1. Oktober 2020 | Predigt Neukalen

Predigt bei der EKD-Landkirchenkonferenz

01. Oktober 2020 von Tilman Jeremias

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Landkirchenkonferenz, liebe Gemeinde,

ich freue mich, heute bei Ihnen sein zu können und diesen Gottesdienst mitgestalten zu dürfen. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, ist Ihr diesjähriges sehr sinnliches Thema. Und ich bin sicher, Sie sind bei Ihren Exkursionen heute Morgen und auch bei Ihrem Spaziergang soeben von Salem hierher nach Neukalen mit offenen Augen durch unsere wunderschöne Landschaft gereist. Die Weite der norddeutschen Horizonte, die Fülle an naturbelassenen Seen und die attraktive Ostseeküste in Mecklenburg- Vorpommern sind hervorragende Ausweise der Herrlichkeiten der Schöpfung Gottes und ziehen Jahr für Jahr zahlreiche Besucherinnen und Besucher ins Land; die meisten kommen nicht nur einmal und nicht wenige verlagern ihren Ruhestandswohnsitz hierher.

Ich jedenfalls bin wenige Tage vor dem Erntedankfest nicht nur dankbar für den Überfluss, in dem ich leben darf, sondern auch dafür, dass mein Auge sich in unseren Breiten an einem Reichtum von Gaben des Schöpfers erfreuen darf- in unseren Tagen ist es nicht nur das sich färbende Laub, sondern vor allem auch der faszinierende Zug der Kraniche nach Süden, die hier zu Tausenden rasten, um sich trompetend auf ihre weite Reise vorzubereiten.

Selbstverständlich ist kirchliche Arbeit auf dem Land auch hier weit mehr als nur Naturromantik und Sie reden in diesen Tagen ja auch über Abbrüche, die sich gerade in den großen geographischen Gebilden der ländlichen Kirchengemeinden hier im Osten mit nur sehr wenigen Gemeindemitgliedern besonders klar beobachten lassen. Aber wir dürfen andererseits auch nicht unterschätzen, welche Attraktivität für dörfliche Stellen auch in einer anziehenden Umgebung liegt. Und entdecken so vitale Zentren kirchlichen Lebens auf dem weiten Land, wenn wir nur genau hinschauen.

Elementar ist dafür allerdings die Wahrnehmung. Das staunende Danken kommt aus dem genauen Hinsehen. Die Schöpfungswunder erschließen sich nur durch die sinnliche Erfassung; das gilt für die Landschaft ebenso wie für unsere pflanzlichen, tierischen und menschlichen Mitgeschöpfe.

Sie haben sich als Predigttext für diesen Gottesdienst einen Bibelabschnitt gewählt, der diese sinnliche Dimension in geradezu elementarer Wucht zum Ausdruck bringt. Ich lese aus Markus 8:

22Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. 23Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, spuckte in seine Augen, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas? 24Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen umhergehen, als sähe ich Bäume. 25Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht und konnte alles scharf sehen. 26Und er schickte ihn heim und sprach: Geh aber nicht hinein in das Dorf!

In drastischer Direktheit wird diese Heilung geschildert. Sie braucht einen geschützten Raum, jenseits des Dorfes. Jesus führt den Blinden an der Hand. Hier nimmt er nicht etwa seinen Speichel, um daraus einen Brei zur Heilung zu rühren - nein, er spuckt dem Blinden direkt in die Augen. Näher und intimer ist ein Körperkontakt kaum zu beschreiben. Auch wenn man die negativen Konnotationen des Anspuckens beiseitelässt, diese Geste der Verachtung, bleibt doch eine anstößige Vorstellung. Ist das Magie Jesu ähnlich, wie sie uns aus dem hellenistischen Umfeld berichtet wird?

Als reiche der Akt des Anspuckens nicht, legt Jesus dem Blinden nun die Hände auf. Jetzt bewegen wir uns wieder im gesicherten Raum auch kirchlich gewohnter Riten. Aber auch hier hören wir von einer unmittelbaren körperlichen Berührung. Und wer wie ich von einer segnenden Handauflegung als einer ganzheitlich-leiblichen Erfahrung  erzählen kann, weiß, wie der Strom der Segensenergie Gottes einem auch ganz somatisch durch und durch gehen kann.

