30.11.2011 - Gottesdienst zum Welt-AIDS-Tag

Predigt im Jesaja 63 / 64

30. November 2011 von Kirsten Fehrs

POSITIV ZUSAMMENLEBEN – Nicht nur eine Kampagne

Liebe Brüder und Schwestern!
Schwer beeindruckt bin ich von all diesen Lebensbildern eben. Hannes und Matthias Mau mit ihrer anrührend tatkräftigen Zuneigung zu ihrem tansanianischen Dorf. Und mit ihrer Zuneigung zueinander! Die Body-Maps, die lebendigen Bilder positiven Zusammenlebens. Was können Gesichter und Körper alles erzählen! Von Kummer und Liebe, Angst und Groll, Verzicht und Zärtlichkeit, eine Collage der Gefühle. Nicht erzählen dagegen kann er es seiner Mutter: „Mom, I have to tell you something“ – aber er kann es nicht. Vor lauter Liebe nicht, der Sohn.

Positiv zusammen leben – das geht nicht, ohne auch Negatives gemeinsam auszuhalten. Und das ist deshalb schwer, weil die Diagnose, der Schreck, die Angst vor dem, was kommt – wenigstens aufs Erste - eine persönliche Katastrophe bedeutet. Für den Sohn der Hamburgerin ebenso wie für die kranke Mutter in Tansania, die drei Kinder zurück lässt, ebenfalls infiziert. Diese persönlichen Katastrophen katapultieren einen heraus aus der Verlässlichkeit. Chaotisieren alles. In dem Maße, wie der Boden wankt, will man sich schützen. Sich und die anderen. 
Ich verstehe das gut. Denn es ist ja nicht nur ein irrationales Angstszenario, sondern Realität: Wir leben in einer Welt der Sieger. Wer Schwäche, Krankheit, HIV zugesteht, begibt sich in Gefahr, zum Verlierer zu werden. Am Arbeitsplatz. Im Bekanntenkreis. Dann ist die freie Wohnung ist wie zufällig doch schon weg und der Heimplatz auch. 
Dennoch: man muss heraus aus der Sprachlosigkeit! Positiv leben heißt: REDEN.
Ich bin sicher, wir könnten einander von manchem Verlust und Chaos erzählen. Könnten Lebensbilder zusammen tragen, die uns berühren. Menschen, die wir betrauern. Aber auch Dinge, die uns hoffen lassen. Und – glücklicherweise – erzählen und teilen wir all dies ja tatsächlich heute auf besondere Weise - beispielsweise nachher beim Candle light walk oder im Fürbittgebet. Beides hat Kraft, weil wir „positiv“ aushalten. Weil wir hinschauen, was ist, ohne es zu beschönigen. Der Candle walk hat Kraft, weil Gott mit uns geht, Licht auf dem Wege. Und das Gebet hat Kraft, weil wir aneinander denken und zugleich an einen Höheren abgeben können, was uns das Herz zerreißt.
O Heiland, reiß die Himmel auf! So heißt eines der schönsten Adventslieder, die ich kenne. Reiß ab, herab, herab vom Himmel lauf! Er soll sich beeilen, der Heiland. Die Zeit drängt. Auch und gerade weil AIDS schon 30 Jahre keine Unbekannte mehr ist. Fast schon hat man sich eingerichtet auf das Unheil. Skandalisiert nicht mehr, dass nur knapp die Hälfte der AIDS-Infizierten auf der Welt die Medikamente bekommen, die sie brauchen. Und die Gesellschaft hier hat sich eingerichtet, dass viele mit dem HIV-Virus dank der Medikamente einigermaßen leben können. – Doch geht sie deshalb wirklich offener mit dem Thema um? Aufgeklärter sicherlich. Doch dem einzelnen gegenüber zugewandter? Ich glaube nicht. Vielmehr scheint mir im Laufe der Jahre die Diskriminierung subtiler geworden zu sein. So, dass es zu den größten Problemen überhaupt zählt, dass Infizierte sich nicht zu erkennen geben mögen. Dass sie sich wegducken, abtauchen mit ihrer Scham und ihrer Angst. Deshalb: O, Heiland, reiß die Himmel auf. So, dass wir einen Grund haben, wieder die Häupter zu erheben. Komm herab, Trost der Welt. Es kann nicht bleiben, wie es ist!

