13. Februar 2022 | Dom zu Lübeck

Predigt am Sonntag Septuagesimae

13. Februar 2022 von Kirsten Fehrs

Liedpredigt zu Jesaja 50,4-9 und zu Jochen Klepper: „Er weckt mich alle Morgen“

Liebe Domgemeinde am Morgen,

an diesem Morgen ist Jochen Klepper sofort hellwach. Er spürt: Das ist mein Wort. Gerade hat er es in seiner Bibel gelesen, und es arbeitet in ihm. Er schreibt in sein Tagebuch: „Weicher, glänzender Tag. In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön. Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren: „Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie ein Jünger. Der Herr hat mir das Ohr geöffnet; […] ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.“

„Er weckt mich alle Morgen“ dieses Lied schreibt Jochen Klepper in der Karwoche 1938. Fünf Strophen, die jedenfalls mich immer im Herzen erreichen, weil darin so viel Wortkraft und Zuversicht liegen. Im Vorklang der Passionszeit lohnt es sich, aufmerksam in sie hineinzuhören: jedes Wort eine kleine Kraftquelle. „Gott hält sich nicht verborgen, umhüllt dich früh mit seinem Licht. Er ist mir nahe, damit mir nichts gebricht ...“ Das sind doch genau die Töne, die wir jetzt brauchen. Müde und erschöpft von zwei Jahren Pandemie; gerade die Kinder und jungen Menschen sind an der Grenze. Irgendwie sind wir ein wenig orientierungslos, wohin die Reise geht. Ganz aktuell kommt die Sorge um den Frieden hinzu, tatsächlich ganz nah, vor der Haustür, in Europa. In Sorge bin ich auch um unser Land und um die schwer erträglichen Töne von Hass oder von Realitätsverweigerung. Und, es gehört zum Stimmungsbild, wieder Gottesdienst ohne Abendmahl im Lübecker Dom. Wieder diese schmerzhaften Entscheidungen. Es kostet so viel Kraft, dieses Auf und Ab! Ach, es bräuchte stattdessen doch Aufschwung und Frühling und Kirschbäume, die endlich blühen. Die Sonne!

Aber, sie ist doch da. So licht! Und ich werde hellwach. Denn ja: „Er weckt mich alle Morgen“, so auch heute. Das Lied klingt beschwingt. Ein kleiner Morgentanz im Dreivierteltakt! Morgenstund hat Gold im Mund oder besser: Morgenstund hat Gott im Mund. (In dieser Passage sind einzelne Wortspiele und Gedanken angeregt durch eine Predigt von Daniel Kaiser, die er am 15. April 2019 in St. Georg Genin gehalten hat.) Eine Ahnung von heiler Welt! Mehr noch: Hoffnung, dass wir gerettet werden, nein, gerettet sind. Die Gewissheit: Wir können niemals aus Gottes Hand fallen. Gott ist nahe – und spricht! Mit seinem Wort und seinem Licht.

Also aufgewacht, ihr Ohren. Herzen. Seelen. So singt es Jochen Klepper. Und dies trotz oder inmitten seiner Müdigkeit und Erschöpfung, seiner Angst. Denn auch er ist alles andere als sorglos, als er das Lied schreibt. Genau deshalb spricht ihn dieser alte Jesajatext ja so an. Denn Klepper kennt seine Bibel ganz genau. Er weiß: In den Worten des Jesaja spricht ein Mensch, der von allen Seiten bedrängt wird. Der unglaublich leidet. Man lauert hinter seinem Rücken, stößt ihn von der Seite, spuckt ihm ins Gesicht. Reißt ihm den Bart aus.

Aber er beschließt, sich davon nicht treffen zu lassen. Und er tut, was in solchen Situationen oft der letzte Ausweg ist: Er schützt sein Innerstes. Macht äußerlich sein Gesicht hart wie einen Kieselstein. Im Vertrauen auf die Hilfe Gottes und darauf, das Richtige zu tun, macht er den Rücken gerade, den man ihm brechen will. Und sagt damit: Ja, als Mensch bin ich verwundbar – so viele erleben dies derzeit täglich über alle Maßen – aber es gibt auch eine Kraft, die mich innerlich zusammenhält. Die mich frei macht. Durch das Wort, das Gott spricht. Denn er ist der wahre Herr der Welt!

Und mir geht durch den Sinn, dass es manchen Menschen buchstäblich gerettet hat. Sie haben in den Kerkern der Diktatoren für sich selbst Psalmen aufgesagt oder Bibelworte und Liedtexte. Die vier Lübecker Märtyrer etwa. Oder Martin Niemöller, der während der Nazidiktatur so lange im Gefängnis war. Als er, von Depressionen niedergedrückt, freigelassen wird, kann er das Gesangbuch auswendig. Wie der Gottesknecht aus der Bibel hält, der Leidende den Feinden damit entgegen: Äußerlich könnt ihr mich wohl brechen, aber innerlich nicht.

Die Worte des Propheten machen Jochen Klepper Mut. Und den braucht er wahrlich. Er ist zermürbt davon, sich über Jahre hin der Drangsal durch die Nationalsozialisten zu erwehren. Seinen Beruf als Journalist kann er schon lange nicht mehr ausüben. Er, der zeitweilig Sozialdemokrat war und vor allem eine jüdische Frau geheiratet hat. Just im Frühling 1938 verliert die Familie ihr selbstgebautes Haus im Süden von Berlin. Es fällt den „Germania“-Plänen zum Opfer, dem Traum von einer „Reichshauptstadt“, die die Größe und den Machtanspruch des nationalsozialistischen Staates repräsentieren sollte.