Doch beiden Heilungsgesten Jesu ist nur begrenzter Erfolg beschieden. Nicht nur die Jünger stoßen bei Heilungen an ihre Grenzen, sichtlich schafft es auch der Meister nicht immer beim ersten Anlauf. So muss man es doch wohl verstehen, wenn der Blinde zunächst die Menschen so schemenhaft sieht, als liefen Bäume umher. Natürlich dürfen wir diesen ersten mäßig erfolgreichen Heilungsversuch aber auch so deuten, dass gerade das extrem empfindliche und komplexe Organ Auge eben Zeit braucht, um zu genesen. Davon können alle ein Lied singen, die schon einmal gelasert wurden oder andere Augen- OPs hinter sich haben. 

Umso erfreulicher, dass Anlauf zwei den hundertprozentigen Heilungserfolg bewirkt. Der Blinde sieht jetzt scharf. Dieses Mal hat Jesus seine Hände direkt auf dessen erkrankte Augen gelegt. Es ist also ein erneuter unmittelbarer leiblicher Kontakt, der dem Sehbehinderten das völlige Augenlicht schenkt.

Für mich spricht diese faszinierende Heilungserzählung sehr deutlich in unsere Corona- Gegenwart. Mir jedenfalls wird durch die massiven Einschränkungen leiblicher Kontakte, durch das schmerzliche Verzichten auf Umarmungen, Händeschütteln und körperliche Nähe erst bewusst, welch wesentliche Dimension auch meines Glaubens die leiblich- sinnliche Dimension meines Lebens darstellt. Meine Augen sind erheblich belastet dadurch, dass sie Kolleginnen und Kollegen im vergangenen halben Jahr überwiegend als Kacheln auf meinem Bildschirm wahrnehmen mussten. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, sie auch wieder analog sehen zu dürfen! Wie sehr wurde mir durch die verstümmelten digitalen Begegnungen erst einmal deutlich, welch hohe Bedeutung körperliche Gesten im Gespräch haben, aber auch die informelle Kaffeepause zwischendurch! Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Die so explosiv sich entwickelnden digitalen Möglichkeiten sind eine große Bereicherung gerade für eine Flächenkirche wie die Nordkirche. Aber wir haben nicht einen Körper, sondern sind nach biblischer Auffassung Körper und bedürfen deswegen existenziell körperlicher Begegnung.

Denn die semitische Welt der Bibel kennt keine griechische Trennung von Geist, Seele und Leib. Der von Gott ins Leben gehauchte Erdklumpen ist alles, was wir sind. Emotionen, Wille und Vernunft finden sich ganz leiblich im Zwerchfell, in den Nieren oder im Herzen. Wenn Gott seinen Odem wieder zurücknimmt, so vergehen wir. Zu unserer Leiblichkeit gehört eins zu eins die Vergänglichkeit unseres Lebens, die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit, die Bedrohung, die wir nun gerade durch Corona so elementar spüren. Das Herz des christlichen Glaubens besteht in der Fleischwerdung des Ewigen. Der unergründliche, Zeit und Raum umspannende Gott, wird ein konkreter Mensch mit Händen und Speichel. Jesus liefert sich der menschlichen Vergänglichkeit aus, wird Opfer menschlicher Intrigen. Gott wird sichtbar und anfassbar.

Glauben hat es elementar mit dem Leib zu tun. In Brot und Wein begegnet uns Gottes Liebe als Nahrung. Der zeitweise Verzicht auf diese sakramental- leibliche Gottesbegegnung im Abendmahl ist für viele Christinnen und Christen ganz besonders schmerzlich. Zudem lehrt der Apostel Paulus uns, dass wir als Glaubende der Leib Christi auf dieser Erde sind.

Bei aller gebotenen Vorsicht in Coronazeiten möchte ich meine Leiblichkeit nicht vergessen. Jesus begegnet dem Blinden durch elementaren Körperkontakt, durch Spucken und handfeste Berührung. Unsere kirchliche Arbeit, auf dem Land wie in der Stadt, ist angewiesen auf analoge Begegnung, in Seelsorge, Verkündigung und Bildung. Selbst die Kirchenmusik verliert so viel, wenn sie medial vermittelt daher kommt und nicht live erlebt werden kann.

Wir sind Geschöpfe mitten unter anderen Geschöpfen, Erdklumpen, denen Gott seinen Atem schenkt, jeden Augenblick, mit jedem Atemzug. Er möge uns Augen und Herzen öffnen für das Seufzen der Natur, die unter der menschlichen Ausbeutung stöhnt. Er möge uns Augen und Herzen öffnen für die Mitmenschen, die durch Corona besonders zu leiden haben, besonders im globalen Süden. Er möge unsere Augen öffnen für das Wunderwerk unseres eigenen Leibes, unseren Atem, Bewegungsapparat, unsere Sexualität und Verdauung. Und: unsere Augen. Ich sehe was. Siehst du es auch?

Amen.

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