Predigt im ökumenischen Gottesdienst im Ratzeburger Dom gehalten von Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald)
04. Juli 2010
Liebe Gemeinde,
wenn wir heute eine Ausstellung mit Exponaten von Ernst Barlach und Käthe Kollwitz hier in Ratzeburg eröffnen, dann fällt das Licht auf zwei Menschen, die stark in das Geschick der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verwickelt waren. Zugleich geben uns beide mit ihrem Werk einen tiefen Einblick in ihr Inneres und damit „Über die Grenzen der Existenz“.Wir werden Zeuge ihrer Interpretationen der Zeit, ihrer Gedanken, ihrer Sehnsüchte – diesseits und jenseits der Grenzen der Existenz.
Die geschieht beispielsweise, wenn Sie hier im Domhof einen Blick auf den Bettler auf Krücken werfen. Die etwa zwei Meter hohe Figur zeigt einen schmächtigen, armen Mann, der barfuss ist und nur ein knielanges Gewand trägt. Zum Gehen ist er offensichtlich auf zwei Krücken angewiesen, die den ausgemergelten Körper unter den Armen stützen müssen. Die Beine scheinen so schwach, dass sie – gebeugt – ohne Krücken in sich zusammen zu sinken drohen. Beide Hände halten die Krücken umklammert, so dass der Mann alle Kräfte aufwenden muss, um nicht zu stürzen. Die Hände an den Krücken, kann er nur den Kopf frei bewegen. Der Kopf wirkt – verglichen mit dem schmächtigen Körper – groß. In den Nacken gelegt mit halb offenem Mund blicken seine großen Augen erwartungsvoll gen Himmel. Sieht man die Skulptur von der Seite, erkennt man besonders gut, dass die ganze Person nach oben ausgerichtet ist.
Ernst Barlach hat als 44-jähriger, angesteckt von der nationalen Euphorie, den Kriegsbeginn 1914 bejubelt. Doch die eigenen Erfahrungen, die Bilder von Tod und Vernichtung und die entsetzlichen Berichte von Freunden an der Front verändern seine Weltsicht. Sie bringen ihm eine höchste Wertschätzung des Friedens. Am 2. November 1918 schreibt er an seinen Bruder: "Weltüberwindung ist durch Kanonen allein wertlos, wenn es nicht innerlich zugleich geschieht. Kann es innerlich geschehen, so sind Kanonen überflüssig." 1
Das drückende Elend dieser Welt kommt in vielen seiner Arbeiten zum Ausdruck, so auch in dem Bettler auf Krücken. Entworfen ist die Figur 1930 für den ursprünglich 16-teiligen Figurenzyklus „Gemeinschaft der Heiligen“, der in den gotischen Außenfries der Lübecker Katharinenkirche integriert werden sollte. Schon die ersten drei Figuren des Zyklus erregten bei den erstarkenden Nationalsozialisten Widerstand. Mit der Machtergreifung Hitlers wurde Barlachs Werk als „entartet“ diffamiert und aus der Öffentlichkeit verbannt.
Der Bettler auf Krücken wurde aus der Fassade entfernt und überdauerte den Krieg in einem Privatversteck. 1947 konnte er wieder in die Fassade der Katharinenkirche eingebaut werden. Die Aufstellung des Abgusses hier im Klosterinnenhof im Jahr 1979 geht auf die Idee des kürzlich verstorbenen Domprobstes Uwe Steffen und die großzügige Stiftung von Nikolaus Barlach, dem Sohn Ernst Barlachs, zurück.
Zur Trauerfeier Barlachs im Atelier in Güstrow wurde im Oktober 1938 ein Abguss des Bettlersneben dem offenen Sarg aufgestellt. Der Bettler galt als ein Lieblingsmotiv Ernst Barlachs. Die elende Figur mit dem sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck gen Himmel erscheint wie das wahrhafte Bild des Menschen vor Gott. So zitierte denn auch Pastor Johannes Schwartzkopf bei der Beerdigung Barlachs hier in Ratzburg die überlieferten letzten Worte Martin Luthers: „Wir sind Bettler, das ist wahr“.
