ST. PETRI-DOM

Predigt anlässlich der Einweihung der restaurierten Dom-Orgel

04. Juli 2010 von Gerhard Ulrich

Liebe Festgemeinde, wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Die Kindheit von Christoph Eschenbach, dem großen Pianisten und Dirigenten, war dramatisch und traumatisch. Seine Mutter stirbt bei seiner Geburt, 1940. Kurze Zeit später stirbt auch sein Vater - an der Front, in einem Strafbataillon.

Eschenbach kommt zur Großmutter, sie flüchten aus Schlesien, die Großmutter stirbt an den Folgen der Flucht. In dem Auffanglager in Mecklenburg bricht Typhus aus. Einer nach den andern stirbt, auch der behandelnde Arzt. Christoph ist der letzte Überlebende. Fünf Jahre ist er alt und hat nur Krankheit, Not und Tod kennengelernt. Gerettet wird er durch seine Adoptivmutter, Wallydore Eschenbach. Sie pflegt den kranken, abgezehrten Jungen. Aber weil das alles für ein Kind viel zu viel ist, verliert Christoph seine Sprache. Er verstummt, redet einfach nicht mehr. Es hat ihm die Spreche verschlagen.Aber im Hause Eschenbach wird viel musiziert. Es fällt auf: Immer wenn Musik erklingt, wird der sonst so verschlossene, apathische, teilnahmslose Junge unruhig. Eines Tages fragt man ihn: „Christoph, willst du das vielleicht auch lernen?“ Und das Wunder geschieht. Sein Mund öffnet sich, seine Augen werden hell, ein deutliches „Ja“ kommt über die Lippen des Jungen.

Musik findet den Weg zu den geheimsten Plätzen der Seele. Und führt die Seele zurück zu längst vergessenen, verschlossenen Quellen des Lebens. Eine Frau, der ein Schlaganfall die Sprache geraubt hatte, singt plötzlich im Weihnachtsgottesdienst ein altes Lied mit: Musik ist Gedächtnis guter Lebenskraft und steckt voller Wunder-Kraft! Musik ist Seelsorge, Seelentrost, ist Therapie, ist Ärztin. 
Der Sänger Orpheus, so wussten die Griechen zu erzählen, konnte mit seiner Leier auch die wildesten Bestien zähmen, und selbst der Hüter des Totenreiches ließ sich von seiner Musik umstimmen und ließ Euridyke wieder frei. 
Nicht anders in der Bibel: Immer wenn das Blut an seinen Händen und die Schatten der Vergangenheit den König Saul heimsuchten und sein Gemüt umnachtet war, dann riefen die Großen des Hofes nach dem jungen David, damit er mit dem Klang seiner Harfe die bösen Geister bannte und die Seele des Königs tröstete.

Daran muss ich denken, wenn ich die Orgel höre. Und wenn ich spüre und sehe, wie ihre Sprache Menschen erreicht und verändert, sie packt und leitet. Das kann sie: den Frieden hinein spielen und singen in die unfriedliche Welt; Hoffnung erklingen lassen in alle Resignation; Trauer in eine Harmonie bringen mit der Ahnung neuen Anfangs.

Unvergesslich wird mir der Moment sein, als bei der großen Dombegehung neulich Rainer Selle die erneuerte Domorgel vorführte. Ein Zauber schien von dem Instrument und dem mächtigen Spieltisch auszugehen: Rainer Selle setzte sich auf die Orgelbank, Raum und Zeit um ihn her schienen zu versinken, seine Augen blitzten, die Töne erfüllten den Dom, schwollen an zum großen Fortissimo und wieder ab zum ganz feinen, singenden Sphärenklängen, die tiefen Töne des Basses gingen durch Mark und Bein wie dann wieder das zarte Glockenspiel des Zimbelsternes die Seele streichelte. Er konnte mit dem Spielen gar nicht aufhören, die Zeit drängte, alle wollten weiter - aber Rainer Selle saß und spielte und sprach, und sein Mund war voll des Lobes über die Kunst der Orgelbauer und ihre wunderbare Arbeit an diesem Instrument. "Die große Domorgel ist für mich ein wahr gewordener Traum", so kann man es jetzt auch in dem schönen Beiheft zur ersten Orgel-CD nachlesen, "Ich bin begeistert! Traumhafte Bedingungen, um mit größter Lust und Freude darauf zu spielen!" 
Wir freuen uns über Ihre Spielfreude und auf Ihr Spiel an der großen Domorgel. Möge das Instrument Sie immer wieder aufs Neue begeistern und inspirieren, möge Ihre Begeisterung über den neuen Klang sich mitteilen, auf die Gemeinde überfließen und unsere Stimmen immer wieder beflügeln, mitreißen und sicher anführen.