Der Dichter des Liedes, Friedrich Spee, schrieb dieses Lied in finsterer Zeit. Mitten im 30jährigen Krieg, eine 30 jährige Katastrophe. Daher die Inbrunst und das Drängen. Die Menschen sehnten sich nach Sichtbarkeit, nach der Nähe Gottes. Dass doch endlich irgendetwas diese Heillosigkeit beenden möge. O Sonn, geh auf, ohn´ deinen Schein in Finsternis wir alle sein“, betet und hofft und sehnt es Zeile um Zeile unbeirrt.
Immer wieder, seit Menschengedenken treibt den Menschen diese Spannung um zwischen Verzweiflung und Zuversicht, zwischen Verzagen und Sehnen. Wir wissen, gerade wenn´s einem dreckig geht: Diese Spannung kann man nicht übertrösten, sondern nur aushalten. So wie es in der Bibel in den Klageliedern geschieht. Wortgewaltige und merk-würdige Lieder sind das, schonungslos und voller starker Bilder. Der Predigttext vom Propheten Jesaja ist so ein Klagelied: „So schau nun von deinem Himmel herab von deiner herrlichen Wohnung, greinen die Israeliten. Oijoij, wo ist denn nun deine Macht? Ach dass du doch den Himmel endlich zerrissest und führest herab! 
So flehen und klagen sie. Und haben Grund dazu. Denn sie sitzen gebeugten Hauptes, ohne Stolz, ohne Heimat, ohne Tempel im Exil. Sie sind in jeder Hinsicht obdachlos. Auch religiös. Du bist so fremd, uns so fern, kaum noch jemand kennt etwas von dir, ach komm doch endlich herab in unsere Zerrissenheit. So liegen sie Gott in den Ohren. Und während sie ihm darin liegen, sind sie ihm nahe wie nie. Und Gott? Der ist ganz Ohr. Nahe wie nie. Und irgendwann fühlen sie: er tut wohl denen, die auf ihn harren. So heißt es in dem uralten Bibeltext.

Harren und klagen – darum geht es. Das ist das Besondere an diesem, an den Klageliedern überhaupt: Dass laut und ausgiebig vor Gott heraus gewütet, geschleudert, erinnert wird, was negativ ist. –Um wieder positiv leben zu können. Damit wir uns nicht falsch verstehen: dieses Klagen ist kein selbstmitleidiges Lamento auf hohem Niveau. Nein, die biblische Idee ist, dass wir in Gottes Ohr hinein klagen, um gerade heraus zu kommen aus der Selbstumkreisung. Und so löst sich mit jeder Träne die Erstarrung. Heißt: Jeder Klage wohnt die Veränderung inne. Wer klagt, findet sich nicht ab mit dem Faktischen. Protestiert in den Himmel hinein, was auf Erden schreit. 
Was für ein Gegenmodell zu dem doch bei uns üblichen: „Ich kann nicht klagen!“ Tatsächlich ist das so: Die wenigsten können noch klagen. Obwohl es so erlösend wäre. Denn Klagen verringert die Entfernung zum eigenen Schmerz ebenso wie zu dem, dem wir es anlasten. Und wenn es Gott ist – nur zu. Der ist so groß, dass er eine Menge aushalten kann. Also: wir sollten klagen lernen, sonst füllt sich mit all dem Unbetrauerten in unserer Seele eine Art Tränengraben, der uns von dem trennt, was auf der anderen Seite der Seele wohnt: die Hoffnung.

Positiv zusammen leben – das meint eben: gemeinsam zu klagen, um die Hoffnung wieder zu erreichen. Hoffnung, die ein Bild in uns entstehen lässt, was unser Leben wertvoll macht. Dass es einen Grund gibt, morgens aufzustehen und am Lebensabend zufrieden nach Haus zu kommen. 
Und dieser Grund kann Andreas heißen oder Hannes oder Amelie. Und: er kann Christus heißen. Für mich ist er die Hoffnung in Person. Auf ihn warten wir jetzt im Advent, dass er endlich den Himmel aufreißt. Er soll herab kommen, schnell, und seine so wunderbare und revolutionäre Idee wieder und wieder in uns hinein senken: Dass nämlich jedem Menschen – gleich welcher Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Sexualität – dass jedem Menschen das Versprechen auf Zukunft zugeliebt ist. So positiv, lebendig, auch mit HIV positiv.

Hoffnung als Grundmelodie des Advents – wie wird sie Wirklichkeit? Konkret? Wenn man doch auch Grund zur Klage hat? - Hoffnungsgeschichten ereignen sich immer in der Nähe. Eine davon, so hinreißend, möchte ich zum Schluss erzählen. Sie handelt von einem ehemaligen Sternekoch, der seit 11 Jahren im Hospiz Leuchtfeuer in St. Pauli arbeitet. Wahrlich hingebungsvoll kocht Ruprecht Schmidt für die, die nicht mehr daran geglaubt haben, je wieder Appetit zu haben oder etwas genießen zu können. Nicht dem Leben Tage geben, doch den Tagen Leben – das leitet ihn. Und essen heißt: Ich lebe noch! Täglich geht der Koch durchs Haus, verteilt Vitamingetränke und fragt nach den Menüwünschen. Hört genau hin. Ist ganz Ohr. Und dann kocht er und probiert, würzt nach, dekoriert. Labskaus für die Hamburgerin, farbige Suppen für die, die nichts mehr schmecken kann, Pommes rot –weiß für ihn, der an AIDS stirbt, einen kleinen Löffel Quark mit Slivowitz für den Bankier. Das Lächeln und Strahlen, wenn er den Geschmack genau getroffen hat, machen ihn glücklich. Die Freude kommt oft wie ein Stoßseufzer und erreicht ihn tief. Er ist gerührt, wenn etwa er, der in seinem einsamen Zorn kein Wort mehr sprechen wollte, ihn bittet: „Ruprecht, darf ich Sie umarmen?“ Und dann umarmt er ihn, ganz vorsichtig, weil er so zerbrechlich geworden ist, und er weiß: Das war das beste Coq au vin seines Lebens. – 
Positiv zusammen leben. Das ist mehr als eine Kampagne. Das ist Hoffnung, die lebt. Die unsere Freude nährt - mit dem wahren Brot des Lebens. Amen

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