Das Leben ist stärker als der Tod

Predigt am 16. Sonntag n. Trinitatis (27.9.2009) von Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald) anlässlich des 10jährigen Jubiläums der Partnerschaft zwischen der Diözese Wroclaw und der Diözese Pomorsko-Wielkopolska der Evangelischen Kirche Au

24. September 2009 von Hans-Jürgen Abromeit

Johannes 11, 1,3,6; 17 bis 27; 38, 39-45 1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. 3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. 6 Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. 17 Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. 18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt. 19 Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. 20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. 21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird aufstehen. 24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 38 Da ergrimmte Jesus abermals und kam zum Grab. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag davor. 39 Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. 40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41 Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42 Ich weiß, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich’s damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! 45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.

Liebe Gemeinde, 
„es lag aber einer krank…“ Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland ist noch lange nicht gesund. Es ist immer noch angeschlagen. Am Anfang dieses Monats haben wir der 70-jährigen Wiederkehr des Überfalls Deutschlands auf Polen gedacht. Wir wissen, dass dieser imperialistische Angriffskrieg unsägliches Elend über Europa, am Ende auch über Deutschland, am meisten von allen aber über Polen gebracht hat. Die Integrität des Landes wurde zerstört, Teile wurde abgetrennt und neue hinzugefügt und schließlich hat Polen den höchsten Anteil der Bevölkerung von allen 55 im Zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten verloren. 17, 2 % der Bevölkerung, es macht in absoluten Zahlen 6 Millionen Einwohner, wurden ausgelöscht.

I

„Es lag aber einer krank…“ Ja, das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland ist krank, muss krank sein, weil nicht nur das ausgelöschte Fünftel der Bevölkerung fehlt, sondern weil damit auch die entsprechenden Nachkommen, die sonst von den Ermordeten und Getöteten erbrachten Leistungen für die Zivilisation vernichtet worden sind. Man müsste sogar Verständnis dafür haben, wenn einer sagen würde: „Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland ist nicht nur krank, sondern es ist tot.“ Auf der politischen Ebene gibt es nach wie vor Stereotypen der Unversöhnlichkeit. Niemand sollte sich bei dem unermesslichen Leid, das geschehen ist, darüber wundern. Familien wurden zerstört oder verwundet, vielen Menschen wurde die Heimat ausgelöscht und die Geschichte wurde umgeschrieben. Aber es gibt auch Zeichen der Versöhnung. Deutsche und Polen gehören heute beide zur Europäischen Union. Freundschaft wächst. In diesen Zusammenhang gehört auch der Partnerschaftsvertrag zwischen der Diözese Wroclaw und der Diözese PomorskoWielkopolska der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Polen und der Pommerschen Evangelischen Kirche vom 17. Oktober 1999. Hier hören wir einen völlig anderen Ton. Der Vertrag redet von der „Dankbarkeit für eine Jahre lang gegenseitig praktizierte Partnerschaft“, er weiß um die „gemeinsame Verantwortung“ und versteht sich „als Zeichen für Versöhnung und Hoffnung in der Mitte Europas“.

Liebe Gemeinde, wer auf dem Hintergrund der tragischen deutsch-polnischen Geschichte in der Mitte des letzten Jahrhunderts so etwas hört, der muss meinen, es gäbe Leben aus den Toten. Wer letztes Jahr beim gemeinsamen Austausch der Di-özesanräte und der Kirchenleitung der Pommerschen Evangelischen Kirche in Varzin dabei war, der hat den Geist der Zuneigung und des Interesses aneinander gespürt. Als wir Anfang September mit unserer Kirchenleitung in Köslin tagten und Vertreter des Gemeindekirchenrates in Köslin trafen, da hatten wir ein herzliches Miteinander. Der Ökumenetag in der Pommerschen Evangelischen Kirche, in Ribnitz-Damgarten vor genau einer Woche, drückte ebenfalls Selbstverständlichkeit und gleichzeitig Kostbarkeit dieser gewachsenen Gemeinschaft zwischen unseren beiden Kirchen aus. Diese neue Qualität unserer Gemeinschaft ist auf dem Hintergrund der deutschpolnischen Geschichte überhaupt nicht selbstverständlich. Man möchte meinen, diese Beziehungen seien krank und gestorben, aber wir sehen: sie sind zu neuem Leben erweckt. Weil Jesus Christus unsere Versöhnung ist, deswegen haben wir einen neuen Anfang miteinander gemacht. Dabei war es nicht unsere Freundlichkeit, die uns aneinander gewiesen hat, sondern die Liebe Jesu Christi. 