Wieso gibt es überhaupt Orgeln in den Kirchen? Warum setzten wir so viel Geld ein und tragen wir Zuschüsse zusammen? Warum spenden Menschen und übernehmen Patenschaften für einzelne Pfeifen? Sicher, Instrumente wie die große Domorgel sind äußerst wertvolle Kulturschätze. Aber ist es das allein? Das Evangelium gibt die tiefere Antwort:

„Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ Darum geht es doch: die Begeisterung des Organisten, die Begeisterung der Hörerinnen und Hörer gilt ja nicht nur dem Instrument, gilt nicht nur der Schönheit und Klarheit der Töne! Sie gilt dem, was das Instrument und die Töne transportieren, mitteilen, austeilen: das Lob Gottes, den Dank für seine großen Taten; das Lob seiner Größe, die alles übersteigt, was wir zu denken, tun und zu planen vermögen. Wir lassen uns von der Sprache der Orgel begeistern, weil sie in uns hinein tönt die Verheißung unseres Gottes; weil sie malt das Klangbild seines Reiches des Friedens und der Vollkommenheit! Es ist das Lob des Schöpfers, das uns begeistert, des Schöpfers, der uns Instrumente gibt, sein Lob laut werden zu lassen: menschliche Stimme und Stimme der Pfeifen und Zimbeln; ein Lob, das alle Register ziehen kann!

Orgeln und Menschen haben etwas gemeinsam. Wir Menschen leben, weil uns lebendiger Himmelsatem eingehaucht wurde. „Da machte Gott den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“. Das ist die Wurzel, unser Ursprung und unsere Bestimmung. Die Erde, von der wir genommen sind, gibt uns den festen Boden unter den Füßen, der offene Himmel über unseren Häuptern ist die Luft, die wir zum Leben brauchen. Vom allerersten Schrei bis zum letzten Atemzug geht mit jedem Einatmen ein Stück Himmel in uns ein, erfrischt, beseelt, belebt Körper und Geist. Der Atem trägt unser Leben, trägt unser Sprechen und Singen.

Der Atem des Windes belebt und beseelt ebenso die Stimmen der Orgel und bringt sie zum Klingen. Zunächst ist da nur totes Holz, Metall, Leder und Draht. Aber wenn die Orgel spielt, dann atmet sie ein und aus wie ein lebendiges Wesen. Die Luft des Himmels und die Kunst des Organisten führen sie zu ihrer Bestimmung, und sie klingt und schwingt "zu Gottes Ehre und zur Recreation des Gemüths", wie J.S. Bach seinen Orgelschülern ins Stammbuch schrieb.
Also: Gott zu loben und zu helfen, dass Menschen in ihrem Singen inspiriert und geführt werden - das ist Sinn und Zweck des Instrumentes. So ist dieses Instrument mehr als nur ein Instrument: es ist ein Medium für das eine Amt der Kirche, die Verkündigung. Die Orgel predigt, sie bringt das Wort Gottes zum Klingen, bläst, flüstert, schreit das Wort unseres Gottes in Herzen und Sinne. Sie ermutigt die Glaubenden, ihrerseits nicht stumm zu bleiben.

Diese Orgel hat schon Generationen von Menschen begleitet und sie wird es weiter tun. Hierher kommen Eltern und Paten, wenn ein Kind getauft werden soll. 
Die Konfirmanden werden unter den Klängen dieser Orgel hier einziehen, und den Segenempfangen für ihr Heranwachsen und Reifen. Für ihr Leben als Erwachsene. 
Brautpaare werden weiter festlich einziehen und gesegnet wieder hinausgehen mit der Musik dieser Orgel.
Menschen werden weiter an ihre Toten denken; sie werden klagen, trauern und Gott danken– und die Orgel wird da sein und sie begleiten, sie wird sich freuen mit den Fröhlichen und sie wird weinen und klagen mit den Weinenden. 

Das erste Glaubensbekenntnis Israels war ein Lied. Das Lied der Freiheit, das Danklied für die Rettung am Schilfmeer: „Da nahm Miriam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in die Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und Miriam sang ihnen vor: ‚Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan‘ “.

Genauso ist es, als Christus nach Jerusalem geht. Manch einer mag sich fürchten, weil er dunkel ahnt, was kommen wird. Dennoch und trotzdem singen die Jünger Lieder der Befreiung. Sie können nicht anders, weil sie Großes erfahren hatten. Später verschlägt es ihnen die Sprache. Sie flüchten , laufen auseinander, verkriechen sich: tonlos, sprachlos, verstummt.

