19. November 2024 | Pauluskirche Kiel

Predigt in der EKD-Reihe zu 75 Jahre Grundgesetz zur Unverletzlichkeit der Wohnung

19. November 2024 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Predigttext: zu Micha 4,1-4

Jair Moses steht vor dem Haus seines Vaters. Seit über einem Jahr steht es leer. Bald, sagt der Sohn, wird es ganz hinter den grünen Blättern zweier großer Bäume verschwunden sein. Manchmal, wenn der Sohn vorbeischaut, um dort im Kibbuz Nir Oz seinem Vater nah zu sein, dreht er den Wasserschlauch auf und gießt die Wurzeln der Bäume. Ob Papa wohl genug zu trinken bekommt, fragt er sich dann.

Gießen, Bäume stutzen, Rasen sprengen, um all das hat sich bis zum 7. Oktober 2023 noch Gadi Moses gekümmert, Vater von drei Kindern, Opa von zehn Enkelkindern, Agronom von Beruf, der auch mit seinen 79 Jahren noch auf den Spargelfeldern von Nir Oz zu sehen war. Doch seit mehr als einem Jahr wird Gadi Moses gefangen gehalten, nur ein paar Kilometer entfernt von seinem Haus, hinter dem die Felder beginnen und hinter den Feldern der Gazastreifen. Seit mehr als einem Jahr ist Gadi Moses dort. Die Tür zum Haus ist seitdem unverschlossen, Ungefähr vierhundert Menschen haben in Nir Oz gelebt, jetzt ist der Kibbuz verwaist. Am 7. Oktober vor einem Jahr, sind hier etwa hundert Menschen getötet oder in den Gazastreifen verschleppt worden. [nach: Thorsten Schmitz, Ob Papa genug zu trinken bekommt, Süddeutsche Zeitung, 11.11.2024]

Abdul Hadi Awkal sieht den Krieg in der Wohnung seiner Schwester, die durch einen israelischen Luftangriff beschädigt wurde. Er kann ihn riechen, wenn er durch die Trümmer im Norden des Gazastreifens läuft, wo Hunderte Leichen noch unter den Bruchstücken der Häuser liegen. Er kann ihn hören, nachts, wenn die Kampfflugzeuge ihre Bomben abwerfen, und am Tag, wenn die israelischen Drohnen über ihm fliegen und nach neuen Zielen suchen oder diejenigen unter Beschuss nehmen, die den Verletzten der Nacht helfen wollen. Awkal und seine Familie müssen seit Monaten flüchten, immer wieder. Sein eigenes Haus wurde im März getroffen, jetzt ist er mit seiner Frau und den sieben Kindern bei der Schwester untergekommen. Es gibt kaum Privatsphäre und kaum zu essen. [nach Bernd Dörries, Ein Vater, der seine Kinder nicht beschützen kann, Süddeutsche Zeitung 10.11.2024]

„Die Wohnung ist unverletzlich“, heißt es in Artikel 13 unserer Verfassung. Die Geschichten wie die von Jair Moses und Abdul Hadi Awkal habe ich vor rund einer Woche in der Zeitung gelesen. Sie zeigen, was es für Menschen bedeuten kann, wie verletzlich es sie macht, wenn die eigene Wohnung nicht unverletzlich ist.

II

Beim biblischen Propheten Micha findet sich eine berühmte Friedensvision. In dieser Vision ist das sichere Wohnen geradezu ein Kennzeichen des Friedens. Dort heißt es:

In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, 2und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. 3Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 4Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.

Der Prophet Micha zeichnet in diesen Worten eine Friedensvision. Er hat erfahren, was Krieg und Konflikte zwischen benachbarten Volksgruppen und Staaten bedeuten können. Er weiß, dass es in allen Völkern die große Sehnsucht nach Frieden gibt. Er weiß auch, dass es ohne Gerechtigkeit keinen Frieden gibt und dass es zugleich es großer Weisheit bedarf, um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Micha vertraut nur sehr bedingt darauf, solche Weisheit bei Menschen zu finden. Er erwartet die Weisheit, die den Weg zum Frieden weist, alleine bei und von Gott. Wenn diese Weisheit Gottes wirksam wird, so isn’t es der Prophet Micha, werden die Völker der Erde ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihr Spieße zu Sicheln machen. Der sowjetische Künstler Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch hat diese Vision 1957 mit der monumentalen Skulptur vor dem Versammlungsgebäude der Vereinten Nationen in New York den Staaten der Welt vor Augen gestellt. Ein Aufnäher mit dem Bild der Plastik wurde 1982 zum Symbol der Friedensbewegung in der DDR. Auf dem Evangelischen Kirchentag 1983 in Wittenberg wurde es in einer öffentlichen Aktion dargestellt: Der Wittenberger Schmied Stefan Nau schmiedete im Lutherhof vor 4.000 Zuschauenden ein Schwert zu einer Pflugschar um.

III

Dass Schwerter zu Pflugscharen werden, ist der eine, sozusagen der öffentlich-politische Aspekt der Friedensvision des Propheten Micha. Der andere, mehr persönlich-private Aspekt, lautet so: Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.