Ein Bettler ist ein randständiger Mensch. Er kann sich nicht allein versorgen. Es gehört geradezu zum Wesen des Bettlers, auf Zuwendung angewiesen zu sein. Genau das wollte Luther sagen: Der Bettler ist ein Mann an der Grenze der menschlichen Existenz. Er lebt nicht aus sich selbst heraus, sondern aus dem, was er empfängt. Das trifft sich mit einer Grundaussage des christlichen Menschenbildes. Wir sind alle Bettler, weil wir Empfangende sind. Alles, was wir sind und haben, verdanken wir anderen. Schon der Apostel Paulus fragt: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1. Kor. 4, 7) Bei einem Baby ist es noch ganz offensichtlich. Es lebt aus der Zuwendung. Viele halten es aber für ein Grundmuster des Erwachsenseins, nicht mehr „Danke!“ sagen und zu müssen. Paulus, Luther und Barlach entlarven diese Einstellung als eine Selbsttäuschung. Der Mensch lebt aus dem, was ihm geschenkt wird.
Diese Lebenshaltung ist dieselbe, die sich in den Seligpreisungen Jesu niederschlägt. Wollte man die Seligpreisungen der Bergpredigt figürlich darstellen, dann wäre das mit diesem Bettler auf Krücken gut gelungen: das Leid der Ungerechtigkeit und des Unfriedens dieser Welt zeichnet den Körper, zugleich ist das Gesicht erwartungs- und sehnsuchtsvoll zum Himmel geöffnet.
Ich lese uns die Seligpreisungen aus dem 5. Kapitel des Matthäusevangeliums:
Mt 5, 1-10: Als Jesus aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich;
und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Die Seligpreisungen sind poetische Kurzzusammenfassungen der Lehre Jesu. Sie zeigen, wofür Jesus steht. Martin Luther sagte über sie: „Denn das ist die Summe von diesem Evangelio, dass unser lieber Herr Christus uns hie vormalet, was er für Jünger haben, wie es ihnen auf der Welt gehen und was sie hoffen sollen.“2 Die Jünger tragen jetzt Leid, sie hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, ja, sie werden sogar um der Gerechtigkeit willen verfolgt. Wie der Bettler auf Krücken sind die Jüngerinnen und Jünger Jesu exzentrische Menschen. Sie empfangen, das, was sie zum Leben brauchen, von außen.
Die acht Seligpreisungen umschreiben kurz und atemberaubend klar, was Christsein ausmacht. Zu schaffen macht uns heute wohl nur die Bezeichnung „selig“. Der Begriff hat eine doppelte Bedeutung, im Griechischen wie im Deutschen. Die mehr vordergründige Bedeutung könnte auch übersetzt werden mit „glücklich“, im Sinne von „begeistert, entzückt, erfreut“. Die hintergründige Bedeutung hat eine religiöse Komponente und steht auch für „erlöst, im Himmel/ Paradies, der ewigen Seligkeit teilhaftig“.3 Wer selig ist, für den gilt beides. Er ist vielleicht nicht immer im oberflächlichen Sinn glücklich, aber zutiefst von Gott erfüllt, von ihm getragen und deswegen auch der ewigen Seligkeit teilhaftig. Wer selig ist, der kommt in den Himmel. Genau das sagen ja auch die begründenden Denn-Sätze der ersten und der letzten Seligpreisung: „Denn ihrer ist das Himmelreich“ (V. 3 und 10).
Der Bettler auf Krücken Barlachs lebt jedenfalls auch exzentrisch. Er schaut ganz nach oben. Von dort erwartet er das Wesentliche. Wie wir nach Luther alle Bettler sind, so erwarten wir die Erfüllung unseres Lebens nach Barlach von oben, außerhalb unserer selbst. Damit ist der Bettler das Sinnbild derer, die selig zu preisen sind.
