Jesus – einer von uns

Predigt in der Christvesper zur Heiligen Nacht im Dom St. Nikolai zu Greifswald

24. Dezember 2008 von Hans-Jürgen Abromeit

Lukas 2, 1 – 14

Liebe Gemeinde,

Weihnachten sagt uns: Jesus ist einer von uns geworden. Gott hat sein Gottsein hinter sich gelassen und ist mit den Menschen solidarisch geworden. Viele Menschen suchen die Nähe dieses herunter gekommenen Gottes. Auch in Deutschland werden am heutigen Tag etwa 20 Millionen Menschen Weihnachtsgottesdienste aufsuchen. Warum eigentlich? Was zieht die Menschen gerade an diesem Fest in die Kirche? Ist es diese reizende Geschichte, die die Nähe Gottes mit der Geburt eines Kindes in einem Stall zum Ausdruck bringt?

Es sind wohl ganz verschiedene Motive, die Weihnachten zum kirchlichen Superevent machen. Weihnachten drückt die Sehnsucht aus, Teil eines größeren, sinnvollen Ganzen zu sein. Ich muss nicht zuerst etwas leisten, um dazuzugehören, sondern werde getragen von Riten und Gewohnheiten, die es schon lange gibt und die auf ein Geheimnis, auf einen hinter ihnen liegenden Sinn verweisen. Das Geheimnis der Weihnacht lautet: Gott wird Mensch. Gott nimmt die Menschheit an und sagt ein großes Ja zu unserem Leben, das zugleich in seiner ganzen Gebrechlichkeit gezeigt wird. Unser zerbrechliches Leben ruht in den Händen des großen Gottes.

Mit den Weihnachtsriten klingen Erinnerungen an die eigene Kindheit an, die die große Erwartung an das Fest und die dann empfundene Freude lebendig werden lassen. Die Sehnsucht nach Geborgenheit und die Erinnerung an in der Kinderzeit erfahrene Geborgenheit treffen sich beim Weihnachtsfest.

Immer schwingt beim Gedanken an Weihnachten auch mit, dass da ja doch etwas dran sein könnte an der Sache mit Gott. Selbst die britische Atheistenvereinigung muss zugeben, dass die Ablehnung Gottes nur auf einer Annahme beruht, die sie für wahrscheinlich halten. Deswegen hat sie die Busse in London mit einer Aufschrift plakatieren lassen, die auf Deutsch lautet: „Wahrscheinlich gibt es keinen Gott…“. Deswegen solle man das Leben genießen und das Beste daraus machen. Eine höhere Zweckbestimmung sei nicht auszumachen. Ich denke, auch bei uns gibt es viele Menschen, vielleicht sogar in dieser Kirche, die diese Grundeinstellung teilen und sich sagen: „Wahrscheinlich gibt es Gott nicht. Auf jeden Fall ist er uns nicht zugänglich. Und wenn es einen Gott gibt, dann ist er weit weg von uns Menschen und ich habe von ihm noch nichts gespürt. Also er ist für mein Leben ohne Bedeutung.“

Genau diese Haltung bringt aber die Weihnachtsbotschaft durcheinander. Sie sagt uns: Gott, wie er sich in der Bibel vorstellt, hat uns nicht allein gelassen. In Jesus teilt Gott unser Leben. Diese Botschaft ist so faszinierend, dass wiederum viele sich aufmachen, um die Wahrheit von Weihnachten zu erfahren. Sie empfinden, dieser zu uns Menschen herunter gekommene Gott könnte unsere Sehnsucht stillen. Wir möchten gern zu ihm gehören. Gleichzeitig weiß jeder, wie gefährdet die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen ist. Lassen Sie uns in zweierlei Richtung über die Weihnachtsbotschaft nachdenken: Was es bedeutet, dass Gott Mensch geworden ist. Wir schauen nach oben, in vertikaler Richtung. Anschließend schauen wir zur Seite, in die Horizontale und fragen nach den Auswirkungen der Menschwerdung Gottes für uns.

1. Jesus teilt unser Leben
Die Weihnachtsgeschichte ist eine ganz und gar menschliche Geschichte. Der politische Rahmen wird definiert durch den die damalige bekannte Welt bestimmenden Herrscher, den Kaiser Augustus. In seinem Namen wird eine Volkszählung ausgeschrieben. Und schon fällt das Scheinwerferlicht auf ein einzelnes menschliches Schicksal. Wir sehen ein Paar, einen schon etwas älteren Mann und eine sehr junge, hochschwangere Frau auf dem Weg in ihre Heimatstadt, nach Bethlehem. Aus Platzmangel kommen sie nur in einem Viehstall unter. Dort bekommt die Frau ihr erstes Kind, einen Sohn und legt ihn in notdürftig in einer Futterkrippe für Tiere zur Ruhe.

