ST. PETRI-DOM ZU SCHLESWIG

Predigt aus Anlass des 325. Geburtstages von Johann Sebastian Bach

21. März 2010 von Gerhard Ulrich

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder! Es gibt eine wunderbare Stelle im Zweiten Chronikbuch im Alten Testament. Da wird geschildert, wie der erste Tempel Salomos eingeweiht wird, wie sie alle einziehen, die Priester und Leviten, und die Chöre und Musizierenden.

Und wie diese alle, jede und jeder wie er oder sie kann, die Stimme erheben und auf ihren Instrumenten spielen. Und dann schreibt der Chronist: „Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem Herrn. Und als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den Herrn lobte: er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig, da wurde das Haus des Herrn erfüllt von einer Wolke, so dass die Priester nicht zum Dienst herzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus Gottes.“ (II. Chronikbuch, Kapitel 5) Ist das nicht wunderbar: unsere Stimmen erfüllen das Haus Gottes – und es ist zu sehen und zu hören die Herrlichkeit Gottes in der Wolke der Töne? 

An dieser Stelle hat Johann Sebastian Bach - der fünfte Evangelist, wie man ihn auch genannt hat und dessen 325. Geburtstag wir heute bedenken - in seiner Lutherbibel, die er zum Komponieren benutzte, eine Randbemerkung angebracht. Da steht säuberlich mit Bleistift geschrieben: „In jeder andächtigen Musike ist Gott in seiner Gnaden Gegenwart!“ Jawohl, so ist es: Musik ist Gnade. Ist Wirklichkeit, ist Gegenwart der Gnade. Und nicht nur Gegenwart der Gnade, sondern in ihr Gegenwart Gottes selbst! Darum heißt es in der Kantate, die wir heute hören so richtig: „O, hoch beglückte Christen, auf, machet euch bereit, itzt ist die angenehme Zeit, itzt ist der Tag des Heils: der Heiland heißt euch Leib und Geist mit Glaubensgaben rüsten, auf, ruft zu ihm in brünstigem Verlangen, um ihn in Glauben zu empfangen!“ – Ihn, der in seiner Gnaden Gegenwart ist, in jedem Ton, jedem Klang, jeder Saite, jeder Stimme! In diesen so besonderen Momenten, wenn alles stimmt, alles sich zusammenfügt, zusammen klingt, dann ist es, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man in dem riesigen Chor eine einzige Stimme loben und danken wie damals im Tempel von Jerusalem. Da ist erfüllt das Haus - und da muss dann auch nicht mehr gesagt oder zelebriert oder gebetet werden, und die Priester und Pastoren und Bischöfe werden arbeitslos, denn alles ist da, gegenwärtig, hörbar, spürbar, erfahrbar. Satis est – das ist genug, mehr braucht es nicht, um Gott zu erfahren, zu hören, zu spielen, ihm zu antworten: andächtige Musik, in der Gott in seiner Gnaden Gegenwart ist. Ich weiß natürlich, dass es für einen Chorgesang wie den, den wir heute wunderbar hören und für ein Orchester und für die Solistinnen und Solisten wichtig ist, dass die Töne, die der Komponist vorgibt, möglichst getroffen werden. Aber der Chronist in der Bibel macht noch auf eine andere Dimension der Musik aufmerksam: wichtiger noch ist es, dass die Töne mich, uns treffen – damit spürbar ist: mehr als Musik geschieht hier – die Gnade Gottes nämlich, die Gnade, in der Gott Gegenwart ist – höher als alle Musik! Und doch nicht ohne sie. Alle Schwere des Daseins verfliegt, ist wie weg geblasen und weg gesungen - und die Welt wird Klang, klar und rein, begeisternd und beseligend. „In jeder andächtigen Musike ist Gott in seiner Gnaden Gegenwart!“ Jawohl, in jeder, die in Andacht gespielt, gesungen, trompetet, gerockt, getrommelt wird. Musik ist Gnade, ist Gegenwart und Wirklichkeit Gottes. Denn alle Musik findet ihr "Finis und End-Ursache", wie es Bach in seinen gelehrten "Vorschriften und Grundsätzen zum vierstimmigen spielen des General-Bass oder Accompagnement für seine Scholaren in der Music" niedergelegt hat, "anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths."

