16. August 2020 | Dom zu Lübeck

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis

16. August 2020 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Predigt von Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt zu Römer 11,25-32

„Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat.“ Mit dieser herzzerreißenden Klage beginnt eine der Bachkantaten für den heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis. An diesem Sonntag erinnern wir jedes Jahr an die Beziehung zwischen Juden und Christen. Ein Erinnern, das Trauer und Scham über all die Gräueltaten mit einschließt, die Christen an Menschen jüdischen Glaubens durch die Jahrhunderte immer wieder verübten. Ein Erinnern, das ebenso mit einschließt die Erschütterung, die Scham und Trauer über die Massenmorde und Vernichtung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens durch Deutsche während der national-sozialistischen Herrschaft. „Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat“.

II

Ja - schauet doch und sehet - und geht durch diese Stadt. Lenkt die Blicke nach unten, auf den Gehsteig. Lest auf den Stolpersteinen dieser Stadt die Namen der Verfolgten, Entrechteten, Gemordeten. Den Namen von Minna Blumenthal, aus der St. Annen-Str. 13. Geboren 1893, deportiert 1941, ermordet in Riga. Lest den Namen von Michaelis Schachtel aus der Beckergrube 90. Geboren 1880, deportiert 1941, ermordet in Riga. Lest den Namen von Heinz Selmanson er wohnte bei St. Johannis 4, wurde 1926 geboren, 1941 deportiert, auch er 1941 in Riga ermordet. Lest ihre Namen und die ach so vieler anderer. Erinnert euch an ihr Leid. Und schaut und seht auf das Leid der Gegenwart, auf die Verspotteten und Ermordeten, auf die um ihres Glaubens Verfolgten. Denkt an das Attentat auf die Synagoge in Halle im letzten Jahr, seht auf die Angst vieler Juden und Jüdinnen, sich auf den Straßen unserer Städte offen als Angehörige des jüdischen Glaubens erkennen zu geben. Überhört nicht den offen tönenden Antisemitismus an Stammtischen, auf Straßen, in digitalen Welten. Und vergesst nicht, was Christenmenschen über die Jahrhunderte aktiv dazu beigetragen haben, dass Menschen jüdischen Glaubens entrechtet, verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Jahrhundertelang hielten Christen der jüdischen Gemeinschaft vor, sie hätte Jesus nicht als Messias anerkannt. Sich nicht zum Glauben an ihn bekannt.

Martin Luther dachte so. Auch Johann Sebastian Bach. Damit prägten sie Glaubens- und Gedankenmuster mit, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das Verhältnis von Christen zu Menschen jüdischen Glaubens dominiert haben. Insbesondere die Enttäuschung und der Zorn darüber, dass Juden nicht den Glauben an Christus übernahmen, sondern bei ihrem Glauben blieben, dem Glauben, den der Jude Jesus geteilt hat, haben lange das Verhältnis von Christen zu Juden bestimmt.

III

Augenfällig wurde das besonders an einer Stelle im Kirchenjahr, dem heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis. Jahrhunderte hindurch wurde an ihm der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gedacht - er steht auch im Mittelpunkt der zitierten Bach-Kantate. Die brutale Tempelzerstörung wurde gedeutet als Entzug der Liebe Gottes, die sich von den Juden abgewandt und nun allein den Christen zugewandt habe. Dass Jesus selbst geborener Jude war - vergessen. Dass Jesus den Glauben seiner jüdischen Geschwister niemals verlassen hat - verschwiegen. Dass im Neuen Testament zu lesen ist: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22) - verdrängt.