Politische Ereignisse bürden den Menschen manches Mal besondere Härten auf. Trifft es Frauen zurzeit ihrer Niederkunft, so weiß manche Geschichten von der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens zu berichten. Wenn meine Großmutter von der Flucht aus Ostpreußen erzählte, dann waren mir solche Ereignisse, wie die Geburt im Straßengraben oder das Übernachten in Ställen schon als Kind sehr anschaulich.

Das Besondere dieser Geschichte aber ist, dass nun sozusagen ein ganz großer Scheinwerfer auf die schon an sich anrührende menschliche Szene fällt. Sofort verstehen wir: In diesen menschlichen, allzu menschlichen Widerfahrnissen ist der Heiland, der Christus, der Herr der Welt in die Welt hineingekommen. Nun könnten die Menschen endlich zu ihrer Bestimmung kommen, nämlich Gott die Ehre zu geben und untereinander Frieden auf Erden zu verwirklichen.

Ich möchte Ihnen heute diese Botschaft gern mit Hilfe eines Epitaphs, also einer Gedenktafel aus einer Kirche, die durch ihre Inschrift an Verstorbene erinnert, verdeutlichen. Ich hoffe, Sie halten eine solche Karte, gleichzeitig einen Weihnachtsgruß der Pommerschen Evangelischen Kirche, in Händen. Dieses Gemälde aus dem 16. Jahrhundert ist von so hoher Qualität, dass die Gemeinde zu Flemendorf in Nordvorpommern im 19. Jahrhundert der Meinung war, dies könne nicht nur in einer Ecke der Kirche an eine Familie erinnern, sondern sollte nun auch in ihrer Dorfkirche das Altarbild sein. In der Tat hat hier ein unbekannter Künstler mit sehr viel Sorgfalt und Präzision die Sippe Jesu gemalt, sozusagen die Großfamilie, und diese nach zwei Seiten hin erweitert. Es handelt sich - so möchte ich sagen – einmal um eine Erweiterung in der Vertikalen und eine Erweiterung in der Horizontalen.

In der Mitte der Darstellung steht das Kind. Es ist das neu geborene Christuskind. An ihm ist, wie manche Hebamme nach der Geburt zu den Eltern sagt, „alles dran“. Während sonst alle auf der Tafel Dargestellten in viel Kleidung und Tücher gehüllt sind, ist das Jesuskind ganz nackt. Damit sagt das Bild nicht weniger als: „Gott wurde Mensch, er wurde einer wie du und ich.“ Die vertikale Erweiterung des Bildes, sozusagen die Linie in die Höhe, können Sie auf der Weihnachtskarte gut erkennen, wenn Sie die Karte einmal zuklappen. Sofort wird deutlich, dass das hier dargestellte propere, nackte Jesuskind die uns zugewandte, menschliche Seite Gottes ist. Auch wenn der große Gott uns Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist, so ist er doch in dem Kind unter uns anwesend. Der ewige Schöpfer - Gott wird vom Künstler fast abgeschirmt von der Menschenwelt dargestellt. Gottes Welt ist da, aber der Mensch kann den Vater, den Schöpfer, nicht fassen, sondern vielleicht nur erahnen. Durch seinen Geist, der traditionell im Bild durch die Taube symbolisiert wird, wirkt Gott auf die Menschenwelt ein und steht auch in stetem Austausch zu der den Menschen zugewandten Seite Gottes, zu Jesus Christus.

Mag dieses Bild uns vielleicht auch als zu voll, zu überladen erscheinen, es sagt uns: Der Mensch steht immer in einer großen Familie. Menschliches Leben gibt es nicht einsam, sondern nur in Gemeinschaft. Auch Gott, der hier als Dreiheit in Einheit dargestellt wird, zeigt in sich selbst Gemeinschaft. Gott, zu dessen Wesen Gemeinschaft gehört, verbindet sich mit menschlicher Gemeinschaft.

Nein, sagten die Alten, es ist nicht wahr, dass – wenn es da doch einen Gott gäbe, er mich nichts anginge. Gott drängt dynamisch in diese Welt hinein. Es ist wahr, alle Gedanken von Menschen über Gott, sind nur menschliche Gedanken. Überzeugend können wir nur von Gott reden, indem wir der Botschaft des Spruchbandes im oberen Teil des Bildes folgen. In lateinischer Sprache ist dort ein Vers aus Matt. 17, Vers 5 aufgeschrieben: „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“ Wer wirklich etwas über Gott wissen will, sollte nicht seinen eigenen Gedanken über Gott folgen, nicht auf die Meinung der Philosophen hören oder den Vielrednern trauen, sondern sollte beachten, wie sich Gott selbst den Menschen geöffnet hat. Mit der Menschwerdung Gottes sind wir Menschen nun nicht mehr unter uns. Irgendwie ist Gott nun in den Menschen drin. Irgendwie kommt Gott nun bei uns Menschen vor.

