Köstlich und süß, wie Reif. Gottesgeschenk. Vielleicht ist es ja die Ausscheidung der Schildläuse, die die Tamrisken in der Wüste aussaugen. Bis heute sagen die Beduinen „Mann“ dazu, es ist gut essbar, süß und frisch. Wichtig ist hier, alle merken das göttliche Handeln.

Gott gibt das tägliche Brot

Ein Wunder im Wunder ist, dass jede und jeder sammelt, was sie und er für den Tag brauchen. Egal wie eifrig gesammelt wird, es kommt am Ende die Tagesration zusammen, bei der gehbehinderten älteren Dame so viel wie beim durchtrainierten Mann in den besten Jahren. Gott gibt das tägliche Brot, das Nötige für den Tag, pure Suffizienzwirtschaft. Nicht zu wenig, aber eben auch nicht zu viel. Da muss nicht ein Drittel der Lebensmittel weggeworfen werden.

Wieder sind wir mitten beim Pilgern. Pilgern geht nur von Tag zu Tag. Ich kann die Vorräte für eine Woche niemals mit mir herumschleppen. Vielleicht weiß ich nicht einmal, wo ich abends mein Haupt hinlegen kann. Ich muss den Weg nehmen, wie er kommt, jeden Tag neu. Wie viel Kraft habe ich heute, wie ist das Wetter, wie anstrengend die Strecke? Pilgern ist Leben in der Gegenwart. Und idealerweise spüre ich wie einst Israel, dass Gott mitgeht und mich versorgt mit dem, was ich brauche. Manchmal kann da der Apfel unterwegs schon zur Gottesspeise werden, Manna in der Wüste.

Heilsamer Rhythmus: Sechs Tage Arbeit, ein Tag Ruhe

Doch Exodus 16 erzählt ein noch größeres Wunder. Gott sorgt am sechsten Tag für die doppelte Portion. Am siebenten Tag wird nicht gesammelt, ja, wer trotzdem sammeln geht, findet nichts. Der siebente Tag ist Gottes heilige Ordnung. Der Schöpfer ruhte am siebenten Tag, nicht weil er erschöpft war, sondern um seinen Geschöpfen einen heilsamen Rhythmus vorzuleben, sechs Tage Arbeit, einen Tag Ruhe. Noch bevor das Volk den Sinai erreicht, die Zehn Gebote erhält, mittendrin das Sabbatgebot, noch zuvor lernt Israel den Sabbat in der Wüste. Am siebenten Tag muss niemand aus dem Lager raus, es ist Zeit zum Durchatmen, zum Beten, vor allem aber zum Nichtstun, für Spiel und Musik. Gott hat am Vortag dafür alle Voraussetzungen geschaffen mit der doppelten Ration. Und deswegen ist der Sabbat vor allem ein Tag des Gotteslobs. Ich werde mir bewusst, dass es nicht meine Arbeit ist, die das Wesentliche in meinem Leben bewirkt. Das Wesentliche wird mir geschenkt, von Gott. Dass ich geliebt bin, kann ich nicht erarbeiten, schon gar nicht bezahlen. Dass ich atme, laufen kann und singen und staunen, ist nicht mein Verdienst, sondern Werk Gottes. Der Sabbat ist mir geschenkt, damit ich begreife, wie viel mir geschenkt ist.

Pilgern ist Sabbatzeit

Sabbat ist ein Tag, der siebente. Aber es kann auch ein Jahr sein, der Acker hat Sabbat alle sieben Jahre. Pilgern ist Sabbatzeit. Und damit niemals Arbeit, an Leistung orientiert. Es sind nicht die Kilometerrekorde. Erfolgreich ist ein Pilgerweg, wenn mit dem äußeren auch ein innerer Weg geschieht. Und dieser innere Weg hat viel mit dem Sabbat zu tun. Ich lasse los, löse mich von dem, was mir Stress und Druck macht, mich eintaktet und einengt. Ich atme tief und bewusst, konzentriere mich auf den Boden, der mich trägt. Ich habe Aus- Zeit, geschenkte Zeit jenseits von Zwecken und Zielen.

Und wenn ich so innerlich mit jedem Schritt etwas freier werden kann, wird mir bewusst, wie reich mein Leben beschenkt ist. Die äußeren Wüstenerfahrungen, das Gehen, das einfache Leben, der Verzicht, helfen mir, in die eigene Mitte zu kommen. Mitten in der Wüste wartet Gott. Seine Herrlichkeit ist zu spüren, wo meine Krämpfe sich lösen, ich meinen inneren Druck verabschiede. Sabbat ist die Zeit, wo ich nichts muss, sondern nur sein darf. Und deswegen war es ein fatales christliches Missverständnis zu meinen, der Sabbat sei Gesetz. Nein, der Sabbat ist Evangelium pur.

Pilgern ist kein müheloser Komfortweg

So können wir Exodus 16 als eine kleine Pilgerfibel lesen. Beim Pilgern ist uns kein müheloser Komfortweg versprochen, eher Wüstenwanderung. Dafür geht es um nicht weniger als die Befreiung aus inneren Gefangenschaften. Die Krisen stellen sich schnell ein, das innere Murren zu ertragen ist nicht leicht. Aber es wartet die Verheißung göttlicher Wegzehrung. Engel säumen den Weg. Pilgern ist Seelennahrung. Das Ziel ist das Gehen selbst, das Unterwegs- Sein.

So ruft uns die Bibel nicht etwa zu, dass wir losgehen müssen. Sie lädt uns ein und sagt uns zu, dass wir losgehen dürfen. Denn Gott geht mit.                

Amen.   

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