Klepper schreibt zu jener Zeit in sein Tagebuch: „Hanni sagt, jetzt breche ihr manchmal wegen der Angst um die Zukunft der Juden in Deutschland nachts der Schweiß aus, vor allem in Gedanken an Anstellung und Auswanderung der Kinder. Unser Schlaf ist wieder elend wie in den bedrohtesten Zeiten.“

Und dahinein erklingt das Lied vom leidenden Gottesknecht! In diese bleierne Müdigkeit. Und so unbeschwert sein Morgenlied klingt, so schwingen Not und Angst unausgesprochen zwischen den Zeilen mit. Zumal wir wissen: Es geht nicht gut aus. Als Hanni und ihre Tochter 1942 deportiert werden sollen, gehen sie beide gemeinsam mit Jochen Klepper in den Tod. Halten einander in den Armen bis zum letzten Atemzug. Sein letztes Wort im Tagebuch berührt mich immer wieder: „Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ Da schweigen Angst und Klage; nichts gilt mehr als sein Ruf.

Ein Christus, der um uns ringt, liebe Gemeinde. Kaum könnte man es treffender zusammenfassen, was in der kommenden Passionszeit unser Denken und Fühlen bewegen mag. Christus, der um uns ringt. Wenn es sein muss, jeden Morgen.

„Eines Morgens“, so erzählte es vor einiger Zeit ein Pastoren-Kollege von St. Pauli – Sie wissen, da wo in Hamburg Kiez ist, Hafen, Reeperbahn und grelles Licht in dunkler Nacht – „eines Morgens kam ein Mann zu mir in die Kirche. Ich sehe gleich, dem geht es nicht gut. Schon lange nicht. In der Hand hält er vier Nägel. ,Herr Pastor, schlagen Sie mich ans Kreuz’, sagt er. ,Mein Leben hat keinen Sinn, keinen einzigen.’“ Und der Pastor, dieser kluge Bruder, sagt wie aus einer Eingebung heraus: „Nun, das wird nicht gehen“, und zeigt auf das Kruzifix. „Sehen Sie, da hängt schon einer.“ Und dann ist der Mann gegangen. Vielleicht sogar erleichtert. Mit neuer Freiheit, wer weiß. Kreuzestheologie in 30 Sekunden.

Christus, der für uns ringt und um uns ringt. Jeden Morgen, den er uns weckt. 30, 31 Tage im Monat. Davon singt das Lied, liebe Gemeinde. Im Dreivierteltakt, aber nicht vom strotzenden Optimismus. Nicht von unerschütterlicher Lebensenergie. Vom „Das wird schon.“ Nein, es ist das Hoffnungslied eines zerbrochenen und verwundbaren Menschen. Der trotz aller Nöte Kraft gewinnt durch das Wort. Wohlgemerkt, nicht das hingesagte Wort. Sondern das geglaubte, errungene oder gar erzweifelte. Eben wie es am Schluss heißt: „Sein Wort will helle strahlen, so dunkel auch der Tag.“

„Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.“ Das ist der besondere Hoffnungsmoment: Die Dämmerung – dann wenn die Ängste am größten sind – ist eine Pforte! Ein Übergang von der Nacht zum Licht, vom müden Schlaf zum wachen Tun. Zu dem Moment hin, an dem die Welt wieder langsam Kontur gewinnt und die eigene Stimme noch rau ist und ungeübt – da ist Gott nah. Ruft mich. Sagt: Steh auf, dein Weg ist noch weit. Steh auf, du hast eine Aufgabe. Bei Jesaja erklingt dies in den allerersten Worten, die Jochen Klepper interessanterweise auslässt. „Gott hat mir eine Zunge gegeben […], dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“ Erst die Stimme, dann das Ohr. Für die Müden, die so trostbedürftig sind. Gottes Wort ist immer auch ein Weckruf, der dir sagt: Du wirst gebraucht. Weil da erschöpfte Menschen sind, die auf ein Hoffnungswort warten, das sie wirklich glauben können.

Und wie sie warten! Mein Eindruck ist, in diesen Monaten und Tagen besonders. Und ja, liebe Gemeinde: Es ist Zeit mit den Müden zu reden. Mit ihnen, die endlich wieder einen Liebesfrühling wollen, all die jungen Menschen, die sich danach sehnen aufzublühen. Es ist Zeit zu reden, aber auch mit denen, die „mütend“ sind, müde und wütend. Denen, die keine Worte mehr „verlieren“ wollen, denen „es reicht“. Deren Ohr irgendwie verwachsen ist vor lauter Hass und Hetze. Es ist Zeit, dass wir reden, klar und vernehmlich, und nicht aufhören damit. Gerade, wenn jetzt Menschen so verbiestert sind und angreifen, was unsere mühsam errungene Demokratie zusammen hält. Reden wir mit ihnen, die noch erreichbar sind. Es ist Zeit, auch weil das Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze alle Seiten zu einer Kalten-Krieg-Rhetorik verleitet. Diese verbale Aufrüstung ist doch besorgniserregend! Aufwachen ist angesagt. Widerspruch, der nicht zurückschreckt. Und – natürlich – das Gebet als unsere Sprache des Glaubens, Gebet, das niemals und keinen aufgibt. Deshalb, um der Bedrückten und Leidenden willen, lasst uns gleich in der Fürbitte in die Worte unserer russisch-orthodoxen Geschwister einstimmen, liebe Gemeinde, dass wir nicht müde werden, den Frieden zu hoffen. Es ist Zeit!

Jetzt braucht die Hoffnung klare Worte statt leiser Töne. Lebenswort, das Frieden schafft. Und Sehnsucht weckt, jeden Morgen neu. Nach Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen
 

 

Datum
13.02.2022
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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