Deswegen ist es völlig sachgemäß, dass der Maler vor 500 Jahren die Familie, die bei ihm dieses Bild in Auftrag gegeben hatte, in dieses Bild hineingemalt hat. Unten erkennen Sie, kleiner als die Figuren aus der Sippe Jesu links die Männer, rechts die Frauen der Familie Heinlein. Ich nenne dies die zweite, die horizontale Erweiterung der dargestellten Sippe Jesu. Was für die Familie Heinlein galt, gilt für jeden Menschen, der einmal von der Weihnachtsbotschaft angerührt wurde.

2. Wir möchten gern zu Jesus gehören.
Weihnachten kommen viele zur Kirche, die heimlich denken: „Wenn es überhaupt Gott gibt, dann, leider, nicht für mich! Und doch möchte ich wissen, ob etwas dran ist an diesem Gott und an diesem Kind in der Krippe.“ Weihnachten ist ohne Zweifel das am intensivsten in der Bevölkerung gefeierte Fest. Neben der Freude am Feiern bewegt uns eine Sehnsucht nach Geborgenheit. Genau darauf antwortet der Glaube an einen Schöpfergott und seine zarte Zuwendung zu uns in der Gebrechlichkeit werdenden Lebens. Trotz aller Unbilden der menschlichen Geschichte heißt Weihnachten: In allen Problemen, in allen Schicksalsschlägen, in aller Freude und in allem Leid bin ich nicht allein, sondern Gottes Begleitung wertgeachtet.

In Jesus Christus begegnet uns Gott, wie er sich ganz in die menschliche Geschichte und in eine konkrete Familie hinein begeben hat. Zu diesem Jesus wollte schon vor 500 Jahren die Stifterfamilie, die dieses Bild in Auftrag gegeben hat, gehören. Sie lassen sich einfach in die Familie Jesu hineinmalen. Wir können aber wir real Anschluss finden an Gott und Gemeinschaft mit ihm haben? Wieder ist es das Spruchband, das uns die Richtung weist. Gott öffnet den Weg zu sich. Wir sollen auf Jesus hören, dann nehmen wir Gottes Stimme wahr. In Jesus Christus kommen Himmel und Erde zusammen. Wer Jesus vertraut, findet Zugang zum Himmel. Wer zu Gott finden will, muss sich an Jesus halten.

Das Bild stellt eine bürgerliche Familie des 16. Jahrhunderts dar. Allerdings stehen neben dem Jesuskind die junge Maria und ihre Mutter Anna im Zentrum. Ausnahmsweise stehen die Männer in der zweiten Reihe und während alle Männer den Kopf bedeckt haben, ist nur Joseph, Marias Mann, ohne Kopfbedeckung gemalt. Vielleicht will der Maler damit sagen, dass in der Familie Jesu andere Autoritätsverhältnisse gelten, als sie sonst in seiner Zeit üblich waren. In der Kirche waren und sind es überwiegend die Frauen, die den Glauben von Generation zu Generation weitergegeben haben.

Die Bedrohtheit menschlichen Lebens kommt in dem Bild nur sehr indirekt zum Ausdruck. Alle Cousins Jesu, erkennbar an der Gloriole, die wie bei dem Jesuskind, seiner Mutter und seiner Großmutter den Kopf umgibt, sind sie von den anderen Menschen des Bildes hervorgehoben. Ganz rechts außen steht Johannes, der Evangelist, und trägt einen Kelch in der Hand, aus dem giftige Schlangen hervorkommen. Direkt daneben ist Jakobus zu erkennen, weil er das Kennzeichen des Jakobusweges, der heute wieder gerne gegangen wird, hochhält: Eine Muschel. Die Jungen auf der anderen Seite haben, man könnte fast meinen, es handelte sich um Spielzeug, Werkzeuge in der Hand. Nur der Kundige weiß, dass sie jeweils auf den späteren Märtyrertod, den sie erlitten haben, hinweisen. Auch die Gemeinschaft, die sich eng an Jesus Christus angeschlossen hat, ist von Krankheit, Tod und Not bedroht. Sorgen stehen vor der Tür. Uns bedrücken vielleicht Sorgen im persönlichen Bereich, vielleicht die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, vielleicht die Furcht, die von den Menschen gemachte Klimaveränderung könnte unsere Welt irreparabel schädigen, vielleicht noch etwas ganz anderes.

Aber in allem, was uns bedrückt, sind wir nun nicht mehr allein. Ich denke, deswegen werden nicht nur die Weihnachtsgottesdienste nach wie vor gut besucht und deswegen ist die Weihnachtsgeschichte auch in unseren Kirchen die meist gemalte Geschichte.

Weihnachten sagt uns: Jesus ist einer von uns geworden. Wer sein Nahekommen spürt, möchte gerne zu ihm gehören. Auch wenn unser Leben und seine Grundlage bedroht ist und noch kein „Friede auf Erden“ geworden ist, wir sind nicht verlassen. Alle Menschen sollen die Chance haben, zur Sippe Jesu dazu zu gehören und dürfen mit ihm in unserer Mitte in die Zukunft voranschreiten.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest 2008. Amen.

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