Dieser Teil der Vision des Propheten Micha rührt mich sehr an. Wie könnte man Frieden, ein friedliches Leben besser in Worte kleiden als so: „Niemand wird sie schrecken“. Keine Angst haben müssen. Wohnen im Schatten eines mächtigen Baumes, der wohlschmeckende Früchte liefert und unter einem Weinstock, dessen Trauben zum Festgetränk werden, zu wohlschmeckendem Wein. Genug zum Leben haben und sicher wohnen. So wird Frieden deutlicher erlebbar. Im eigenen Lebensumfeld, dort, wohin man sich zurückziehen kann. An einem Ort, wo man in Ruhe und ohne Angst seinen Aufgaben nachgehen kann, wo man ausruhen und schlafen kann ohne aufzuschrecken.

Dieser sichere Rückzugsort ist die eigene Wohnung, das eigene Haus, das eigene Zimmer. Ein Ort der Ruhe, der Erholung und auch der Besinnung. Ein Ort der Privatheit - und das heißt auch: des nicht-Beobachtet-werdens, der nicht-öffentlichen Rede und des Gesprächs. Ein Ort, an dem man nicht den Blicken und Worten der Öffentlichkeit ausgesetzt ist und damit ein Schutzraum, ein Ort der Privatsphäre, ein Ort der authentischen Gegenwart.

Wenn die Kleidung unsere zweite Haut ist, mit der wir uns schützen, vor Kälte, vor Regen oder Sonne oder auch vor den Blicken anderer, dann ist die Wohnung so etwas wie unsere dritte Haut. Auch sie birgt uns, schützt uns, vor dem Wetter, der Kälte aber auch vor den Blicken anderer, genauso vor ihrem neugierigen Hören oder aufdringlichen Worten und Gesten. In unserer Wohnung haben wir das Hausrecht - dort hinein darf man nur auf Einladung. Die Wohnung ist der Ort, wo jede und jeder selbst bestimmen darf, wer hineingehen darf.

IV

Dieses fundamentale Recht schützt Artikel 13 des Grundgesetzes. Und Peter Unruh hat es gesagt: Es ist Ausdruck der Achtung der Menschenwürde, dass der Staat den Schutz der Wohnung gewährt. – Allerdings zeigen die Absätze zwei bis fünf des Artikels, unter welchen Bedingungen dieses Grundrecht eingeschränkt werden kann.

Der Prophet Micha zeichnet dieses uns ureigene Bedürfnis nach einem geschützten und sicheren Ort zum Wohnen in seine endzeitliche Friedensvision ein. Damit beschreibt er, wie sehr es Gott nicht nur um den öffentlichen Frieden zwischen Völkern und Staaten, sondern auch um unseren persönlichen Frieden geht. Ein Schutzraum für unsere Bedürftigkeit und Verletzlichkeit ist dafür unerlässlich. Für Gott gehört unser menschliches Grundbedürfnis nach einer sicheren Wohnung zum Bild des endzeitlichen Heils dazu. Keine großartigen Leistungsbilanzen, keine gewonnenen Wettbewerbe oder Wahlen, keine souveränes Krisenmanagement, keine Siege auf Schlachtfeldern oder andere heroische Taten sind Ausweis endzeitlichen Heils, sondern der Schutz der Wohnung.In Verbindung mit Weinstock und Feigenbaum weist die Bibel darauf hin, dass die sichere und geschützte Wohnung auch die Grundlage allen Wirtschaftens ist. Aber es ist ein Gut, dass immer wieder angegriffen wird, ein zerbrechliches Gut.

Viele Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR können Geschichten darüber erzählen, wie sie fürchten mussten, zu Hause von der Staatssicherheit abgehört zu werden. Wer zu Hause Dinge von politischer Bedeutung besprechen wollte, sorgte für reichlich Störgeräusche, drehte das Radio laut und dergleichen. Und konnte sich alles andere als sicher sein, dass seine oder ihre Wohnung während eigener Abwesenheit wirklich unverletzt blieb.

Der innere Friede im Staat beginnt bei den eigenen vier Wänden. Wo sie nicht sicher sind, ist der Friede in Gefahr. Verfassungsrechtler haben diskutiert, wie solche Wände beschaffen sein müssen, wie der Begriff Wohnung im Grundgesetz zu verstehen ist. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass auch noch der Verschlag in einem Waldstück, in dem Nichtsesshafte wohnen, unter den Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung fallen kann.

V

Eingangs habe ich von Menschen aus Israel und Gaza erzählt. Ihre leidvollen Erfahrungen mahnen und erinnern uns: Menschen brauchen den Schutz ihrer Wohnung, ihrer Privatsphäre. Das Grundgesetz trägt dem Staat auf, die Unverletzlichkeit der Wohnung zu achten und zu respektieren und dafür Sorge zu tragen, dass das als ein Grundsatz unseres Zusammenlebens auch von uns allen respektiert und geachtet wird. Das Grundrecht auf eine unverletzliche Wohnung zu schützen ist Ausdruck der Achtung der Menschenwürde. Und ebenso ist dieses Grundrecht ein Ausdruck von Frieden, der zugleich anderen Frieden gewährt.

Wenn Sie heute Abend nach Hause gehen, die Wohnungstür hinter sich zu ziehen und die Geschäftigkeit des Tages hinter sich lassen, dann mögen Sie den Segen Gottes spüren, der auf einer geschützten Wohnung ruht. Gott gebe, dass es uns gelingt, diesen Segen für alle in unserem Land für immer zu bewahren und mit dafür Sorge zu tragen, dass er auch anderswo erfahrbar sein kann. Auf dass kein Volk wider das andere das Schwert erhebt, niemand mehr lernt, Krieg zu führen. Und jede und jeder unter Weinstock und Feigenbaum wohnt, und niemand sie schrecken wird.

Amen.

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