SCHLESWIG

Predigt anlässlich des Pröpstekonvents auf Schloß Gottorf

10. Dezember 2009 von Gerhard Ulrich

O Heiland, reiß die Himmel auf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür. Reiß ab wo Schloss und Riegel für. 
Ja, liebe Schwestern und Brüder, das klingt dramatisch. Die ganz große Geste. Reiß den Vorhang, reiß die Himmel auf. Reiß das Schloss ab und den Riegel. Hoher Erwartungsdruck ist spürbar. Ungeduldige, aggressive, apokalyptische Untertöne klingen auf -- Erinnerungen an Golgatha werden wach: und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke...

Das ist sozusagen die andere Seite der Advents-Sehnsucht, wie sie die Epistel des 2. Advent beschreibt: „So seid nun geduldig bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange Frühregen und Spätregen…“ – Nein, manchmal möchte ich nicht warten, bis es regnet und bis Früchte wachsen. Ich kenne meine Ungeduld, gerade jetzt, in diesen Zeiten.

„…reiß ab, wo Schloss und Riegel für!“ – Jawohl, eine Macht ersehne ich, die all die Bremsen löst der politcal correctness, die es nicht erlaubt Skandale Skandale und Krisen Krisen zu nennen. Morgen fahre ich nach Kopenhagen. Und was ich lese von Streitereien, vom Feilschen um Kompensation, vom Verschieben der Verantwortung: Da wird darüber „verhandelt“, ob man das Klima verpflichtend oder freiwillig retten möchte: Kopenhagen braucht es, dass Riegel wegsprengen vor der Ignoranz der Länder, der Industrie und der Wirtschaft: in Sachen Klimakatastrophe kann es keine Freiwilligkeit geben – nicht im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder, nicht im Interesse der Schöpfung, die uns nicht gehört! „Die Erde ist Pflicht“, singt Herbert Groenemeyer, „sie ist freundlich…“
Und Erleuchtung braucht die Welt, wenn die Vereinten Nationen das Millieniumsziel aufgeben, die Zahl der von Armut betroffenen Menschen bis 2015 zu halbieren, aufgeben – mit entschuldigendem Hinweis auf die Wirtschaftskrise! Nie hat sich die Unfähigkeit, wirklich zu teilen, frecher gezeigt, als nun! Und da ist man schon froh über die Erleuchtung des Bundesverfassungsgerichts, das den Sonntag so eindeutig zu schützen wusste – im Interesse der Menschen und im Sinne des Advents, der eine Zeit der Erwartung und vor allem der Buße ist, der Bereitschaft, sich in ein anderes Licht zu stellen!
O Heiland reiß die Himmel auf, damit ich sehe, wie du es meinst mit uns! Da sehne ich mich dann – ganz kindlich im besten Sinne – nach dem Licht und der Kraft, die aus der Höhe kommt und das Dunkel der Sorgen und Nöte und Dummheiten aufreißt. Da sehne ich mich dann – ganz kindlich im bersten Sinne – nach dem Glanz des Weihnachtsfestes. Und weil das so ist, freue ich mich jedes Jahr wieder neu auf Advent – auf Adventus – auf das Ankommen Gottes im Weltendunkel. Auf das Ankommen Gottes im Stall, auf das Ankommen Gottes auch in die Höhle meines Lebens. Auf das Ankommen Jesu: „O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern; o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein!“

Und auch das, liebe Schwestern und Brüder, ist uns nicht ganz fremd, oder: Der hohe Erwartungsdruck - mit dem müssen wir Kirchenmenschen das ganze Jahr über zurechtkommen, aber jetzt, in dieser Zeit, potenziert er sich noch einmal, spitzt sich zu auf die kommenden Tage mit ihrer Vielzahl von Verpflichtungen, von Feiern, den vielen, vielen Gottesdiensten.
Und die Adventszeit ist ja nicht nur eine, die uns nach vorn ausstrecken lässt, sondern die auch zurückschauen lässt auf das, was war, was gelungen ist und was offen bleiben musste – Reformen, Zusammenwachsen. Und am Ende dieses Jahres spüren viele von uns, wie das, was wir unterschiedliche Kulturen nennen, nachdem 1. Mai sich meldet, Raum beansprucht. Und wir, die wir geistlich leiten, werden als Riege-Wegreißerinnen und Himmels-Öffner gefragt – so spüre ich es jedenfalls oft.
Da ist es gut, wenn in dieser Zeit sich die Erwartungen von uns weg- und auf eine andere Macht hinwenden dürfen: O Heiland, reiß die Himmel auf. Dich brauchen, ersehnen, erhoffen wir; dich glauben wir vom Himmel herab als Frühregen und Spätregen!

