Predigt in der Christvesper am Heiligabend, 24.12. 2007 im Dom St. Nikolai zu Greifswald
24. Dezember 2007
Weihnachten feiern alle, auch diejenigen, die sich selbst nicht für religiös halten. Kein anderes christliches Fest strahlt so weit aus, wie das Weihnachtsfest – weit über die Grenzen der Kirche und der Christenheit hinaus. Was ist der Grund für den Erfolg des Weihnachtsfestes?
Sicher kommen mehrere Ursachen zusammen. Die Lichter am festlich geschmückten Baum, die weihnachtlich dekorierte Stube und das gute Essen bilden den Rahmen. Die Geschenke unterstreichen die Bedeutung des Festes. In der Mitte aber steht das Bild von der Mutter Maria, dem Vater Josef und dem grade geborenen Jesuskind. Unzählige Darstellungen dieser trauten Szene stehen uns vor Augen.
Bekannte Weihnachtslieder besingen diesen Ausdruck familiärer Intimität: „Stille Nacht, heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht. Nur das traute, hochheilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar, schlaf in himmlischer Ruh.“
Auch, wenn diese Worte manchem schon kitschig scheinen werden, drücken sie doch die Sehnsucht aus, die sich mit Weihnachten verbindet. Darum möchte ich das Weihnachtslied, aus dem diese Worte stammen, und das vielleicht das volkstümlichste aller Weihnachtslieder ist, zur Grundlage meiner diesjährigen Predigt in der Christvesper machen. Wir finden es in unsern Gesangbüchern in der heutigen Fassung, die ihm im wesentlichen Johann Hinrich Wichern (1808 bis 1881), der Vater der „Inneren Mission“ und der Gründer und Leiter des „Rauhen Hauses“ in Horn bei Hamburg gegeben hat. Die drei Strophen in der Wichernschen Fassung stehen in unserem Kirchengesangbuch. Der eigentliche Liederdichter, Joseph Mohr, ein katholischer Priester aus Österreich hat dieses Lied mit ursprünglich sechs Strophen in den Jahren 1816 und 1818 gedichtet. Der Schullehrer Franz Xaver Gruber hat ihm die unvergleichliche Melodie geschenkt. Dieses Lied ist alles andere als weltfremd und sentimental, sondern es spricht deutlich in eine Situation des Unfriedens, sowohl in den Familien (wie auch zwischen den Völkern) hinein.
(Wer mehr über das Lied und seine Entstehung wissen will, kann heute Abend im Fernsehen einen Spielfilm sehen, bei dem die Konflikte zwischen Bayern und Österreich wie auch zwischen reichen Kaufleuten und armen Fluss-Schiffern den Hintergrund abgeben für das Szenarium, in dem dieses Lied entstanden ist. Freilich wird man dem Drehbuchautor dieses Filmes zugestehen müssen, dass er auf der Grundlage der bekannten Fakten in dichterischer Freiheit so etwas wie einen Alpenkrimi geschaffen hat.) So still und verhalten die ursprünglich für Gitarrenbegleitung geschriebene Melodie auch ist, das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ verkitscht nicht die Weihnachtsbotschaft, sondern umreißt mit wenigen Strichen die Welt, in die hinein „der Retter geboren ist“. Es ist eine Welt, gekennzeichnet von Konflikten und Unfrieden – in der Familie, zwischen Arm und Reich, zwischen den Völkern. Genau diese so unerlöste Welt will der in der Krippe geborene Heiland erlösen.
