7. September 2025 | Landesverein Innere Mission in Schleswig-Holstein, Rickling

Predigt im Festgottesdienst zum Jahresfest – 150-jähriges Bestehen des Landesvereins

07. September 2025 von Nora Steen

Apg 2, 42-47

Liebe Festgemeinde hier in Rickling!

Es ist mir eine große Freude, heute hier mit Ihnen diesen besonderen Gottesdienst zu feiern. Danke für die Einladung!

Um Gemeinschaft ging es hier im Landesverein seit Anbeginn – seit nunmehr 150 Jahren – und geht es hier an diesem besonderen Ort noch heute.

Dass wir alle – so, wie Gott uns geschaffen hat – ein Teil von Christus sind. Ein unendlich und bedingungslos geliebtes Kind Gottes. Darum ging es im Landesverein von Anfang an. Und damit ganz folgerichtig darum, dass Menschen, die nicht ganz automatisch und unhinterfragt mit dazugehören zur so genannten „Mitte“ der Gesellschaft, auch ihren festen Platz bekommen, mehr noch, dass ihr Anrecht auf Teilhabe, auf Würde gesehen und eingefordert wird.

Und dabei, so erlebe und höre ich es, sind hier viele mit beeindruckendem Engagement, viel Herzblut und Glaubenskraft dabei, diese Gemeinschaft Tag für Tag neu zu gestalten. Ob sie auf Dauer hier in Rickling oder in anderen Einrichtungen des Landesvereins leben oder in den Werkstätten arbeiten, ob als Patienten auf Zeit, ob als Ärztin, Pfleger, Therapeutin, Seelsorger oder Teil des technischen Teams. Ob in der Küche, im Café, in der Tagespflege oder in einer der Tageskliniken. Und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich gerade Ihren Arbeitsbereich oder Ihre Profession hier nicht aufgezählt habe – auch und besonders Sie gehören dazu!

Und so schön das ist, wenn so viel Engagement im Raum ist, Gemeinschaft zu gestalten ist kein Selbstläufer. Gemeinschaft zu leben ist anstrengend. Ist Arbeit. Jeden Tag.

Das gilt für jede Partnerschaft, jede Familie, jede Schulklasse – und eben auch diese besondere Form der Gemeinschaft, die Sie hier im Landesverein leben.

Es ist Arbeit, sorgsam darauf zu schauen, dass bei allem Veränderungsdruck und bei allen notwendigen Maßnahmen, um überhaupt am Markt bestehen zu können, die Frage nach dem WIE des Miteinander-Lebens und -Arbeitens nicht ins Abseits gerät.

Deshalb ist es so wichtig, gerade heute, beim Jahresfest in diesem besonderen Jubiläumsjahr, darauf zu schauen. Was bedeutet uns eigentlich Gemeinschaft, was bedeutet sie hier im Landesverein? Was ist uns wichtig? Was ist kostbar? Wo gäbe es Luft nach oben, damit sich wirklich alle als Teil dieser besonderen Gemeinschaft verstehen?

Die Stärke und Strahlkraft des Landesvereins ist es ja gerade – so nehme ich es mit meinem Außenblick wahr – dass Sie aus Ihrer besonderen Tradition heraus die Gegenwart gestalten. Dass klare Werte Sie leiten und dass Menschen insbesondere dies so attraktiv finden – das christliche Fundament Ihres Handelns und Glaubens.

Umso wichtiger ist es, dass dabei niemals vergessen wird, wie das Fundament unseres Lebens aussieht. Von welchen Bildern und Idealen her wir leben.

Daher ist es gut und unbedingt notwendig, dass das Jahresfest mit einem Gottesdienst beginnt, in dem jene Texte leitend sind, die die Grundlage für alles sind, was wir Christen leben und glauben. Und da gibt es nur ein Sammelwerk aller Dinge, die für uns leitend sind: Die Bibel.

Um Gemeinschaft geht es auch in der Geschichte aus der Bibel, die wir eben schon gehört haben. Es ist eine ganz wichtige Episode – nämlich der Bericht darüber, wie es wohl gewesen ist. Damals, in der allerersten christlichen Gemeinde, die sich nach dem Pfingstwunder zusammengefunden hat.