Und die apokalyptischen Töne und Gedanken? - Massiv kommen sie uns aus den Lesungen der Adventszeit entgegen, Originalton Lukas: "Auf Erden wird den Völkern bange sein und sie werden verzagen, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen." Aber Hand aufs Herz - wer von uns hat sich nicht schon selbst beim Blick in Kirche und Gesellschaft bei solchen oder ähnlichen Gedanken und Phantasien ertappt? Vom Klimawandel bis zum Schweizer Minarettverbot, von Afghanistan bis zur Steuerpolitik, von Hartz IV bis zur Schweinegrippe - viel Finsternis und wenig Licht bedeckt das Erdreich.
Und mitten im Advent erschüttert uns das Feuer in Breklum – angezündet das Missionshaus, das Herz, die Urzelle der Breklumer Mission, das gerade sich konsolidierende CJK, das noch fragile Regionalzentrum Westküste ein Raub der Flammen. Zorn und Hilflosigkeit haben uns am vergangenen Sonntag die Sprache verschlagen wollen. „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kund würde unter den Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!“ – so wurde in vielen Gottesdiensten aus dem Jesajabuch gelesen, während die Löscharbeiten liefen. Und Trotz und Entschiedenheit sind gleich zurückgekehrt. Die Gewissheit, dass Gott im Kommen ist, unsere Erlösung naht, die Häupter sich aufrichten, anzuschauen die Realität der Welt und verkündigen die Realität Gottes in ihr. Der Himmel, er bleibt nicht verschlossen, nicht von Sorgen, nicht von Krisen, nicht von Brandwolken. Trost wird sein und neuer Anfang. O Heiland, reiß die Himmel auf!

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Im Ulmer Münster steht diese Kanzel. Meine Frau hat die Fotos gemacht, als wir in Ulm unsere Fahrradtour starteten an der Donau entlang. Ich betrachte sie genau. Was will sie mir sagen?
Ich sehe den Riß, den offenen Himmel, den hellen Morgenstern. Die Nacht ist vergangen, der Tag schon herbeigekommen.  Ich sehe, wie Josef etwas tumb und unbeholfen daneben steht. Sind wir Männer wirklich so?? Ich sehe Maria, gar nicht die überbehütende Madonna wie sonst immer - nein, sie lässt das Kind los, entlässt es, aber hält ihre Hände weiter segnend über seinen Weg. Und das Kind ist wie auf dem Sprung, weg von der Mutter, aber mit und unter dem Segen: Geh hin, sieh zu, dass du Land gewinnst! Und es kommt uns entgegen, das Kind, dieses Kind.
Und ich sehe das Ganze. Sehe den ganzen Weg, der vor dem Kind liegt. Nicht das Halbe, das Ganze ist das Wahre. Eines ist nicht ohne das Andere: die Krippe und die Kreuzigung und die Auferstehung - bis hin zu den Wanderern auf dem Weg nach Emmaus: "Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget."
Und ich spüre: der ungeduldige, drängende, aggressive Druck weicht. Hier kommt keiner senkrecht von oben, nicht der himmlische Chef mit Kommandostimme. Keine Arroganz der Macht, nicht top-down wie aus dem Lehrbuch, hier wird auch nicht auf- und nieder- und abgerissen.

Der Himmel öffnet sich anders. Gott kommt, ja, er kommt, ja, seht auf und erhebt euer Häupter, übt euch im aufrechten Gang - aber er kommt anders. Und wie kommt er?