Die Grundlage menschlichen Zusammenlebens stellt die Familie dar. Weihnachten ist das Fest der Familie. Und die Familie ist den Deutschen heilig. Auf die Frage, was sie mit einem unerwartet geschenkten freien Tag im Monat anfangen würden, antworten die meisten, sie möchten ihn im Kreise ihrer Familie verbringen. Immer noch steht bei Umfragen unter jungen Leuten, was sie in ihrem Leben verwirklichen möchten, der Wunsch nach einer Familie oben an. Die Familie ist den Deutschen heilig. Vielleicht wird gerade deswegen so verbissen um die rechte Vorstellung gestritten, wie denn heute Familie zu leben ist. Eva Hermann hat ein kräftiges Rauschen im deutschen Blätterwald erzeugt. Wie man auch zu ihren Thesen stehen mag, deutlich ist: So wichtig den Deutschen weiterhin die Familie ist, sie ist in keinem guten Zustand. Man sehnt sich nach der Geborgenheit, die eine Familie spenden kann, und doch werden in unserem Bundesland beinahe zwei Drittel aller Kinder von unverheirateten Müttern geboren. Viele Ehen, unverzichtbare Grundlage für eine funktionierende Familie, zerbrechen.
Sind die Deutschen auch grundsätzlich familienfreundlich eingestellt, so sind doch offensichtlich die praktischen Strukturen etwa in der Arbeitswelt und auf dem Wohnungsmarkt eher familienunfreundlich. Da ist es kein Wunder, dass auch die Politik die Familie wieder entdeckt hat. Die Parteien konkurrieren im Wettlauf um die richtigen Familienkonzepte. So gut wie alle vergessen aber, dass die Ehe als eine verlässliche, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft das unverzichtbare Zentrum von gelingendem Familienleben ist. Wir leben heute in einer Zeit, in der die konkrete Ausgestaltung von Rollenverständnissen und Aufgabenverteilungen in einer Familie sehr unterschiedlich sein können. Deutlich ist auch, dass Frauen mit der Familienarbeit nicht alleine gelassen werden dürfen. Männer schleichen sich hier noch allzu oft aus der Verantwortung.
Nein, die Familie ist nicht mit bestimmten überlieferten Lebensformen und Rollenmustern gleichzusetzen, aber grundsätzlich gibt es zu ihr keine Alternative. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, hat sie definiert als „die dauerhafte Zusammengehörigkeit von Menschen in einem Mehrgenerationenverbund mit der Ehe als Zentrum“. Die Bestrebungen der Politik sollten darauf gerichtet sein, dieses Grundverständnis von Familie zu stützen und dabei die unterschiedlichsten Ausprägungen zu ermöglichen. Jeder Druck von Außen, wie die Familie als Grundform der Gesellschaft gelebt werden soll, kann den Raum der Intimität belasten. Einseitige Optionen, sei es: „Nur die berufstätige Mutter ist eine gute Mutter“, oder auch: „Jede gute Mutter bleibt zu Hause bei ihren Kindern“ legen Druck auf die Familien. Damit aber im Raum der Freiheit etwas Gemeinsames, das von allen Beteiligten bejaht wird, wachsen kann, braucht die Ausgestaltung der Familie eine große Gestaltungsfreiheit. Gemeinsame Kinderbetreuungsmöglichkeiten außer Haus wie auch die häusliche Betreuung von Kindern bedürften der besonderen Förderung durch die Gesellschaft. Kindertagesstätten sind ebenso wichtig wie eine Betreuung durch die eigene Mutter oder den eigenen Vater, weil diese für eine Weile aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, um sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Die in diesem Jahr 2007 zeitweilig verletzend geführte Diskussion um „Herdprämien“ oder „Gebärmaschinen“ traut den Familien nicht zu, das jeweils Beste für ihre Kinder zu suchen. Wir leben in einer „Multioptionsgesellschaft“. Wer die Familie als Grundform des menschlichen Zusammenlebens stärken will, muss ausdrücklich verschiedene Ausprägungen von Familie fördern. Wer die Familie aber in bestimmte Rollenverständnisse pressen will, seien sie vermeintlich eher konservativ oder eher fortschrittlich, wird sie belasten.