Doch der auferstandene Christus sammelt sie wieder, Gottes Geist weckt ihre Lebensgeister, beseelt ihre Gemüter, begeistert Herz und Sinn. Sie verstehen: Das Kreuz, der scheinbar sinnlose Tod des Gottessohnes ist unsere Freiheit. Seit Ostern liegt das Grab hinter uns, und nur noch Gottes Leben vor uns. Das ist der Durchbruch, sie können wieder Atem holen, die stummen Zungen lösen sich, und ganz Jerusalem hört es am Pfingstfest, jeder in seiner eigene Sprache: diesen fließt das Herz und der Mund über, sie sprechen und singen und danken Gott und loben seine Taten.

Seitdem dankt die Gemeinde Gott mit Stimmen und Instrumenten für die Freiheit, die er uns durch Christus geschenkt hat. "Lasst das Wort Gottes reichlich unter euch wohnen und lehrt und ermutigt euch mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern und singt Gott dankbar in euren Herzen.“ sagt der Apostel.

Gottes Wort will uns öffnen und inspirieren, damit uns das Lied der Freiheit gelingt. Damit andere dadurch ermutigt, getröstet und wieder fröhlich gemacht werden: Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Jeden Sonntag dürfen wir ein "kleines Ostern" feiern. Feiern, dass das Leben erschienen ist und Gottes guter Geist unter uns wohnt. Und wie könnte man besser feiern als mit Liedern, Gesängen, mit Musik, die den Weg in die Seele findet? „Wenn einer aus seiner Seele singt, heilt er zugleich seine innere Welt“, hat Yehudi Menuhin geschrieben, „wenn alle aus ihrer Seele singen und eines sind in der Musik, heilen sie zugleich auch die äußere Welt.“Musik ist eine Kraft, die umstürzen kann. Sie ist der Atem der Freiheit. In den großen Freiheitsbewegungen sind Lieder entstanden, die ermutigt, bekräftigt und bewegt haben: das Volk Israel hat in der Verbannung in Babylon große Psalmen gesungen, die sie zurück haben kehren lassen nach Jerusalem. Die Reformation hat in Liedern ihre Glaubenskraft zum Ausdruck gebracht: und wenn die Welt voll Teufel wär`, dichtet Martin Luther und „Ein feste Burg ist unser Gott, singen wir seither.Ich werde nicht vergessen, wie ich als kleiner Junge den schwarzen Sänger Kenneth Spencer gehört habe mit einem deutschen Volkslied:
Die Ged anken sind frei, wer k ann sie err aten,

sie fliegen vorbei, wie n ächtliche Sch atten.

Kein M ensch kann sie w issen, kein J äger ersch ießen.

Es bl eibet dab ei: Die Ged anken sind fr ei!

Ich denk' was ich will und was mich beglückt,
doch alles in der Still', und wie es sich schicket
.Mein Wunsch, mein Begehren kann niemand verwehren,
es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!
Und sperrt man mich ein in finstere Kerker,
das alles, das sind vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei, die Gedanken sind frei!
So hat er gesungen in einer Zeit, als der Befreiungskampf der Schwarzen in Amerika auf dem Höhepunkt war, Martin Luther King und andere für gleiche Rechte und Freiheit kämpften – so lange ist das noch nicht her. Da lieh sich ein Schwarzer ein deutsches Lied: und schon verwandelte es sich in Kraft und Mut!
„We shall overcome“ - so haben wir an Lagerfeuern nachgesungen das Lied der Befreiungsbewegung der Schwarzen – und es gehörte zu den Befreiungsliedern auch vor 20 Jahren, als die friedliche Revolution die Mauer zu Fall brachte und in Freiheit Menschen zusammen führte. Musik ist Kraft der scheinbar Schwachen, in denen mächtig ist die Kraft der Verheißung Gottes!

Darum feiern wir heute die erneuerte Domorgel. Und wir danken – danken allen, die mitgeholfen haben, dass dieses Instrument seine Stimme wieder gefunden hat; danken Gott, dass er uns mit der Musik die heilende Kraft seines Wortes spüren lässt, die befreiende Kraft erfahren lässt.Darum: 
Lobet Gott in seinem Heiligtum,
lobet ihn in der Feste seiner Macht!
2 Lobet ihn für seine Taten,
lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit!
3 Lobet ihn mit Posaunen,
lobet ihn mit Psalter und Harfen!
4 Lobet ihn mit Pauken und Reigen,
lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!
5 Lobet ihn mit hellen Zimbeln,
lobet ihn mit klingenden Zimbeln!
6 Alles, was Odem hat, lobe den HERRN!
Halleluja!
Amen.

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