Damals war das Bild, das von der allerersten Gemeinde überhaupt beschrieben wurde, ganz klar. Da gab es die, die Vorbild waren – die noch wussten, was Jesus gelehrt hatte und die das weitergaben. Die Wunder taten.

Ganz konkret sah danach das Zusammenleben der ersten Christen so aus: Eine feste Gemeinschaft, die nicht auf eigenes Eigentum setzt – alle sollen das bekommen, was sie brauchen – aber niemand mehr, als er braucht. Miteinander essen und trinken, Abendmahl feiern. Und: Beten.

Klingt, wie soll ich sagen, ziemlich perfekt. Ein Idealbild – so sollte es doch eigentlich sein, oder? Wir lernen voneinander, wir vertrauen auf Gott, Geld ist nicht wichtig und wir teilen alles, was wir haben.

Aber war das wirklich so, damals? So friedlich, so perfekt?

Der Theologe Fulbert Steffensky schreibt dazu: Der Bericht in der Apostelgeschichte über das Leben der ersten Christen sei ein „in die Vergangenheit verlegter Zukunftstraum“.

Ich finde das sehr treffend. Denn: Aufgeschrieben wurden die Worte erst viele Jahrzehnte später. Und ich kann mir vorstellen, wie sehr die Menschen von diesen Vorstellungen gelebt haben – wie war es eigentlich, damals, nach diesen dramatischen Ereignissen – der Tod Jesu, das leere Grab, Begegnungen mit dem Auferstandenen, das Pfingstwunder.

Und sie malten sich ein perfektes Bild – so, wie sie sich christliche Gemeinschaft quasi in Reinkultur vorstellten. So muss es doch gewesen sein. Damals, in der ersten Stunde. In dem klaren Wissen – da kommen wir nicht mehr ran.

Und schon damals, 50 Jahre nach den Ereignissen, wird es nicht perfekt gewesen sein. Davon lesen wir in den paulinischen Briefen zur Genüge. Neid, Missgunst, Ausgrenzung – alles, was menschlich ist, gab es auch in den ersten christlichen Gemeinden. Natürlich. Weil wir ja immer in dieser Welt verortet sind – simul iustus et peccator – die Formel Martin Luthers dafür, wie wir Menschen als Christen in dieser Welt sind. Immer und zugleich gerechtfertigt und Sünder.

So war es also auch damals, machen wir uns keine Illusionen.

Aber, und das ist wichtig: Die, die das aufgeschrieben haben, wussten, wir Menschen brauchen solche Zukunftsträume. Solche Bilder, wie es sein müsste, wenn es gut ist.

Wenn sich alle verstehen. Wenn Wunder geschehen. Geld nicht wichtig ist. Alle alles miteinander teilen.

Und dies nicht in einer schier vermessenen Hybris, wir wären bessere Menschen, wir könnten dies erreichen. Nein.

Aber in dem klaren Wissen – es gehört zu unserer uns eigenen Würde dazu, dass wir um unser Gebrochensein, um unsere Begrenztheit wissen und zugleich von Bildern herleben, wie es besser sein könnte. Von Bildern, die wir brauchen, um Gegenwart zu gestalten.

Ein solches Bild ist für mich diese kleine Erzählung aus dem Leben der ersten christlichen Gemeinde, dieser „in die Vergangenheit verlegte Zukunftstraum“.

Ich lese uns noch einmal den Text, die Geschichte in so genannter Einfacher Sprache. Auf den Punkt gebracht also.

Die Menschen glauben den Aposteln.

Sie lernen gern von ihnen.

Die Freunde von Jesus bleiben zusammen.

Die Freunde von Jesus essen ihr Brot zusammen.

Die Freunde von Jesus essen zusammen wie mit Jesus.

Und die Freunde von Jesus beten.

Viele Menschen bekommen aber Angst:

Die Apostel machen viele Wunder.

Doch die Apostel zeigen den Menschen:

So ist Gott.

Viele Menschen glauben.

Diese Menschen bleiben darum bei den Aposteln.

Alle Christen haben alles gemeinsam.

Und diese neuen Freunde von Jesus verkaufen alles.

Sie sind Christen.

Und die Christen verteilen das Geld an alle:

Jeder hat genug.

Die Christen sind alle Tage zusammen im Tempel.

