Lebenswasser Woraus Synodale ihre Kraft schöpfen können

Predigt anlässlich der Eröffnung der XII. Pommerschen Landessynode am 16. April 2010 in der Dorfkirche zu Züssow über Johannes 7, 37 – 39 von Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit

16. April 2010

Am letzten Tag, dem Haupttag des Festes, trat Jesus auf und rief laut aus: „Wer Durst hat, soll zu mir kommen; und es trinke, wer an mich glaubt!“ So, wie die Schrift sagt: „Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leib fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn es gab noch keinen Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.

Liebe Mitsynodale, liebe Gemeinde!

Ein neues Kapitel unserer Kirche sollen wir aufschlagen. Wir sind die XII. Pommersche Landessynode und nach menschlicher Erwartung und Berechnung wahrscheinlich die letzte. Im Jahre 2012 wird die Pommersche Evangelische Kirche ihre souveräne Existenz aufgeben, 478 Jahre nach ihrer Gründung im Jahre 1534 auf dem Landtag zu Treptow an der Rega. Und Sie, liebe und verehrte Synodale, sollen unsere liebe Pommersche Kirche bei der Aufgabe ihrer Eigenständigkeit begleiten. Natürlich ist sie auch schon in die Jahre gekommen. Sie reichte einmal von vor den Toren von Rostock, nämlich von Damgarten, bis vor die Tore von Danzig, nämlich bis nach Lauenburg. Sie hatte einmal, vor 70 Jahren, beinahe 2 Millionen evangelische Gemeindeglieder. Heute haben wir noch 96.000 Evangelische in der Pommerschen Evangelischen Kirche. 

Aber gut, dass sind die Zeitläufe. Die menschenverachtende Nationalsozialistische Diktatur und der Zweite Weltkrieg haben schon äußerlich die Pommersche Evangelische Kirche ungeheuer dezimiert; sie sowohl in der Fläche wie in der Mitgliederzahl auf ein Drittel zurückgeworfen. Den Rest hat die Kommunistische Diktatur in 40 Jahren systematischer Entchristianisierung beigetragen. So schwer es ist, wir müssen den Realitäten ins Auge blicken. Deswegen ist es auch Zeit geworden, dass wir uns kirchlich- organisatorisch neu aufstellen. Die Kreissynoden, die Kirchenleitung, die Gremien, die Sie gewählt oder delegiert haben, sie haben Ihnen einen hohes Amt als Synodale anvertraut. Es wird nämlich ganz wesentlich an uns, dieser Pommerschen Landessynode, liegen, wie der Fusionsprozess der drei Evangelischen Kirchen im Norden Deutschlands in den nächsten zwei Jahren zu seinem Abschluss gebracht wird. Es ist noch viel zu tun. Es wartet noch viel Arbeit auf uns. Aber es wird an den Entscheidungen liegen, die diese Synode zu fällen hat, dass unsere Gemeinden und die Menschen in Vorpommern nicht den Eindruck haben, das Kapitel der Evangelischen Kirche würde nun vollends zugeschlagen, sondern ein neues Kapitel nur in einer anderen Gestalt würde aufgeschlagen. 