Für die Pommersche Evangelische Kirche ist die Region, die wir Hinterpommern nennen, besonders wichtig. Viele unserer Gemeindeglieder, einige auch von denen, die heute hier sitzen, haben ihre Ursprünge in Greifenberg, Kolberg, Köslin, Stolp oder Stettin. Deswegen beobachten wir das Geschick der evangelischen Gemeinden in Hinterpommern mit großer Anteilnahme. 

II

„Es lag aber einer krank…“ Es war Lazarus aus Bethanien, drei Kilometer vor Jerusalem Richtung Osten. Lazarus und seine beiden Schwestern Maria und Martha waren enge Freunde Jesu. Jedes mal, wenn er in Jerusalem war, hat er seinen Freund Lazarus und die beiden Schwestern besucht, häufig bei ihnen gewohnt. Nun ist Lazarus krank. Die Schwestern wissen: Das müssen wir Jesus mitteilen. Er wird sich um Lazarus kümmern, weil er ihm so nahe steht. Doch es geschieht das Unglaubliche. Jesus erfährt von der Not des Lazarus, aber er bleibt noch zwei weitere Tage an dem Ort, an dem er sich aufhielt. Als er schließlich nach Bethanien, in die Heimat der drei Geschwister kommt, liegt Lazarus schon vier Tage im Grab. Nun ist alles zu spät. Wie im Orient üblich, ist das Haus voll Besuch. Menschen kommen und gehen, um die hinterbliebenen Schwestern zu trösten. Als die Schwestern nun merken, dass Jesus gekommen ist, bleibt Maria einfach sitzen. Sie erwartet im Moment nichts mehr von Jesus. Allerdings ist sie ist auch die Phlegmatischere von beiden. Aber Marta geht Jesus entgehen. Sie tritt vor ihn mit einem Vorwurf: „Wenn du hier gewesen wä-rest, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ 

Diese Lazarus-Erfahrung ist genau unsere Situation. Wir verkünden Jesus von unseren Kanzeln als den Sieger über den Tod. Doch die Menschen sterben weiter. Jeder von uns kennt Frauen und Männer oder sogar Kinder, die in der Kraft ihres Lebens von schrecklichen Krankheiten oder Unfällen hinweggerafft werden. Dann beten wir zu Gott und flehen ihn an, dass er diesen guten und von uns geliebten Mitmenschen doch aus dem Tode retten möge. Und jedes Sterben erscheint dann wie eine Widerlegung des Glaubens an das Leben. Wir leiden mit denen, die wir lieb haben. Hat Jesus die, die ihm treu ergeben sind, nicht lieb? „Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank“ und Jesus kommt nicht; und Jesus tut nichts. Er hat doch die Macht über den Tod, warum hilft er nicht? Wir verstehen die Schwestern nur zu gut. Die Situation des Lazarus ist unsere Situation. 

Aber Jesus zögert sein Handeln nicht deswegen heraus, weil er hier nichts tun könnte oder wollte, sondern weil er mehr tun kann und will, als wir von ihm erbitten und ersehnen.1 Ja, am Ende weckt er auch Lazarus von den Toten auf. Aber nicht die Wiederbelebung eines Verstorbenen ist das Ziel seines Handelns, sondern die Offenbarung dessen, was Gott mit allen Menschen vorhat. 

Gott schafft Leben aus den Toten. Das ist das Mehr, das er tut, gegenüber dem, was wir von ihm erwarten. Indem uns Jesus begegnet, begegnet uns das Leben. Entscheidend ist nicht, wann wir sterben und wie lange wir leben, sondern: dass wir Jesus Christus begegnen, der die Auferstehung und das Leben ist. Die Verheißung ist paradox: „Wer an mich glaubt“, sagt Jesus, „der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ (V. 25 f).