Eine andere Belastung hat die Familie schon zu tragen. Der Verlust des Glaubens in unserer Gesellschaft schwächt auch die Familie. Der Glaube, dass Gott zwei Menschen zusammenfügt und so die Ehe bildet, ist eine starke Grundlage für die Familie. Das Miteinander in der Familie braucht Achtsamkeit, Liebe und Vergebungsbereitschaft. Dies alles sind Tugenden, die der christliche Glaube fördert. Aber vielleicht ist das diesjährige Weihnachtsfest wieder ein willkommener Anlass, diese Glaubensgrundlagen für das Familienleben zu stärken. Denn schließlich ist die Ursache des Weihnachtsfestes die Geburt dieses Kindes, Jesus, von dem gesagt wird, dass es der „Heiland“ sei. Es hat die Kraft, Lebensformen und Familienverhältnisse zu heilen. So könnten in Deutschland auch wieder junge Leute bereit werden, mehr Kinder zu bekommen. Daran fehlt es uns. Ohne Kinder geht es aber der Familie nicht gut.
Darum stellt auch die ursprünglich zweite Strophe des Liedes – wir haben sie gerade als dritte in der Fassung des Gesangbuches miteinander gesungen – die Liebe in den Mittelpunkt. Die Sendung Jesu Christi in diese Welt hat ihr Ziel in der Erneuerung der Liebe. Mit der Geburt Jesu Christi kommt Liebe in diese Welt. Damit schlägt auch die „rettende Stunde“ für unsere Beziehungen. Ohne Liebe und die Bereitschaft, einander zu vergeben, können Menschen nicht ein Leben lang beieinander bleiben. Nur wer zu dieser Treue fähig ist, erfährt auch die Bereicherung, die das gemeinsame Leben über Generationen hin schenken kann.
Nach diesen zwei bekannten Strophen folgen in der ursprünglichen Fassung von Joseph Mohr drei weitere Strophen, die wir im Anschluss an diese Predigt miteinander singen werden. Sie betonen die Herablassung Gottes, der „aus des Himmels goldenen Höhen“ „in Menschengestalt“ zu uns gekommen ist. Gottes väterliche Liebe umschließt arm und reich und die verschiedenen Völker dieser Erde. Der Mensch gewordene Jesus ist Bote der „väterlichen Liebe“. Als Bruder unter Geschwistern schließt er die verschiedenen Völker der Welt, die unter Spannungen, Konflikten und Kriegen leiden, „huldvoll“ zusammen.
Gottes Wille ist Einheit, Gemeinschaft und Liebe. Diesem Gotteswillen sind seine Menschen kaum gerecht geworden. Doch Gott ahndet den Übertritt über seinen Willen nicht, sondern versöhnt die in Unfrieden Auseinanderfallenden: In den Familien, zwischen Arm und Reich und zwischen den Völkern.
Es ist ja wohl nicht umsonst, dass gerade das Bild mit dem „trauten, hochheiligen Paar“ und dem „holden Knaben“ so nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist. Nicht nur in den Weihnachtsliedern, sondern auch in Tausenden von bildlichen Darstellungen hat sich diese Szene als Urbild der Weihnacht durchgesetzt. Hier traf sich menschliche Sehnsucht und göttliche Botschaft. Von dieser heiligen Familie gehen Kräfte der Heiligung auf die Familie aus. Wer die Versöhnung der Menschen zueinander in seinem Leben erfahren hat, wird sich auch dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft nicht in Arm und Reich auseinander bricht. Und darum ist es gut, dass so kurz vor Weihnachten noch die Grenzen zu unsern Nachbarländern, so auch nach Polen gefallen sind. Denn das Kind in der Krippe ist der große Zueinanderbringer, in den Familien, in unserer Gesellschaft und zwischen den Völkern. Nehmen Sie diese Botschaft mit in Ihre Häuser und Familien. Diese Botschaft haben die Engel gemeint, als sie gesungen haben: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ (Luk 2, 14).
AMEN.
Dr. Hans-Jürgen Abromeit,
Bischof der Pommerschen Evangelischen Kirche