Gewiss, hier ist viel zu tun, aber das soll uns nicht schrecken. Das, was mich dagegen eher bedrückt, ist der Vorwurf mancher Zeitgeistanalytiker, die behaupten, der christliche 2Glaube, zumindest bei uns, sei mittlerweile zu einer so genannten „kalten Religion“ geworden. Heiße Religion sei heute zum Beispiel der gelebte islamische Glaube, selbst in seinen extremen und perversen Formen, der im Jahre 2001 die westliche Welt aufgeschreckt hat, als er die Twin Towers in New York in die Luft gesprengt  hat. Aber auch in seinen moderaten Formen ist der Islam höchst lebendig. Er kommt auch uns immer näher. Nachdem wir auch in unserem Bundesland schon längst eine Reihe von islamischen Gebetsräumen haben, haben nun die Planungen für den Bau einer großen und imposanten Moschee in Rostock begonnen. 
Seht, sagen die Religionsanalytiker, der christliche Glaube mag ja in Afrika oder Asien und Südamerika ausgesprochen lebendig sein, bei uns ist aus ihm das Leben gewichen. Da bleibt das Bedürfnis nach Geborgenheit und Sinnzusammenhang. Aber ist es nicht so, wie Rüdiger Safranski sagt: „Die großen Kirchen leeren sich, aber das Angebot für den religiö-sen Hobbykeller wächst.“1 Kalte Religionen faszinieren nicht mehr. Sie haben die Abkühlung innerlich akzeptiert. Sie haben sich auf das „Gesellschaftsdienliche herunterkühlen lassen“. Sie wissen auch nicht, wie man in einer pluralistischen Welt überzeugend den eigenen Werten folgen kann, ohne andere herabzusetzen, und geben sich deswegen eher neutral. In kalten Religionen ist der Glaube Privatsache. Es entwickeln sich Eigengesetzlichkeiten und die Werte, die im Raum der Religion gelten, sind andere, als die, die im Raum der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik gelten. Aber als kalte Religion geht es dem Glauben schlecht. 
Wir kennen Vergleichbares aus der Liebe. Auch der Liebe bekommt es überhaupt nicht, wenn Sie nur noch analysiert und zerlegt wird. Eine Beziehung zwischen zwei Menschen wird zerstört, wenn ihr Miteinander lediglich von außen betrachtet, auf seine Ursachen und Fehler hin betrachtet wird, aber nicht mehr die spontane Zuneigung ihren Raum hat. Da sagt uns Rüdiger Safranski: „Dem Glauben ergeht es schlecht, wenn man nicht mehr aus ihm, sondern nur über ihn spricht.“2 Im Urchristentum, bei Paulus, dem „Begründer des Christentums als Weltreligion“, war das noch ganz anders. Gerade Ostern haben wir es noch gehört. Er sagt: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.“ (1. Kor. 15, 14). Bei Paulus entdecken wir heiße Religion. Er setzt alles auf eine Karte und die heißt Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Weil Christus auferstanden ist, deswegen werden auch wir auferstehen. Daran glaubt Paulus ganz fest und zu einem solchen Glauben will er damals die Korinther und heute uns locken. Erlösung war für Paulus eine höchst reale Hoffnung. 

Paulus freilich hätte das Christentum nicht zu einer Weltreligion machen können, wenn da nicht dieser Jesus von Nazareth gewesen wäre, der die neue Idee des Christentums aus dem Judentum heraus geschaffen hätte. Ein Christentum ohne den Stifter Jesus Christus hätte es nicht gegeben. Dabei fasst die kleine Szene, die uns mit dem Evangelium für den heutigen Gottesdienst vorgelegt worden ist, alles zusammen, was im Kern über Jesus Christus zu sagen ist. Jesus tritt auf dem Laubhüttenfest in Jerusalem auf. Das Laubhüttenfest ist eines der drei großen Feste des Judentums, die im Jahreslauf in Jerusalem gefeiert werden. Es ist ein ausgelassenes Erntefest im Herbst, im September, Oktober. Es ist geprägt von einer solchen ausgelassenen Freude, das ein Traktat des Talmud sogar sagen kann: „Wer das Laubhüttenfest nicht kennt, hat sein Lebtag keine Freude gesehen.“ (Sukka 5,1).
Es ist geprägt von vielfacher religiöser Symbolik. Dazu gehörte auch, dass täglich Priester aus dem Teich Siloah Wasser schöpfen, es in einer Wasserprozession feierlich durch die Altstadt Jerusalems zum Tempel hinauftragen, es vor dem Brandopferaltar ausschütten und dabei für die kommende Regenzeit um reichen Regen bitten und darüber hinaus den unbegrenzten Segen der zukünftigen Heilszeit erbitten. Ohne Wasser gibt es kein Leben.

Wasser ist der Schlüssel zur Fruchtbarkeit. Wir Menschen sind auf Wasser angewiesen. Ohne Wasser können wir es nicht lange aushalten. 
Mitten in dieser von Wassersymbolik reich gefüllten religiösen Handlung, an einem Ort, wie Jerusalem, an dem es zu dieser Zeit seit 6 Monaten nicht mehr geregnet hat, tritt Jesus in der Art alttestamentlicher Propheten auf und ruft laut in die Menge: „Wer Durst hat, soll zu mir kommen, und es soll trinken, wer an mich glaubt!“ Einerseits muss die Wirkung des Auftretens Jesu mitten in dieser liturgischen Festhandlung gewaltig gewesen sein. Die Aufmerksamkeit war ihm sicher. Andererseits ist sein Handeln auch peinlich. Jeder von uns, der regelmäßig Gottesdienste zu halten hat, hatte auch schon einmal mit solchen Störungen des liturgischen Ablaufes zu tun. Vor wenigen Wochen hatte ich bei einem Abendmahlsgottesdienst im Greifswalder Dom ein vergleichbares Erlebnis. Nach den Einsetzungsworten zum Abendmahl, dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser, konnte ich die Einladung zum Mahl nicht aussprechen, weil sich ein geistig labiler Mann nach vorne ans Mikrofon drängte und seine Botschaft in die Runde der um den Mittelaltar Stehenden verkündete. 