Damit wir nicht mehr vergessen, verschweigen, verdrängen, erinnern wir uns am 10. Sonntag nach Trinitatis an die Beziehung zwischen Juden und Christen. Sie ist so viel reicher, als es die einseitige Auslegung biblischer Texte durch die Jahrhunderte hindurch erscheinen lässt. Heute rufen wir uns die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens ins Gedächtnis, wie es schon Paulus mit den Worten tat: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Wir lesen und hören Texte, die für Juden und Christen zentrale, wichtige Texte sind - wie das Bekenntnis des jüdischen Glaubens „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist einer“. Wir hören auf Liedtexte jüdischer Verfasser, die auch im evangelischen Gesangbuch stehen: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“.

Denn, so sagt es der Apostel Paulus im heutigen Predigttext: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“. Sie sind unwiderruflich. Gott gereut nicht die Berufung der Menschen jüdischen Glaubens zu seinem geliebten Volk. Sie ist unwiderruflich. Sie gilt - bis in Ewigkeit. Weil Gott, so schreibt Paulus, weil Gott treu ist. Er bindet seine Treue nicht an Wohlverhalten. Nicht an unser Wohlverhalten. Nicht an das seines geliebten Volkes. Seine Treue ist vielmehr Ausdruck seiner Güte und Gnade. Von seiner Gnade lebt sein geliebtes Volk Israel, von seiner Gnade leben auch wir. Seine Barmherzigkeit gilt allen gleichermaßen. Auch seine Bereitschaft, Reue anzuerkennen, Schuld zu vergeben und neue Anfänge zu gewähren.

Nach Jahrhunderten schrecklicher Schuld und furchtbaren Leides von Jüdinnen und Juden haben Christenmenschen endlich verstanden: Wir gehören geschwisterlich an die Seite der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Ich bin zutiefst dankbar, dass Menschen der jüdischen Gemeinschaft nach allem, was Christen ihr angetan haben, heute bereit sind, mit christlichen Gemeinden und Kirchen im Dialog zu sein. Das ist ein unermessliches und großherziges Geschenk. Vorsichtig wächst so ein neues Miteinander.

Deshalb: Lasst uns mit den Glaubenden der jüdischen Gemeinschaft gemeinsam hoffen auf Gottes Gerechtigkeit, auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Darauf, dass Frieden und Gerechtigkeit sich küssen werden. Lasst uns ihnen verlässliche Partnerinnen und Partner sein, die sich öffentlich in Wort und Tat stark machen gegen Antisemitismus und judenfeindlichen Parolen auf der Straße und im Netz widersprechen. Und lasst uns einschreiten, wenn Menschen - wo auch immer - um ihres jüdischen Glaubens willen verspottet oder angegriffen werden.

IV

Vor hundert Jahren wurde in dieser Stadt Hans Blumenberg geboren. Sein Vater war katholischen, seine Mutter jüdischen Glaubens. Wie Thomas Mann Jahrzehnte vor ihm war auch Hans Blumenberg Schüler des Katharineums. Allerdings war er sehr viel erfolgreicher. Obwohl er 1939 das mit Abstand beste Abitur seines Jahrgangs machte, durfte er auf Anordnung des damaligen Schuldirektors nicht die Festrede zum Abitur halten - er galt als sog. „Halbjude“, dem man meinte, diese Ehre verweigern zu können. Hans Blumenberg hat die Zeit der NS-Herrschaft auf verschlungenen Wegen und mit Hilfe anderer Menschen überlebt. Er wurde einer der bedeutendsten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit. Schon lange lese ich immer wieder in seinen Schriften, die so schwierig wie anregend sind. Ich bewundere seinen klaren, realistischen Blick - und seine nüchterne Hoffnung.

Hans Blumenberg hat sich nicht dezidiert als Christ verstanden. Und auch nicht als Jude. Aber er gibt uns, den Menschen in seiner Heimatstadt, einen Satz mit, der in sehr realistischer Weise begleiten und ermutigen kann: „Der Mensch ist zwar bedroht, aber nicht chancenlos“. Und als evangelische Bischöfin erlaube ich mir, diesem philosophischen Satz heute einen Satz des Apostels Paulus hinzuzufügen: „Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“.

Amen.

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