"Das allergrößte Wunder", so hat Hannah Arendt einmal gesagt, "das allergrößte 'Wunder' besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können." Nicht irgendwo oben, weit weg, in ferner Transzendenz reißt der Himmel auf - nein, hier unten, ganz nah, auf dieser Erde, bei uns, zwischen uns, in unserem eigen Fleisch und Blut.
Und was heißt das? Noch einmal leihe ich mir Worte von Hannah Arendt: "Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die 'frohe Botschaft' verkünden: Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben."

Ist es das, was uns am Weihnachtsfest immer wieder ergreift, Gläubige wie Ungläubige? Dass man in dieser Welt wirklich und wahrhaftig Vertrauen haben, dass man für diese Welt wirklich und wahrhaftig hoffen darf? Dieses Bild des Neuanfangs, einer neuen Geburt, die Zukunft, Erneuerung, Lösung, Erlösung verspricht- auch wenn wir das vielleicht nur ahnen und gar nicht so klar ausdrücken können wie Hannah Arendt?

"Gott wird Mensch, dir, Mensch zu Gute" -- Ja, er kommt, er reißt den Himmel auf, reißt Tor und Tür auf, Schloss und Riegel und springt aus der Erde -- und das für uns. Uns zu Gute, Dir und mir zu Gute, damit wir endlich werden, was wir sind. Damit wir keine Super- und Übermenschen mehr werden wollen, immer höher, weiter, schneller... Nein, nur noch Menschen im Wortsinne, ganze Menschen, ganz irdisch und doch himmlisch zugleich, und ganz menschliche Menschen. 

So, liebe Schwestern und Brüder, reißt der Himmel auf und kommen der neue Himmel und die neue Erde: nicht die Apokalypse, nein, mehr als das: die unsichtbare Umwertung der Werte unter diesem Himmel und auf dieser Erde.
Die Welt wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Oben und unten, Himmel und Erde, Glanz und Elend - alles gerät in Bewegung, vertauscht die Rollen, ordnet sich neu.
Man muss sich diese unglaubliche Geschichte einmal ganz von Nahem ansehen.
Eben nicht Jerusalem, die Metropole - nein, Bethlehem, ein kleines Nest.
Nicht der Palast mit rotem Teppich - nein, ein Stall bei Ochs und Esel.
Nicht die blaublütige Lady oder das das superchice Topmodell - sondern ein einfaches Mädchen aus der Provinz.
Nicht die Großen des Landes, sondern die Hirten auf dem Felde.
Und nicht ein Chef, ein Macher, ein Mann in den besten Jahren - nein, ein kleines, hilfloses Neugeborenes.
Nichts Großartiges, ein Winzling.
Nicht Macht, sondern Liebe.

So und nicht anders -, so reißt der Himmel auf. So und nicht anders sieht das Leben aus, das Gott annimmt. Sich zu eigen macht, sich erwählt. Der Größte der Großen verbindet sich mit dem Kleinsten der Kleinen. Der Allerhöchste wird zum Wurm, krabbelt auf der Erde, wird ein zartes Neugeborenes, damit ein Neuanfang sei. Damit auch wir zarter werden, demütiger, behutsamer miteinander und mit den anderen Menschenkindern.
Gott kommt uns Menschen ganz nahe, damit auch wir uns nahe kommen und nahe sein können.

Jedes Menschenkind gilt von nun an als ein Gotteskind und trägt einen Wert und eine Würde, die durch nichts in der Welt aufgewogen werden kann.
"Gott wird Mensch, dir, Mensch, zu Gute ..." Ein neues Maß wird aufgerichtet. Unser Maß, das menschliche Maß. Eben das Menschenkind, das Gotteskind in der Krippe - das ist A und O und Maß aller Dinge. Seine Menschenliebe -sie soll der Stern sein, der mir voranleuchtet. Die Mitte meines Lebens, und das Maß, mit dem man mich messen soll. Die Macht, die den Himmel aufreißt.
O Heiland, reiß die Himmel auf.
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür.
Reiß ab wo Schloss und Riegel für

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