So werden die Menschen in Jerusalem damals – und es wird sich um Tausende gehandelt haben – auch nicht genau gewusst haben, ob hier ein Mensch in der besonderen Autorität Gottes redete oder aber ob es sich um einen Mann mit übersteigerten religiösen Aufmerksamkeitssyndrom handelte. Indem Jesus sich die bekannten Rufe von Wasserverkäufern und anderen Marktschreiern zum Vorbild nimmt, gewinnt er eine unüberseh- und -hörbare Aufmerksamkeit. Dabei kritisiert er natürlich durch die Art des Auftretens den religiösen Kult des Judentums seiner Zeit. Das Wasser, mit dem beim Laubhüttenfest hantiert wird, ist nicht das Lebenswasser. Das kann nur Jesus geben. Er sagt ja nicht weniger als dies: „Die Sehnsucht, die dich umtreibt, ich kann sie dir stillen. Die Leere und das Burn-out, die dich so zerschlagen sein lassen, ich kann sie dir füllen.“ 

Liebe Synodale, das ist heiße Religion! Da steht einer mitten in einem tosenden, tollen religiösen Tumult und lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich. „Wen da dürstet, der komme zu mir!“ Kann denn ein Mensch so etwas sagen? Natürlich sind wir in dieser Welt umher getrieben, suchen nach Geborgenheit und haben manches Mal auch Angst vor dem, was kommen mag, in unserm persönlichen Leben, im Leben unserer Liebsten und allgemein im Weltenlauf. Und Jesus steht da und verspricht: „Ich kann euch Ruhe geben für eure aufgeschreckten Seelen. Aber du musst schon empfinden, dass dir etwas fehlt.“ Die Selbstzufriedenen und Satten werden sich nicht angesprochen fühlen. Jesus sagt: Wen da dürstet, der soll kommen und trinken. Wir müssen es niemandem andiskutieren, dass er ja eigentlich auch Durst hat und es nur noch nicht gemerkt habe. Der Schöpfer hat seine Menschen so geschaffen, dass sie das höchste Glück, Erlösung, nur in seiner Nähe erfahren. Wer aber meint, dessen nicht zu bedürfen, dem ist – zumindest im Moment – nicht zu helfen. Die Erlösung schmecken, trinken, kann auch nur der, der an Jesus Christus glaubt. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Faszination durch Jesus Christus und die unbedingte Erfahrung: „Ich bin gemeint! Ich darf und soll zu ihm kommen und alles das, was mich belastet, niederdrückt, was mich als fehlerhaft und unvollständig mich empfinden lässt. Alles das soll ich und darf ich zu ihm bringen. Wer spürt, dass es mit seinem Leben nicht so läuft, wie es eigentlich laufen sollte. Wer weiß: Ich bleibe unter der Bestimmung, die Gott mir gesetzt hat. Kurz, wer sich als Sünder empfindet, der darf und soll zu Jesus Christus kommen. Jesus nimmt die Sünder an – das ist die Not, aus der heraus er uns helfen will. 

Jesus sagt: Alles zu mir! Ich lass euch trinken von der Kraftquelle der Ewigkeit. Ströme lebendigen Wassers stehen euch zur Verfügung. Ich kann euch schon jetzt Anteil geben an Gottes ewigen Geist. Der Evangelist fühlt sich herausgefordert, dieses gewaltige Prophetenwort Jesu, diesen Heilandsruf zu erläutern. Das Bibelzitat, auf das der Evangelist verweist, ist nicht so leicht zu entschlüsseln. Im Alten Testament wird an verschiedenen Stellen davon gesprochen, dass vom Tempel in Jerusalem ein Strom lebendigen Wassers ausgeht. Dieser Strom ist ein Bild für Gottes belebenden Geist. Und der Evangelist Johannes sagt ja an anderer Stelle, dass Jesus seinen Leib, seinen Körper, sich selbst an die Stelle des jerusalemischen Tempels gesetzt hat. So wie im Tempelkult Israels der Zugang zu Gott eröffnet werden sollte, so soll nun durch das, was Jesus  getan hat und ist, durch die Beziehung zu ihm, Gott unter uns Wohnung nehmen (vgl. Kap. 2, 21). Aus dieser Kraft des ewigen Gottesgeistes könnt ihr eure Energie schöpfen für euer Tun und Lassen. 