 „In jeder andächtigen Musike ist Gott in seiner Gnaden Gegenwart!“ sagt Johann Sebastian Bach. Und Martin Luther stimmt zu: "Wer sich die Musik erkiest, hat ein himmlisch Werk gewonnen, denn ihr erster Ursprung ist von dem Himmel selbst genommen, weil die lieben Engelein selber Musikanten sein." Und an einer anderen Stelle: "Musika ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer und vernünftiger macht." Na, hoffentlich ist das so! Hören wir das, lassen uns das gefallen, lassen uns verzaubern, verändern, erneuern?! Gute Musik ist Seel-Sorge, wirkt wie gute Medizin - und so ist es auch kein Wunder, dass die Gemeinde seit ihren Anfängen immer das gemeinsame Singen und die Musik gepflegt hat – vom ersten Jerusalemer Tempel bis zu St. Petri in Schleswig. Der Choral und die Orgel - das sind keine Fremdkörper in der Kirche, sie gehören mit zur Sache selbst. Warum ist das so? Welchen Sinn haben Melodie und Harmonie, haben Zusammenklang und Zusammenstimmen der Töne für uns Menschen und Christen, für unsern Glauben und unser Leben? Warum hören wir im Gottesdienst Musik, warum singen wir die alten und neuen Lieder? 

Der erste Gedanke: der Predigttext aus der Offenbarung des Johannes, vom Sonntag Kantate entliehen (Offenbarung, Kapitel 15, 1-4): „Dann sah ich noch ein großes Zeichen am Himmel: sieben Engel, die sieben Katastrophen bringen. Dies sind die letzten Katastrophen, denn mit ihnen geht Gottes Zorn zu Ende. Ich sah etwas wie ein gläsernes Meer, das mit Feuer vermischt war. Auf diesem Meer sah ich alle die stehen, die den Sieg über das Tier erlangt hatten und über sein Standbild und die Zahl seines Namens. Sie hielten himmlische Harfen in den Händen. Sie sangen ein Lied, das das Siegeslied Moses, des Mannes Gottes, noch weit überbietet, das Siegeslied des Lammes: Herr, unser Gott, du Herrscher der ganzen Welt, wie groß und wunderbar sind deine Taten! In allem, was du planst und ausführst, bist du vollkommen und gerecht, du König über alle Völker! Wer wollte dich, Herr, nicht fürchten und deinem Namen keine Ehre erweisen? Du allein bist heilig. Alle Völker werden kommen und sich vor dir niederwerfen; denn deine gerechten Taten sind nun für alle offenbar geworden.“ 

Eine großartige Vision, ein großartiges Sinnbild: Nicht im Missklang, in der Zerrissenheit, im Schmerzenschrei der Zertretenen liegt die Bestimmung der Welt. Harmonie und Einklang, eine berührende Stimmigkeit und der reine, ungetrübte Ton ist die Mitte, nach der sie sucht. Und Zusammenklingen und Zusammenstimmen ist Ende und Ziel aller Dinge. „Und dann sah ich ein anderes Zeichen am Himmel, und es war groß und wunderbar. Sieben Engel trugen die Plagen, die sieben Schläge des Unheils, die letzten, weil in ihnen, ans Ziel gekommen, der Zorn sich vollendet. - Und ich sah ... ein gläsernes Meer, mit Feuer vermischt, und Gestalten darauf: mit Harfen Gottes in den Händen. Sie standen auf dem gläsernen Meer und sangen das Lied des Gottesknechts Moses, sangen den Gesang des Lammes.“ Welt und Geschichte sind ans Ende gekommen. Ein Traum, im Singen Wahrheit geworden, Überwindung. Ans Ziel gekommen, gesungen, gespielt. Das große Tier ist besiegt. Die Macht des Bösen überwunden. Aller Zorn hat ein Ende, Unheil und Plagen werden nicht mehr sein. Alle dunklen Schatten sind verflogen, nichts mehr als Klarheit, Transparenz, Durchsichtigkeit. Ein gläsernes Meer. Und keine Misstöne mehr. Keine Schmerzensschreie der Gefolterten. Keine schrillen Dissonanzen. "Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder", sagt Christus im Evangelium, "und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht." Nein. so ist es unter euch nicht. Und so soll es nicht sein in der Welt Gottes. Kein widerlicher Missbrauch, keine Übergriffe an Leib und Seele der Menschen. Und endlich, endlich machen die Täter den Mund auf zu Buße und zu wirklicher Reue! Endlich hören sie auf die Übergriffe auf einzelne Menschen und ganze Völker; endlich Frieden den Opfern, die sich hoffentlich, nach Buße und Reue der Täter, neu werden finden können – all die Verschreckten, Verfolgten; alle, die nicht wissen, warum und wohin und woher; all die, die nicht wissen, wohin mit ihrer unsäglichen Wut. Endlich neuer Anfang und endlich Schluss mit der feigen Macht und Gewalt über andere Menschen: Missbrauch hat viele Namen, viele Gesichter, viele schmutzige Finger! Und dieses alles hat nicht das letzte Wort, wird hineinverwandelt und erlöst in die Harmonie des Universums. Keine Marschmusik mehr, keine Stiefeltritte, keine lärmenden Schlachtgesänge – nur das Lied des Lammes, das Lied vom Frieden, das noch größer ist als das Lied des Mose, der das Lied der Freiheit sang. "Sie standen, standen auf dem gläsernen Meer und sangen das Lied des Gottesknechtes Moses, sangen den Gesang des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Allherrscher im Himmel, gerecht und deutlich sind deine Wege, Herr der Völker." Alles passt zusammen, stimmt zusammen, klingt zusammen wie die Töne in einer einzigen Melodie. 