Und alle Freunde von Jesus sind zusammen zu Hause:<

Alle essen zusammen ihr Brot.

Alle essen zusammen wie mit Jesus.

Alle loben Gott.

Alle Menschen lieben sie.

Gott schickte ihnen jeden Tag neue Freunde.

Allen ging es gut.

Allen ging es gut. Alles IST gut. Was für ein schönes Bild von Gemeinschaft.
 

Und ich möchte Sie fragen: Wie geht es Ihnen mit diesem Bild? Und weiter: Wie wäre denn eine Gemeinschaft, wie wäre Ihr Miteinander hier im Landesverein, wenn alles gut wäre?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Der Konjunktiv ist nötig – denn GUT, so wie in dem Zukunftstraum von der ersten Gemeinde, KANN es nicht sein. Kann es nirgends sein. In keiner noch so tollen Gemeinschaft – weil wir schlicht gesagt noch nicht die sind, die wir sein sollen. Niemand von uns. Und weil wir erst sind, die wir sein sollen, wo wir einst sein werden. Im Reich Gottes. Bis dahin sind wir, was wir sind: Gerechtfertigte und Sünder zugleich.

Deshalb also: Wie wäre es, wenn es in diesem Sinne gut wäre? Wonach sehnen Sie sich? Worüber sind Sie traurig?

Es ist wichtig und unbedingt notwendig, sich diese Fragen immer wieder neu zu stellen. Denn, ich erinnere an den Anfang, Gemeinschaft ist niemals ein Selbstläufer. Gemeinschaft ist Arbeit. Harte Arbeit.

Aber, sie ist es wert. Weil es um etwas geht. In jeder Familie, in jeder Firma, und ganz besonders auch hier bei Ihnen im Landesverein. Es lohnt sich unbedingt, immer wieder an dieser besonderen Gemeinschaft zu arbeiten. Weil das, worum es geht, so unendlich kostbar ist: Menschen.

Und die Güte einer Gemeinschaft zeigt sich dabei im Detail. Wie gehen wir miteinander um. Dies kann sich in einer ganz einfachen und simplen Frage zeigen: Leben und arbeiten wir in der klaren Grundhaltung, dass mein Gegenüber dieselbe Würde von Gott geschenkt bekommen hat, wie ich? Egal, aus welchem Grund wir uns treffen – weil ich Hilfe brauche oder Hilfe geben kann, weil ich Entscheidungen treffe oder von den Entscheidungen anderer abhängig bin? Ist mein Herz dafür offen, dass der oder die, die mir gegenübersteht, exakt so viel Wert ist wie ich?

Die klaren Weisungen Jesu entbinden uns also nicht davon, dass wir uns bestmöglich bemühen. Dass wir uns darauf besinnen, woher wir leben und was uns miteinander verbindet. Uns alle. Dass wir Menschen sind. Von Gott unendlich und unbedingt geliebt. Gleichermaßen. Ohne Unterschied.

Ihnen hier im Landesverein – egal ob Sie hier leben, hier arbeiten, ehrenamtlich oder hauptamtlich – wünsche ich, dass Sie die Arbeit an Ihrer wertvollen Gemeinschaft nicht scheuen. Weil sie ein kostbarer Schatz ist, der so vielen Menschen Hoffnung und Halt gibt. Und das in einer Zeit, in der gerade denen gegenüber der Ton rauer wird, die nicht ins Bild passen. Ihre Arbeit ist kostbar. Die Orte und Schutzräume, die sie schaffen, sind wertvoll und notwendig zugleich.

Und ich wünsche Ihnen auch, dass Sie in all dem Gelassenheit üben können. Weil es den perfekten Ort eben noch nicht gibt und nie geben wird. So sehr wir uns auch bemühen.

Zum Abschluss möchte ich noch einmal Fulbert Steffensky zitieren aus seiner Auslegung unseres heutigen Textes aus der Apostelgeschichte:

„Die Kirche ist der Raum des Trostes Christi, und sie ist der Raum, in dem man die Schmerzen nicht verdrängt, weil wir noch nicht die sind, die wir sein sollen, und noch nicht da sind, wohin wir gehören. Der Trost ohne die große Sehnsucht ist billig, die ungetröstete Sehnsucht verzweifelt.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, Amen.

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