24. Dezember 2023 | Greifswalder Dom St. Nikolai

Predigt Heiligabend

24. Dezember 2023 von Tilman Jeremias

Liebe Gemeinde,

dürfen wir dieses Jahr eigentlich überhaupt Weihnachten feiern? Kann Festzeit sein, wenn gleichzeitig die Geiseln der Hamas wochenlang in Tunneln vegetieren müssen, wenn täglich Kinder in Gaza sterben müssen, wenn ukrainische Soldatinnen und Soldaten in Schützengräben das Fest begehen müssen? Geht Weihnachten angesichts der Tatsache, dass wir mit unserer Lebensweise die Erde durch den Klimawandel elementar bedrohen?

Ja, wir dürfen und sollen Weihnachten feiern, davon bin ich fest überzeugt. Allerdings kann es in meinen Augen nicht allein das süßlich glitzernde Fest der vermeintlich heilen Familie sein, das Fest des Konsums und des üppigen Essens. Das stände zu sehr im diametralen Gegensatz zu unserer Weltlage. Wenn wir beim Feiern auch nicht immer alle Probleme dieser Welt mitbedenken müssen, so steht es uns dieses Jahr doch besonders gut an, an die Wurzeln unseres höchsten Festes zu denken.

Das Weihnachtsevangelium des Lukas, wie wir es eben wieder gehört haben, hat nichts Heimeliges und Heiles. Hier wird kein strahlender Held geboren, im Prunksaal des Palastes, umgeben von den Großen seines Volks. Gott kommt in einer Nische zur Welt. Obdachlos und unehelich, besucht zuerst von den Schafhirten, die ganz unten auf der sozialen Leiter stehen. Nur wenige Tage alt, wird aus dem göttlichen Kind ein Flüchtling.

Diese Erzählung will nicht weniger als uns erklären, wie Gott ist. An diesem Neugeborenen können und dürfen wir es ablesen. Gott wird Baby, hilflos und angewiesen, schreiend und strampelnd. Ich möchte mit Ihnen am heutigen Heiligen Abend darüber nachdenken, was das heißt: Gott ein Kind.

Zunächst einmal: Kinder sind die ersten, die zu Opfern werden. Sie halten als erste die Geiselhaft nicht mehr aus, werden traumatisiert, krank an Leib und Seele. Kinder leiden als erste unter den Bombardements in Gaza, unter der Mangelernährung dort, unter Flucht und zusammenbrechender medizinischer Versorgung. Kinder waren und sind es, die als erste immer noch die Folgen der Coronazeit aushalten müssen. Und Kinder sind es sichtlich, die als erste deutlich merken, dass unser klimaschädliches Verhalten ihnen die Zukunft raubt.

Wenn Gott nun als Kind zur Welt kommt, kann das nur heißen: Er steht bedingungslos auf der Seite der Kinder, besonders derer, die verletzt sind, körperlich und psychisch, die in dauernder Angst leben müssen, die unter der Überforderung ihrer Eltern leiden. Gott ist Anwalt auch all der Kinder, die in unserem Land und unserer Stadt heute traurig und allein sind, den Familienstreit nicht aushalten, sich vor häuslicher Gewalt fürchten. Gott wird ein zerbrechliches Geschöpf, um uns allen zerbrechlichen Geschöpfen zuzurufen: Meine unbedingte Liebe gilt dir, ich will dich tragen und schützen.

Dieses Tragen und Stützen kommt jedoch nicht durch eine gewaltige göttliche Machtdemonstration. Es kommt gewissermaßen von Kind zu Kind, leise und unscheinbar, aber gerade darin voller Kraft.
Indem Gott ein Kind wird, setzt er sich uns Menschen aus. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie in vielen Darstellungen der Geburt Jesu ein kleines Kreuz neben der Krippe sehen können. Geburt und Sterben Jesu gehören zusammen. Der als angewiesenes Kind Geborene wird in seinem Leben auf jede Macht verzichten, gewaltlos leben, ein Wanderprediger ohne Obdach. Gerade darin ist er heilsam für ungezählte Menschen. Aber gerade so lebt er mit dem Risiko, selbst Opfer zu werden. Unschuldig wird er hingerichtet. Das Holz der Krippe und des Kreuzes ist eins.

Wenn uns in dem Kind von Betlehem Gott selbst begegnet, dann kann das nur bedeuten: Auch du, Mensch, sollst werden wie er. Zerbrechlich und angewiesen, bedürftig und begrenzt, ein Kind.
Der erwachsene Jesus geht so weit, das Kindsein zum Maßstab des Glaubens und der Menschlichkeit zu erheben. Als die Leute wieder einmal um ihn herum stehen, ruft er ein Kind in die Mitte und sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, wird euch das Gottesreich verschlossen bleiben.“ Christlicher Glaube ist Kind werden. Gottvertrauen stimmt, wenn es sich anfühlt wie das Urvertrauen des Babys zur Mutter. Unser Blick auf die Welt stimmt, wenn er durch die staunenden Augen eines Kindes geschieht. Wir sollen weinen, wenn wir traurig sind, und tanzen, wenn wir uns freuen, so wie ein Kind.

Vielleicht könnte ja dies die Aufgabe dieses Weihnachtsfestes sein: Ich gehe auf die Suche nach meinem eigenen inneren Kind. Ich öffne mich und lasse es zu, verletzlich und schwach zu sein. Ich erlaube mir, mich kindlich zu freuen über alles Schöne an diesem Fest. Und traue mich genauso zu schreien über all den Hass, die Gier und den Egoismus, der unser Zusammenleben so belastet.
Der Weg zum eigenen inneren Kind ist nicht leicht. Die Steine im Weg heißen Einfluss, Kontrolle, Selbstdarstellung. Um in Kontakt zu kommen zu unserem inneren Kind, muss manche harte Schale, manche mühsam antrainierte Maske fallen. Aber es wartet mit diesem Weg die Verheißung, so mit Gott selbst in Kontakt zu kommen, dem Urgrund allen Seins. Der Schöpfer des Universums wurde Kind, um uns daran zu erinnern, dass wir Gottes Kinder sind. Und uns zu ermutigen, als Kinder Gottes zu leben.

Dürfen wir dieses Jahr eigentlich überhaupt Weihnachten feiern? Kann Festzeit sein, wenn gleichzeitig die Geiseln der Hamas wochenlang in Tunneln vegetieren müssen, wenn täglich Kinder in Gaza sterben müssen, wenn ukrainische Soldatinnen und Soldaten in Schützengräben das Fest begehen müssen? Geht Weihnachten angesichts der Tatsache, dass wir mit unserer Lebensweise die Erde durch den Klimawandel elementar bedrohen?

Ja, wir dürfen und sollen Weihnachten feiern. Aber es geht nicht mit der geballten Faust in der Tasche, nicht mit Augen, die sich all dem Elend verschließen. Es geht am besten, wenn wir so werden, wie Gott geworden ist: als Kind.                    
Amen.

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