Liebe Gemeinde, das ist heiße Religion, die wir hier bei Jesus antreffen. Heiße Religion, wie sie Paulus nach Europa vermittelt. Wer in die Geschichte der Pommerschen Kirche hineinschaut, wird immer wieder auf Zeiten treffen, in denen die Religion auch unter uns sehr lebendig gewesen ist. Als Otto von Bamberg im 13. Jahrhundert das Christentum nach Pommern brachte, und in unsern Städten und Dörfern Jesus Christus verkündigte, in Gützkow und Demmin, in Wolgast und Usedom, da haben die Pommern ihre alte Religion als kalt empfunden und die neue, die ihnen Otto brachte, als heiß erlebt. Zeiten heißer Religiosität sind nicht immer Zeiten des Wachstums der Kirche. Kirche kann auch gerade in solchen Momenten durch schwierige Situationen gehen. Ich denke an Dietrich Bonhoeffers Wirken in Pommern in einer schwierigen Zeit. Am nächsten Sonntag, dem 25. April, erinnern wir auf den Tag genau an die Ankunft Dietrich Bonhoeffers auf dem Zingsthof vor 75 Jahren, als er dort sein Modell des Gemeinsamen Lebens entwickelte. Auch das war für die Kirche eine schwierige Zeit. Und doch ist daraus so viel Kraft, nicht nur für Pommern, nicht nur für die Evangelische Kirche, sondern auch für die Katholische und nicht nur für die Kirche in Deutschland, sondern in der ganzen Welt erwachsen. Bonhoeffer hat durch praktizierte Frömmigkeit, durch ganzheitliches Leben in der Nachfolge Jesu die Kraft gewonnen, die Menschen in dieser schwierigen Zeit brauchten, um in Entschiedenheit und Gottvertrauen ihren Weg zu gehen gegen ein menschenverachtendes, rassistisches Regime. 

Es wäre kein gutes Zeichen, wenn wir uns unsere Tagesordnung der Synoden vorgeben lassen würden von der Tagesordnung dieser Welt. Folgewirkung lebendig gelebten Glaubens allerdings ist es, wenn Menschen, die die Erfüllung ihres Lebens in Jesus Christus gefunden haben, dann auch Konsequenzen ziehen für eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart, z.B. den Klimawandel, wie es die letzte Synode mit einer bemerkenswert eindeutigen Resolution zum geplanten und mittlerweile wieder in Frage gestellten Kohlekraftwerkbau in Lubmin getan hat. 
Das Evangelium von Jesus Christus ist immer eine gute Botschaft für die Armen gewesen. Wenn wir uns deswegen auf dieser Synode mit der Armut in Vorpommern beschäftigen, dann sind wir in der Spur dieses Jesus von Nazareth, den wir als Sohn Gottes bekennen. Wird man dem am Ende Beschlossenen abspüren, dass hier Menschen zusammen gesessen und beraten haben, die bewegt sind von der Geschichte Jesu Christi, seinem Wort, seinem Kreuz und seiner Auferstehung? Oder könnte der geplante Beschluss genau so gut auf einem Parteitag einer Partei beschlossen werden? 

Heiße Religion lebt nicht nur unter den Massen. Sie kann sich auch der vielleicht zu groß gewordenen Strukturen einer Volkskirche im Übergang zu einer Gemeindekirche bedienen. Unser Bestreben als Synodale sollte nicht dahin gehen, möglichst viel Bedeutung für unsere Kirche zu erlangen, sondern lebendiges geistliches Leben in ihr zu ermöglichen. Dann wird sich die Bedeutung ganz von alleine einstellen. Auch heute in Vorpommern verhallt der Heilandsruf Jesu nicht ohne Antwort. Menschen werden aufmerksam auf diesen Jesus. Sie lassen sich taufen, keine Massen, aber jür jeden einzelnen ist es lebenswichtig. Die Taufe gibt Zugang zu lebendigem Wasser, das Lebenserfüllung und ewiges Leben schenkt. Als Christen bringen sich ein und verändern ihre Umgebung. Und wir als Pommersche Evangelische Kirche sind dafür da, dass der Heilandsruf Jesu auch heute unter uns weitergegeben wird: Jesus Christus spricht: „Wer Durst hat, soll zu mir kommen; und es trinke, wer an mich glaubt!“ Amen.

 

 

1Rüdiger Safranski, Heiße und kalte Religionen. Der Islam verkündet Erlösung, die Christen haben den Glauben ans Jenseits verloren; in: Der Spiegel, Nr. 3 (18. 1. 2010), 119 bis 121, 120. 
2 Ebd.

Datum
16.04.2010
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