III

Entscheidend ist nicht, wie lange wir leben und wie wir sterben, sondern, dass wir in unserem Leben Christus begegnen. Er stellt unser Leben unter eine Ewigkeitsperspektive. Er ist die Auferstehung und das Leben in Person. Ihm kann der Tod nichts anhaben. Wer auf seiner Seite steht, wird leben durch den Tod hindurch. Diese Ewigkeitshoffnung, die von dem auferstandenen und lebendigen Jesus Christus ausgeht, war die Kraftquelle und der Motor für die zivilisatorische Entwicklung Europas in den letzten zweitausend Jahren. Die Bereitschaft von Christen, Verantwortung zu übernehmen in der Gesellschaft, der Einsatz für Arme, Kranke und Benachteiligte, ist aus diesem Glauben erwachsen. Erst durch die Christusbotschaft ist Europa zu dem geworden, was es heute ist. Gewiss haben Philosophien und Denkrichtungen, haben historische Ereignisse Europa geprägt. Aber zu dem geworden, was es heute ist, ist Europa erst seitdem seine Geschichte von Jesus Christus bestimmt wird. Europa wird nur dann unser Haus werden können, wenn wir in ihm nach der orientierenden Kraft des christlichen Glaubens fragen.

Eine Nation ist nur eine Wohnung. Wir brauchen aber ein größeres Haus, das uns ein Dach über dem Kopf bietet. In dem Haus Europa gibt es viele Wohnungen. Unsere Partnerschaft hat uns über Christus zusammengeführt. Wenn wir Glieder an seinem Leibe sind, dann können wir uns gegenseitig als Geschenk aus Gottes Hand annehmen. Christus sagt: „ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Als Gliedern an seinem Leib wächst uns neue Lebenskraft zu. Sie bestimmt unser Leben und unser Tun. Wer an Jesus Christus glaubt, für den ist der Tod lediglich ein Übergang in eine umfassendere Wirklichkeit. Sterben bedeutet dann nicht mehr einen Zustand des Todes, der absoluten Beziehungslosigkeit. Wer an Jesus Christus glaubt und in der Beziehung zu ihm lebt, der lebt in der Beziehung zur Kraft des Lebens, der bleibt ewiglich. 

Normalerweise würden wir unsere Predigt taktvoll an dieser Stelle schließen. Alles Wesentliche ist gesagt. Nun kommt es darauf an, dass die Hörer aus dieser Botschaft ihre Lebenskraft gewinnen. Jesus aber geht im Johannesevangelium noch ein Stück weiter. Er fragt Marta ganz konkret: „Glaubst du das?“ Jesus hält sich nicht zurück, sondern redet sehr direkt, beinahe anzüglich. Und Marta antwortet ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ 

Wer das sagen kann, der mag krank liegen, aber in sein Leben ist es das Heil getreten. Er ist vielleicht noch lange nicht gesund, aber er hat den Ursprung der Gesundung gefunden: Die Quelle des Lebens. Der Tod wird ihn nicht halten können.

Am Ende glauben nicht etwa alle, sondern lediglich „viele“ an Jesus – obwohl sie alle dieses mächtige Wunder miterlebt haben. Auch das Miterleben so großer Wunder führt nicht automatisch zum Glauben. Wenn es aber zum Glauben führt, dann bringt es ein Vertrauen in Gott und seine Möglichkeiten mit sich, das auch das Verhältnis zu unseren Mitmenschen verändert. In der Beziehung zu unserem Nächsten werden die Störung und die Krankheit schließlich ganz herauswachsen. Das Wissen um die gemeinsame Verantwortung wird an Kraft gewinnen. Dankbarkeit, Versöhnung und Hoffnung werden aus diesem Glauben wachsen. In diesem Sinne dürfen wir uns freuen, dass unter uns Gottes neue Wirklichkeit wächst. In unserem Miteinander als Deutsche und Polen haben wir in der Kirche diese neue Wirklichkeit verspürt – wie Leben aus den Toten. Amen. 

 

 

1In Anlehnung an G. Voigt, Der schmale Weg. Homiletische Auslegung der Predigttexte, neue Folge: Reihe 1, Göttingen 1978, 409.

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