Wer ist nun selig zu preisen? Die erste Seligpreisung gibt uns gleich die zentrale Antwort. Es sind die „im Geiste Armen“ (V. 3). Vielleicht ist diese merkwürdige Wendung aus den sozialreligiösen Verhältnissen der Zeit Jesu entstanden. Die soziale und religiöse Oberschicht hatte sich weitgehend der heidnisch-hellenistischen Kultur assimiliert und den alten Gottesglauben aufgegeben. Das Volk des Landes dagegen war arm und fromm. Sie mussten alle Lebenserfüllung von Gott erwarten. „Arm im Geist“ ist dann jemand, der als eine innere Haltung „wirklich alles allein von Gott“ erwarten muss.4 Wer sich als „arm im Geist“ empfindet, weiß, dass es am Ende, wenn wir uns vor Gott verantworten müssen, nicht auf das ankommt, was wir als Menschen vorzuweisen haben, sondern darauf, dass wir auf Christus verweisen können, der alles für uns getan hat. Insofern preist die erste Seligpreisung gut reformatorisch die, die um ihr Angewiesensein auf Gottes Gnade wissen.
Die letzte Seligpreisung (V. 10): „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich,“ hat zusammenfassenden Charakter. Wer auf dieser Erde nach den Maßstäben der Ewigkeit lebt, wird Gegendruck erzeugen. Es ist die weit verbreitete Erfahrung, dass diejenigen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, unter den Bedingungen dieser Welt Verfolgung erfahren werden. Umso gewisser ist ihnen der Anteil an Gottes ewiger Welt. Beides, der Druck dieser Welt und die Erwartung auf Gottes neue, kommen nun in dieser Barlach-Figur zum Ausdruck. Der Bettler ist extrem schlank, ja dürr. Offensichlich bekommt er nicht reichlich. Außerdem braucht er ja diese Krücken. Allein, ohne „Gehhilfen“, vermag er nicht zu gehen. Dieser Bettler ist doppelt geschlagen. Aber er erwartet viel von oben. Ganz ist seine Haltung auf oben, auf Gott ausgerichtet.
In dieser völligen Ausrichtung auf Gott ist der Bettler Christus ähnlich. Auch die Seligpreisungen bezeichnen Haltungen, die sämtlich Wesenszüge des Christus sind. Er ist der, der alles von Gott erwartet. Er ist der Schmerzensmann, der Leid trägt. Er sagt von sich selbst: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“ (Mt. 11, 29). Er kämpft für Gerechtigkeit für Ausgestoßene und Ausgegrenzte. Er ist die Barmherzigkeit in Person. Er ist der, der ein reines Herz hat und schuldlos ist. Bei seiner Geburt sangen die Engel vom Frieden auf Erden und die Schriften nannten ihn den Friedefürst.
So ist denn der Bettler nicht allein das wahrhaftige Bild des Menschen vor Gott, sondern zugleich auch das wahrhaftige Bild Gottes unter den Menschen. Gott macht sich in Christus zum Bettler, er „entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an“, wie es im Christushymnus des Philipperbriefes heißt. Er verändert seine Menschen, indem er sie bittet.
An der Katharinenkirche in Lübeck wie in der Gertrudenkapelle in Güstrow sind die drei fertig gestellten Figuren des Zyklus mit dem Bettler in der Mitte aufgestellt. Links davon der singende Klosterschüler, rechts davon die Frau im Wind. Die Assoziation mit der Kreuzigungsszene, in der der Jünger und die trauernde Mutter unter dem Kreuz stehen, legt sich unmittelbar nahe.
So ist der Bettler auf Krücken eine Figur, die den Menschen in seinem Elend zeigt und – indem Christus selbst dieselbe Erniedrigung wählt – den Menschen zugleich in seiner unverlierbaren Würde darstellt. So begegnet uns in dem Bettler sowohl der wahre Mensch wie auch der wahre Gott.
Amen.