In einer fernen Zeit und in einem fernen Land, das es seit 20 Jahren nicht mehr gibt, schreibt jemand einen kurzen Text. Wenige Zeilen nur, eine Art Gedicht. Es trägt die Überschrift "Orgelkonzert" und führte unter anderem dazu, das sein Verfasser Reiner Kunze des Landes verwiesen und aus der DDR ausgebürgert wurde. „Orgelkonzert“, Reiner Kunze. 

„Weisung, die in keiner Zeitung stand: Die Schulbehörde in N. wies die Direktoren an zu verhindern, dass Fach- und Oberschüler die Mittwochabend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor dem Kirchenportal ab und sagten den Eltern: Entweder-oder. Eltern sagten zu ihren Kindern: Entweder-oder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus… Hier müssen sie nicht sagen, was sie nicht denken. Hier umfängt sie das Nichtalltägliche und sie müssen mit keinem Kompromiss dafür zahlen. Hier ist der Ruhepunkt der Woche. Sie sind sich einig im Hiersein. Hier herrscht die Orgel.“ Und dann weiter im Gedicht, fast visionär wie der Seher Johannes: „Alle Orgeln, die im Osten, Süden, Norden, Westen, die sechstausendeinhundertundelf klingenden Pfeifen in der Kreuzkirche zu Dresden, das Betstubenpositiv der Grube Himmelsfürst zu Freiberg, die von Bach geprüfte Orgel zu Hohnstein, die zu Kirchdorf, die einfach "unsere Orgel" heißt - sie alle müssten plötzlich zu tönen beginnen und die Lügen, von denen die Luft schon so gesättigt ist, dass der um Ehrlichkeit bemühte kaum noch atmen kann, hinwegfegen ... , hinwegdröhnen all den Terror im Geiste ... Wenigstens ein einziges Mal, wenigstens für einen Mittwochabend.“

„Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder“, sagt Christus im Evangelium, „und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht.“ In einer Welt voller Lügen, Verdrehungen und Verbiegungen - da gibt es Oasen. Den Klang der Orgel. Das Orgelkonzert. Das Reich der Klänge. Töne, die zusammenstimmen. Hier kann man noch atmen. Luft bekommen. Wahrheit, Klarheit und Reinheit. 

"In jeder andächtigen Musike ist Gott in seiner Gnaden Gegenwart." Vor 325 Jahren erblickte Johann Sebastian Bach das Licht der Welt. Wir feiern seinen Geburtstag mit einer seiner wunderbaren Kantaten. Der Titel ist Programm: "Herz und Mund und Tat und Leben // Muß von Christo Zeugnis geben." Alle Musik findet ihr "Finis und End-Usache ... anders nicht, als zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths.“! „Sie standen, standen auf dem gläsernen Meer und sangen das Lied des Gottesknechtes Moses, sangen den Gesang des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Allherrscher im Himmel, gerecht und deutlich sind deine Wege, Herr der Völker.“ Amen.

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