19. Juni 2025 | St. Nikolai-Dom, Greifswald

Predigt in der Geistlichen Morgenmusik im Rahmen der Greifswalder Bachwoche

19. Juni 2025 von Nora Steen

Lk 11,28

„Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.“
Mit diesen Worten endete diese wunderbare Kantate.
Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren – der Vers aus dem Lukas-Evangelium weist mitten hinein in den Kern des Protestantismus. Und hier besonders ins Herz des Pietismus.

Selig. Martin Luther hat zwei in ihrer Grundbedeutung recht verschiedene Wörter mit »selig« übersetzt. Das hier verwendete Wort (griechisch makários) bedeutet: »glückselig« oder »glücklich zu preisen.«
Und damit: Glücklich sind die, die Gottes Wort hören. Es bewahren. Anders gesagt: Glückselig, die Gott in die Mitte ihres Lebens stellen.

Und dies auf eine bestimmte Weise. Nämlich in der, ihn zu fürchten. So begann die Kantate. Mit einem Lob auf die Gottesfurcht.
„Furcht“ – vor Gott?
Im biblischen Sinn bedeutet „Gottesfurcht“ nicht Zittern oder Angst, sondern Ehrfurcht, Respekt und Hingabe. Sie ist der Ausdruck einer Beziehung: Gott als Gegenüber ernst nehmen, als Quelle von Leben und Maßstab für das eigene Tun.
Gottesfurcht ist damit eine Grundhaltung des Glaubens. Inmitten vielfältiger Optionen und Überforderungen fragt die Kantate: „Was bestimmt dein Leben wirklich? Wem dienst du mit deinem Herzen?“ Im Kern ist sie damit vor allem eins: Klang gewordene Auslegung des Ersten Gebots: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Wer Gott fürchtet, hat alles, was nötig ist.

Wir haben es gehört und gespürt: Diese Kantate singt nicht von Angst, sondern von einem großen Vertrauen. Sie singt von einem Leben, das innerlich frei und auf Gott ausgerichtet ist.

Wie können wir das übersetzen? Wie heute damit in den Tag und in unser Leben gehen?

Das entscheidende Wort ist für mich: Ehrfurcht.
Ehrfurcht, quasi eine Weitung der Gottesfurcht. Und damit möglicherweise besser für uns im 21. Jahrhundert greifbar.

Ehrfurcht umfasst alle Bereiche: das Heilige und den Alltag und all das Dazwischen, in dem wir unterwegs sind.

Der katholische Theologe Romano Guardini schreibt zur Ehrfurcht: „In der Ehrfurcht verzichtet der Mensch auf das, was er sonst gern tut, nämlich in Besitz zu nehmen und für die eigenen Zwecke zu gebrauchen. Stattdessen tritt er zurück, hält Abstand. Dadurch entsteht ein geistiger Raum, in welchem das, was Ehrfurcht verdient, sich erheben, frei dastehen und leuchten kann.“

Ehrfurcht ist damit eine Haltung, die frei macht und zugleich der Würde des Menschen entspricht.
Für Guardini gehört die Ehrfurcht damit wesentlich zu dem, was wir Kultur nennen. Alle wirkliche Kultur beginnt „damit, dass der Mensch zurücktritt“. Nur so kann die Würde eines Menschen, die Schönheit der Natur oder eines Kunstwerkes in ihrem Glanz aufleuchten.
Alles beginnt damit, dass wir einen Schritt zurücktreten.
Von unseren eigenen Belangen und Begierden.
Von der Überheblichkeit, eigentlich am besten zu wissen, was gut und richtig ist. Für andere.
Von der Sucht, alles wissen oder mehr haben zu wollen, als mir zusteht.
Ehrfurcht ist eine Haltung der Selbstbegrenzung zugunsten der Würde und Schönheit aller Geschöpfe dieser Welt.

Alles beginnt damit, dass wir einen Schritt zurücktreten. Und mutig der Ehrfurcht Raum geben, um damit Gott Raum zu geben.
Im Vertrauen, dass ich loslassen darf. Nicht alles selbst kontrollieren muss.
Als Widerstand gegen die Versuchung, sich von Konsum oder Karriere treiben zu lassen. Gottesfurcht heißt: Gott den ersten Platz geben – nicht aus Angst, sondern aus Liebe.

Die Kantate Bachs ist dazu eine Einladung.
Einen Schritt zurückzutreten. Aus dem, was uns individuell, gesellschaftlich, global gerade beschäftigt. Und dies nicht aus Desinteresse, sondern im Gegenteil aus dem Wunsch heraus, dass alle ihre Würde behalten mögen. In allen Auseinandersetzungen, seien sie individuell oder seien sie Kriege. Aus Ehrfurcht davor, dass wir alle Menschen sind.

Alles beginnt damit, dass wir einen Schritt zurücktreten aus dem, worum unser Leben tagtäglich kreist. Uns hineinstellen in den großen Raum, den Gott uns bereithält. Und damit uns selbst nicht zu ernst nehmen. Weil allen eine Würde innewohnt, von Gott geschenkt. Nicht nur denen, die sich selbst für auserwählt halten. Nicht nur mir. Nicht nur dir.

Und dann, wenn wir das gemacht haben. Zurückgetreten sind. Aus Ehrfurcht vor allem Lebendigen und vor Gott – dann erst sind wir wirklich bereit. Bereit für Gottes Wort. Es zu hören. Und es zu bewahren. In Ehr- und Gottesfurcht.

Ich bin überzeugt davon, wir brauchen solche Räume und Zeiten, in denen wir ganz bewusst zurücktreten. Um der Ehrfurcht Raum zu geben.
So eine Zeit wie heute die Geistliche Morgenmusik hier im Dom. Herausgenommen aus dem Alltag, aus dem wir bewusst zurückgetreten sind, indem wir hierher gekommen sind.

Es braucht solche Räume und Zeiten. Für Ehrfurcht. Um Abstand zu gewinnen und neu sehen und fühlen zu lernen.

Einer der das auf eindrückliche Weise in Worte gefasst hat, wieso insbesondere Kirchenräume besonders geeignet sind, um Ehrfurcht neu zu lernen, ist der Autor Pascal Mercier in seinem Buch „Nachtzug nach Lissabon“.
Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.

Alles beginnt damit, dass wir einen Schritt zurücktreten. 
Neu lernen, ehrfürchtig zu sein.
Und wir werden merken – das Wort Gottes sinkt tiefer. Es klingt wunderbar und geht direkt ins Herz.
Es macht glücklich, mehr noch: Selig.

Amen

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